53

Menkhoff saß zusammen mit Reithöfer im Büro seines Chefs.

»Ich weiß nicht, was ich von der Geschichte halten soll«, sagte er und sah von seiner Kollegin zu Brosius. »Der Mann macht auf mich den Eindruck, als würde er die Wahrheit sagen, aber … Vielleicht gibt es da einfach eine Frau, die Eva Rossbach sehr gleicht.«

»Was immer noch die Frage aufwirft, wer ihn niedergeschlagen hat, als er die vermeintliche Frau Rossbach an der Bushaltestelle getroffen hat«, bemerkte Brosius. »Und warum derjenige das tat.«

»Vielleicht ist diese Britta eine Nutte, und ihrem Zuhälter hat es nicht gefallen, dass unser Herr Schmidt ihr nachsteigt, ohne zu zahlen.«

»Und wenn er recht hat?«, warf Reithöfer ein, woraufhin Menkhoff ihr einen verständnislosen Blick zuwarf. »Wie, was meinst du damit?«

»Na, dass es tatsächlich Eva Rossbach war, die sich als Britta ausgegeben hat.« Reithöfer wirkte fast ein bisschen trotzig auf Menkhoff.

»Du denkst, Eva Rossbach führt ein Doppelleben? Mensch, Jutta, überleg doch mal … Aber gut, was soll’s. Lass uns das durchspielen. Da haben wir die stinkreiche Frau Rossbach, die ein bisschen … sagen wir mal sonderbar ist. Sie feiert keine Partys, hat nichts mit dem Kölner Jetset zu tun, man trifft sie in keinen Schickimicki-Kneipen, nichts. Man könnte sagen, sie führt ein langweiliges Leben. Und weil ihr Leben so langweilig ist, zieht sie sich eine rote Perücke und billige Klamotten an, schminkt sich nuttig und stürzt sich als Britta ins pralle Leben? Ach so, dabei verändert sie noch die Stimme und redet auch anders als Eva Rossbach. Glaubst du das wirklich? Entschuldige, aber wenn das der Fall sein sollte, kann ich meine Menschenkenntnis eintüten.«

Reithöfer hatte ihm geduldig zugehört, ohne auch nur den Ansatz zu machen, ihn zu unterbrechen. Nun sah sie ihn fragend an. »Fertig?«

»Ja, fertig.«

»Nein, das glaube ich nicht.«

Menkhoff sah verwundert zu Brosius, der mit den Schultern zuckte, was wohl bedeuten sollte, dass er auch nicht wusste, was Reithöfer meinte. »Wie, was denn sonst?«

»Was ist, wenn Eva Rossbach gar nichts von Britta weiß?«

Noch immer verstand Menkhoff zunächst nicht, was sie meinte, doch dann begann es ihm zu dämmern. »Du glaubst, sie hat eine Persönlichkeitsspaltung?«

»Ja, ich halte das für möglich. Ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht gut aus, aber ich weiß, dass diese Sache auftritt, wenn Kinder stark misshandelt werden, als eine Art Selbstschutz.«

Brosius’ Telefon läutete, er hob ab, hörte kurz zu, sagte: »Alles klar, danke«, und legte wieder auf.

»Als hätte er sein Stichwort gehört: Dr. Leienberg ist zu sich gekommen. Er ist ansprechbar.«

Menkhoff sprang auf. »Na, endlich mal eine gute Nachricht. Auf geht’s.«

 

Für die Strecke vom Walter-Pauli-Ring bis zur Uniklinik in der Kerpener Straße brauchten sie mit eingeschaltetem Blaulicht knappe fünfzehn Minuten, weitere zehn Minuten später betraten sie das Zimmer auf der Intensivstation.

Leienberg hing an mehreren Infusionen, und sein Kopf war einem Turban gleich mit einem dicken Verband umwickelt. Seine Gesichtshaut war so bleich wie das Bettlaken, sie wirkte dünn, fast transparent. Menkhoff und Reithöfer traten an sein Bett heran, und Menkhoff ließ seinen Blick über die Apparaturen gleiten. »Sieht ja gefährlich aus hier. Wie geht es Ihnen?«

Leienbergs Stimme klang überraschend fest, als er antwortete: »Mir scheint, die Bekanntschaft mit Eva Rossbach ist meiner Gesundheit nicht sehr zuträglich. Man hat mir gesagt, sie sei entführt worden. Das glaube ich nicht.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Menkhoff und ahnte doch im gleichen Augenblick schon, was der Psychiater ihnen gleich sagen würde.

