22

Britta hatte ihr Leben satt. Die Wut trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, sie hatte das dringende Bedürfnis, jemandem ins Gesicht zu schlagen, einfach so, ganz egal wem, Hauptsache, demjenigen würde es weh tun.

Wann hatte sie endlich genug Mist erlebt? Nicht, dass sie je etwas anderes gekannt hätte als herumgestoßen, verletzt und benutzt zu werden. Aber musste sie jetzt noch zusehen, wie dieser Kerl auch ihr Leben kaputtmachte? Ja, das musste sie wohl, denn er war viel stärker als sie und offensichtlich auch schlauer. Er hatte sie schon oft ausgetrickst, und dabei war sie ihm genauso egal wie alle anderen. Er kannte nur ein Ziel, das wusste sie: Er wollte sich nach all den Jahren zu erkennen geben, er wollte jedem sein wahres Ich zeigen, diese hässliche, diese hasserfüllte Fratze. Dabei waren ihm die Umstände genauso egal wie die Frage, wie sein weiteres Leben aussehen würde. Britta glaubte mittlerweile auch nicht mehr, dass es Rache war, die ihn antrieb. Im Gegenteil, mittlerweile war sie fast sicher, er war selbst genauso abartig wie der Abschaum, der ihn einst gequält und fast getötet hatte und für seinen Zustand verantwortlich war. Aber was zerbrach sie sich darüber den Kopf? Kam es darauf noch an? Nein, kam es nicht. Wichtig war jetzt nur noch eins: Er durfte nicht erwischt werden, denn dann war für sie endgültig und unumkehrbar alles verloren. Dieses Wort stand wie ein Fanal über ihrem ganzen, verpfuschten Leben: Verloren.

Sie stieß ein humorloses, kurzes Lachen aus. Das Verrückteste an allem war, dass ihm eine naive, kleine Gans im Weg stand, die noch nicht mal wusste, wie nah sie der Hölle war. Diese kleine … Waren da Stimmen? Ging es jetzt wieder los? O nein, sie musste sich dagegen wehren. Mit beiden Händen griff sie unter den Tisch und warf ihn mit Schwung um, der polternde Lärm verdrängte die Stimmen, aber nur kurz, dann kamen sie wieder. Sie musste …

Sie muss ruhig sein, das ist ihre Aufgabe, das weiß sie genau, auch wenn sie erst vier ist. Sie hockt ein Stück vom Tisch entfernt auf dem Stuhl in der Küche, auf ihrem Stuhl, auf dem sie immer sitzt, wenn Besuch kommt. Sie schaut an sich herunter, betrachtet ihr feines rotes Kleid mit den schmalen Trägern, die so hübsch auf der weißen, verzierten Bluse aussehen, die sie trägt. Die Rüschen scheuern ein bisschen am Hals. Blütenweiße Kniestrümpfe hat sie dazu an, und ihre Füße stecken in schwarz glänzenden, neuen Lackschuhen. Die Besucher draußen im Flur lachen, die helle Stimme ihrer Mutter schneidet hin und wieder dazwischen. Britta versucht herauszuhören, wie viele es sind, die diesmal zu Besuch sind. Drei? Oder doch nur zwei?

Die Küchentür öffnet sich, sie sind zu dritt, ihnen voran kommt ihre Mutter lächelnd auf sie zu. »Da sitzt ja unser kleiner Engel, ist sie nicht wunderhübsch?« Die Besucher stimmen zu. Sie kommen nacheinander zu ihr, streichen über ihr Haar, das an den Seiten zu Zöpfen zusammengefasst ist, sie kneifen ihr in die Wange, der Letzte streichelt ihr übers Knie. Dann setzen sie sich an den Küchentisch. Die Stühle stehen so, das sie sie alle drei ansehen können. Ihre Mama nimmt eine Flasche aus dem Schrank, stellt drei kleine Gläser vor die Männer und schenkt aus. Sie sehen dabei immer wieder zu Britta herüber, lachen laut, prosten sich zu, die Gläser werden erneut gefüllt. Mama kommt zu ihr, noch immer unverändert lächelnd. »Nun zeig unserem Besuch doch mal, was für ein hübsches und liebes Mädchen du bist, mein Schätzchen«, sagt sie. Sie fasst ihr mit beiden Händen zwischen die Knie und drückt ihre Beine ein Stück auseinander. Der Saum ihres Kleides rutscht dabei ein Stück nach oben. Britta kennt die Spielregeln für den Besuch. Sie bleibt genau so sitzen und lächelt. Die Männer legen die Köpfe schief, beugen sich ein Stück nach vorne, schauen sich genau an, was ihre Mama ihnen zeigt. Sie nicken zufrieden. »Nun komm, mein Schätzchen«, sagt ihre Mama und geht vor. Britta steht auf und geht an den Männern vorbei hinter ihrer Mama aus der Küche und in das Zimmer für den Besuch. Dort legt sie sich auf das Bett, das in der Mitte des Raums steht. Der Besuch kommt herein, der Letzte der drei Männer schließt die Tür hinter sich. Ihre Mama ist draußen geblieben. Sie sind so groß und dick, diese Männer.

Britta schließt die Augen. Sie stellt sich einen See vor im Sommer, mit frischem, klarem Wasser, sie denkt ganz fest daran, und taucht darin ein. Ruhig sein und lächeln, flüstert ihre innere Stimme ihr zu, während sie in ihrem Traumsee schwimmt. Besonders dann, wenn es weh tut.

Der Sarg
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