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Das Erste, was Eva sah, als sie die Augen öffnete, war eine graue Betonwand. Das wurde ihr aber erst bewusst, nachdem sie die Wand lange Zeit teilnahmslos angestarrt hatte. Es war kein Anblick, der ihr bekannt vorkam, und diese Erkenntnis brachte ihren Puls augenblicklich zum Rasen. Sie saß auf kaltem Boden, in einer Ecke, rechts neben ihr befand sich ebenfalls eine Wand aus grauem Beton, in deren Mitte eine Stahltür eingelassen war. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte sie den Kopf nach links, erfasste mit einem Blick die Situation, schrie auf und hörte im nächsten Augenblick einfach auf zu atmen.

Der Raum mochte etwa zehn mal zehn Meter groß sein, alle Wände bestanden aus unverputztem Beton. Erhellt wurde er vom kalten Licht einer der Neonröhren, von denen insgesamt drei an der Decke hingen. Eine zweite Stahltür befand sich in der Mitte der linken Wand. Zu beiden Seiten der Tür hingen jeweils zwei kleine, altmodische Fernsehgeräte in Augenhöhe, die vollkommen verdreckt waren und nicht mehr funktionstüchtig aussahen. Außerdem war auf der linken Seite ein ebenfalls veraltetes Wandtelefon angebracht. Auch vor und an den anderen Wänden standen oder hingen irgendwelche Gerätschaften, die aber allesamt alt, schmutzig oder sogar teilweise zerstört waren. Was aber dazu geführt hatte, dass Eva der Atem stockte, war nichts von alledem. Es war der Sarg, der sich in der Mitte des Raums befand. Eva zweifelte keine Sekunde daran, dass es der Sarg war, in dem sie schon mehrmals gelegen hatte.

Es war ein klassisches Model in Truhenform, aus hellem Holz mit jeweils drei Messinggriffen an den Seiten. Vier etwa zehn Zentimeter hohe Holzklötze an den Ecken dienten als Füße. Diese schwebten jedoch frei, denn der Sarg ruhte auf drei etwa hüfthohen Holzböcken.

Eva stütze sich mit den Händen seitlich auf dem kalten Boden ab und stand langsam auf, wobei sie den Sarg keine Sekunde aus den Augen ließ. Sie atmete nun ganz flach, als könne jedes Geräusch, das sie von sich gab, etwas Furchtbares in Gang setzen, das nicht mehr zu stoppen war. Als sie es endlich geschafft hatte sich aufzurichten, lehnte sie sich erst einmal gegen die Wand und verharrte in dieser Position eine Weile. In ihrem Kopf herrschte ein ganz eigenartiger Zustand. Ihre Gedanken wollten hektisch lospreschen und sich förmlich überschlagen, aber es fehlten die Worte dazu. Es war, als würde sie stotternd denken wie ein kalter Motor, der nicht in Gang kam.

Als sie das Gefühl hatte, sie könnte es schaffen, drückte sie sich ab und machte die ersten, vorsichtigen Schritte an der Wand entlang auf die Tür zu, wobei sie ihre Finger über den kalten Beton streichen ließ. Nach fünf Schritten hatte sie die Tür erreicht, und obwohl sie nicht damit rechnete, dass sie unverschlossen war, schlug ihr Herz noch ein paar Takte schneller, als sie die Hand auf die kalte Metallklinke legte und sie herunterdrückte.

Die Tür war verschlossen. Ohne sich lange damit aufzuhalten, wandte Eva sich um und sah hinüber zu der zweiten Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Genau in der Mitte zwischen ihr und dieser Tür stand der Sarg. Nicht nachdenken, beschwor sie sich. Du musst zu dieser Tür, das ist wichtiger als alles andere. Sie tastete sich weiter am Beton entlang zur Seitenwand, vor der zwei große Boxen standen, wie riesige Truhen, aber offensichtlich aus Kunststoff. Beide Deckel waren geschlossen, und Eva hatte in diesem Moment nicht das geringste Bedürfnis herauszufinden, was sie beinhalteten. Zumindest nicht, solange sie nicht sicher wusste, ob die zweite Tür ebenfalls verschlossen war. Also ging sie an den Kisten vorbei, kam an eine Stelle, an der einige blanke Rohre mit Stellrädern daran an der Wand senkrecht nach oben verliefen, und hatte dann die Wand mit den Fernsehern und der Tür erreicht. Von Nahem sahen die alten Geräte noch desolater aus als von ihrem vorherigen Platz in der Ecke aus. Die Mattscheiben waren gerissen, die Belüftungsrillen verdreckt, und über allem lag eine zentimeterdicke Staubschicht.