»Ich bin ziemlich sicher, bei Frau Rossbach klare Anzeichen einer DIS entdeckt, oder besser am eigenen Leib gespürt zu haben.«

»Einer was?«

»Dissoziative Identitätsstörung. In Frau Rossbachs Körper gibt es mindestens zwei Persönlichkeiten. Eine dieser beiden Persönlichkeiten war es, die mich niedergeschlagen hat, und ich bin sicher, es war nicht Eva.«

»Was? Sie hat sie … und was heißt das, es war nicht Eva Rossbach, die Sie niedergeschlagen hat? Sie war es, aber sie war es dann doch wieder nicht?«

»Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, aber im Körper von Frau Rossbach existieren mindestens zwei unterschiedliche Persönlichkeiten. Das ist, als würden sich zwei völlig verschiedene Menschen einen Körper teilen. Dieses Phänomen ist recht selten und tritt nur dann auf, wenn es in früher Kindheit massive körperliche oder sexuelle Gewalt gab, oder beides. Es ist ein allerletzter Schutzmechanismus. Die Seele dieser Kinder ist derart verletzt, dass sie sterben würden, wenn sie sich nicht aufspalten. Ab diesem Moment der Aufspaltung ist dann die andere Persönlichkeit zuständig, sobald sich gewisse Schlüsselsituationen ergeben. Zum Beispiel, wenn im Falle sexueller Gewalt erste Anzeichen einer bevorstehenden Vergewaltigung erkennbar sind, dann zieht sich die ursprüngliche, die primäre Persönlichkeit, der sogenannte Host, augenblicklich zurück, und die andere, die Opferpersönlichkeit, kommt nach vorne, übernimmt sozusagen. Sie wird alles ertragen, was geschieht, ohne dass der Host etwas davon mitbekommt. Ist es dann vorüber, zieht sich die Opferpersönlichkeit zurück, und der Host kehrt plötzlich wieder und hat keine Ahnung, was in der Zwischenzeit geschehen ist.«

»Wissen diese beiden Persönlichkeiten voneinander?«, fragte Reithöfer nach.

»Das ist unterschiedlich. Manchmal kennen sie sich, manchmal weiß auch nur eine Persönlichkeit von der anderen, manchmal wissen aber auch beide überhaupt nichts voneinander.«

»Das hört sich alles sehr seltsam an. Was mich interessieren würde – woher wissen Sie, dass es eine andere … Persönlichkeit in Eva Rossbach war, die Sie niedergeschlagen hat?«

»Es gab einige eindeutige Anzeichen, aber das Wichtigste: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Eva Rossbach, die ich kennengelernt habe, zu mir sagen würde: ›Leck mich doch am Arsch, du Psychowichser.‹«

»Das hat sie gesagt? Sie haben recht, das kann ich mir auch nicht vorstellen. Aber was genau ist heute Nachmittag in Ihrer Praxis passiert?«

Leienberg veränderte seine Liegeposition und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Eva kam zu mir in die Praxis, weil sie mit mir über ihren Bruder reden wollte.«

Die Tür öffnete sich, und ein Arzt kam in Begleitung einer Pflegerin in mintgrüner Montur herein. Als er Menkhoff und Reithöfer sah, stutzte er. »Guten Abend. Darf ich fragen, wer Sie …«

»Bernd Menkhoff, Kripo Köln, das ist meine Kollegin Jutta Reithöfer. Wir haben einige Fragen an Herrn Leienberg.«

Der Arzt war nun am Fußende des Betts angekommen und ließ seinen Blick auf den beiden Monitoren ruhen, die oberhalb des Kopfendes aufgebaut waren und flimmernde Linien zeigten. »Können Sie sich bitte kurzfassen, Herr Dr. Leienberg hat eine schwere Schädelfraktur.«

»Ja, sicher, Herr Doktor.« Menkhoff wartete und sah dem Arzt dabei zu, wie er an den Infusionen herumhantierte und etwas auf einen Zettel notierte, der in einem Klemmbrett eingespannt war. »Bitte, machen Sie ruhig weiter«, sagte der Arzt mit einem Seitenblick zu Reithöfer, die jedoch den Kopf schüttelte. »Danke, wir warten.«

Kurz darauf verließen der Arzt und die Schwester wieder das Zimmer, und Leienberg redete ohne Aufforderung weiter.