Sie hatte die Tür erreicht, versuchte sie zu öffnen und zog in der nächsten Sekunde die Hand entmutigt zurück. Ihr Blick fiel auf das Wandtelefon, das nur etwa einen Meter neben der Tür hing. Schon als sie den Hörer abnahm, sah sie die freiliegenden, zerfaserten dünnen Kabel, die aus der Seite herausragten, und es war eigentlich eine überflüssige Bewegung, mit der sie sich den Hörer ans Ohr hielt. Es war, als drücke die absolute Stille im Hörer ihr unangenehm gegen das Ohr, sie öffnete einfach die Hand und ließ ihn achtlos fallen. Kurz, bevor er auf dem Boden aufschlug, war das Kabel zu Ende, und er pendelte wenige Zentimeter über dem Boden hin und her.

Eva spürte, wie ein Gefühl der Verzweiflung von ihr Besitz ergriff, wie es ihr die Luft abdrückte und versuchte, in ihre Gedanken einzudringen. Das musste sie verhindern. Sie hatte schon in diesem Sarg gelegen, und er war verschlossen gewesen. Verglichen damit war ihre Lage doch in diesem Moment noch relativ komfortabel. Außer dass ihr dieses Mal eine innere Stimme sagte, dass sie nicht einfach so wieder zu Hause aufwachen würde. Dieses Mal war es etwas ganz anderes.

Sie wandte den Kopf ein Stück zur Seite. Der Sarg. Er war der Schlüssel zu alldem. Wenn es etwas gab, das sie weiterbringen würde, so musste es unmittelbar mit dem Sarg zu tun haben. Sie gab sich einen Ruck und machte einen Schritt darauf zu, dann noch einen. Im Abstand von etwa einem Meter blieb sie stehen und ließ ihren Blick über das Holz gleiten. Es sah stumpf aus, und auch die Messinggriffe waren matt und fleckig. Ob er schon in Gebrauch gewesen war?, fragte sie sich und erschrak bei dem Gedanken, denn das konnte ja bedeuten, dass dort jemand … Sie versuchte die Worte wegzuschieben, bevor sie gedacht waren, und begann um den Sarg herumzugehen. Sie konnte nichts Auffälliges daran entdecken. Aber sie war aus einem unerfindlichen Grund absolut sicher, dass es der Sarg war, in dem sie selbst schon gelegen hatte. Aber warum lag sie jetzt nicht darin, sondern konnte sich im Raum frei bewegen? Was bezweckte derjenige, der ihr das antat, damit?

Sie wagte sich noch einen Schritt näher heran und hob langsam die Hand. Vorsichtig ließ sie sie auf das Holz sinken, als könne der Sarg zum Leben erwachen, wenn sie unachtsam war. Sie spürte ihren Herzschlag pochend am Hals, als sie die Finger vorsichtig am Deckel entlang herabgleiten ließ und die Stelle erreichte, an der die Kante ein Stück weit überstand. Hier konnte man den Deckel anheben. Eva schob die Finger unter die Kante und verharrte in dieser Stellung. Was erwartete sie, wenn sie den Deckel des Sargs nun öffnete? Zweifellos war es genau das, was ihr Entführer von ihr erwartete. Aber warum? Und was hatte er davon? Er konnte doch gar nicht sehen, ob sie es wirklich tat, und wenn, wie sie reagieren würde … Außer … eine Kamera. Es musste irgendwo eine Kamera geben. Und der Kerl saß jetzt vor einem Monitor und beobachtete jeden ihrer Schritte. Wahrscheinlich konnte er es gar nicht mehr erwarten, bis sie den Deckel endlich öffnete und die Überraschung fand, die er dort für sie deponiert hatte.

Ruckartig zog Eva ihre Hand zurück. Was, wenn Sie den Deckel nicht öffnete? Durchkreuzte sie damit seinen Plan? Verlor damit alles für ihn den Sinn und er ließ sie gehen? Er hat bereits mindestens zwei Frauen umgebracht, sagte sie sich selbst. Und da soll er dich gehen lassen? Niemals.

Aber was sollte sie nur tun? Sie war eingeschlossen in einer Kammer, einem Keller, oder was auch immer dieser Raum war. Sie wusste weder, wie sie dort hineingekommen war, noch wer sie hierher gebracht hatte. Dort vor ihr stand ein Sarg, in dem sie wahrscheinlich schon dreimal gelegen hatte. Sollte es jetzt endgültig ihr Sarg werden? Würde es dieses Mal kein Zurück mehr geben?

Ohne darüber nachzudenken rannte Eva los, in Richtung Tür und hämmerte mit den zu Fäusten geballten Händen dagegen. Gleichzeitig schrie sie aus Leibeskräften um Hilfe. Sie achtete nicht darauf, dass ihre Hände schmerzten, schlug immer weiter gegen das Metall und brüllte, dass sie nicht sterben wollte. Dass sie bitte nicht sterben wollte. Irgendwann verließen sie die Kräfte, sie ließ die schmerzenden Arme sinken, den Kopf, berührte schwer atmend mit der Stirn das kalte Metall der Tür und weinte schluchzend.

Nach einer Weile versiegten ihre Tränen, es kamen einfach keine mehr nach. Sie ließ die Schulter gegen die Tür sinken und hob den Kopf. Sie drehte sich um, lehnte nun mit dem Rücken an der Tür, und ließ sich langsam daran heruntergleiten, bis sie wieder auf dem Boden saß. Plötzlich war sie vollkommen lethargisch. Aber wie konnte das sein? Sie hatte doch Angst, hatte doch eben noch hier raus gewollt. Und jetzt, von einem Moment auf den anderen, hatte sie jeden Antrieb verloren. Warum konnte sie sich denn nicht mehr rühren, weshalb unternahm sie denn nichts?

Ihr Blick fiel wieder auf den Sarg. Auf den verfluchten, elenden Sarg! Bei dem Anblick der glanzlosen, drohenden Holzkiste bäumte sich jetzt etwas in ihr auf, setzte neue Energie frei und ließ sie sich vom Boden hochdrücken, mit einem Grunzlaut aufstehen und mit schnellen Schritten zu dem Ding hingehen. Sollte der Kerl seine Genugtuung haben, wenn es dazu führte, dass dieser Horror dann endlich vorbei war!

Ohne weiter darüber nachzudenken schob sie die Finger beider Hände unter die Kante, hielt noch einmal inne und hob den Kopf. Ihre Augen suchten die Decke und die Wände nach einer Kamera ab, und als sie keine entdecken konnte, richtete sie ihre Worte einfach irgendwo in den Raum. »Schau her, du Mistkerl.« Sie war außer sich, schrie aus Leibeskräften mit bereits heiserer Stimme. »Ich öffne deinen Sarg. Aber weißt du was? Ich habe keine Angst mehr. Es ist mir egal, was jetzt kommt. Ja, schau nur her.«

Mit einem entschlossenen Ruck zog sie am Deckel, der sich mit einer solch unerwarteten Leichtigkeit öffnen ließ und zur anderen Seite umschlug, dass sie von ihrem eigenen Schwung fast hintenüber gekippt wäre. Als sie sich wieder halbwegs gefangen hatte, machte sie einen Schritt nach vorne und … stieß einen langgezogenen Schrei aus.

In dem Sarg lag eine junge Frau. Sie war nackt, Augen und Mund waren verklebt, die Hände gefesselt. Und sie war zweifellos tot. Auf ihrer Brust lag ein Schild, doch die Worte darauf konnte Eva nicht mehr lesen. Die Welt begann sich zu drehen, dann legte sich ein gnädiger schwarzer Schleier über ihr Bewusstsein.

Der Sarg
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