»Sehr überrascht hat mich Evas Überzeugung nicht, ihr Bruder sei noch am Leben. Es passt zu ihr, dass sie einen der wenigen Menschen, den sie geliebt hat, nicht loslassen möchte. Menschen wie Eva bauen sich dann schon mal ihre eigene, parallele Wirklichkeit auf, in der das Leben schöner ist und das Schlimme, was sie erlebt haben, einfach nicht vorkommt. Wenn sie das lange genug tun, verschwimmen irgendwann die Grenzen dieser beiden Welten, und sie können nicht mehr klar unterscheiden, was nun Realität oder lediglich Wunschtraum ist. Eva Rossbach hat mir also von ihrem Bruder erzählt, und davon, wie schlimm seine Kindheit gewesen ist. Mir kam gleich der Verdacht, dass Eva selbst Opfer extremer Misshandlungen gewesen sein könnte, was sie aber vehement bestritt. Sie erzählte mir, dass sie glaube, als Kind am Tag vor Manuels angeblichem Unfalltod etwas beobachtet zu haben, was sie sicher machte, dass er nicht ertrunken sei, sie sich aber nicht mehr daran erinnern könne, was das war. Ich schlug ihr vor, es mit Hypnose zu versuchen, weil ich darin auch eine Chance sah herauszufinden, ob sie misshandelt worden war oder nicht. Sie stimmte zu, bei einem ängstlichen Menschen wie Eva ein Zeichen dafür, wie wichtig es ihr war, sich wieder an diesen Tag erinnern zu können.«

Menkhoff atmete tief durch und versuchte, seine Unruhe zu verbergen. Das schien Reithöfer bemerkt zu haben, denn sie unterbrach Leienberg. »Herr Dr. Leienberg, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber die Zeit drängt. Wir wissen immer noch nicht, wo Eva Rossbach sich im Augenblick befindet. Könnten wir also zu dem Moment kommen, als Sie niedergeschlagen wurden?«

»Ja, dazu wollte ich jetzt sowieso kommen. Ich begann also mit der Hypnose, und gerade, als ich dachte, sie würde sich in einem Dämmerzustand befinden, öffnete sie plötzlich die Augen und stand auf. Ich merkte, dass ihre ganze Körperhaltung und ihre Bewegungen seltsam waren, anders als zuvor, und fragte, was los sei. Da sah sie mich an und sagte diesen netten Satz zu mir, von wegen Psychowichser. Sie ging zu meinem Schreibtisch und blieb davor stehen, mit dem Rücken zu mir, den Kopf gesenkt, als sei sie im Stehen eingeschlafen. Ich habe sie angesprochen, aber sie reagierte nicht, stand einfach nur da, und ihre Schultern hoben und senkten sich im Rhythmus ihres Atems. Ich bin aufgestanden und zu ihr hingegangen. Tja, und dann ging alles ganz schnell, sie wirbelte herum, dann wurde es dunkel.«

»Sie hat Sie mit dieser Glasfigur niedergeschlagen, die auf Ihrem Schreibtisch stand«, erklärte Menkhoff. »Sie haben Glück, dass Sie noch leben.«

»Ja, ich weiß.«

»Was denken Sie denn nun – könnte es sein, dass Evas Bruder tatsächlich noch lebt?«

»Nun, da muss ich ein paar Sätze vorwegschicken. Eltern, die misshandeln, tun das im Laufe der Zeit meist immer härter. Sie vermuten in allem, was ihre Kinder tun, Feindseligkeit, der sie wiederum mit noch mehr Gewalt begegnen. Studien zeigen, dass manche dieser Eltern schon Aggressionen empfinden, wenn das Kind sich im gleichen Zimmer aufhält. Oft kommt dann eine sexuelle Stimulation bei der Misshandlung hinzu. Das ist ähnlich wie bei einer Droge. Man braucht mit der Zeit immer höhere Dosen, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Ist dann irgendwann der Punkt erreicht, an dem sie die Dosis an Misshandlungen nicht mehr erhöhen können, töten sie das Kind entweder oder sie versuchen, auf anderem Weg eine nächste Stufe zu erreichen. Eine Möglichkeit ist dabei die Vorstellung, das Kind anderen, fremden Menschen zu überlassen. Aus diesem Ansatz heraus … Ja, es könnte sein, dass Evas Bruder noch lebt. Aber wenn es so ist, möchte selbst ich als Psychiater nicht wissen, was er bisher durchmachen musste, denn ich glaube nicht, dass ich dieses Wissen ertragen könnte.«

»Vielen Dank, dass Sie versucht haben, uns den Sachverhalt zu erklären«, sagte Menkhoff. »Auch wenn ich gestehen muss, dass sich diese DIS-Sache für mich sehr … außergewöhnlich anhört.«

»Wenn Manuel Rossbach tatsächlich noch am Leben ist, können Sie mit Sicherheit davon ausgehen, dass ihm Dinge wie Mitgefühl oder Unrechtsbewusstsein ebenso fremd sind wie Achtung vor dem Leben oder Angst vor dem Tod. Er wird vor nichts zurückschrecken. Und wenn er es war, der Eva Rossbach verschleppt hat, dann hat sie kaum eine Chance.«

Der Sarg
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