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Eva fühlte sich ziemlich überfordert von der plötzlichen Betriebsamkeit in ihrem Haus.
»Wir werden Ihr Haus auf Spuren überprüfen, die auf ein fremdes Eindringen hindeuten«, erklärte dieser Menkhoff ihr, während seine vier Kollegen ihr Equipment im Wohnzimmer abstellten und sich weiße Anzüge überstreiften, die aussahen, als seien sie aus Papier. Dr. Leienberg hatte sich verabschiedet, nachdem er den Polizisten seine Adresse gegeben hatte. Er musste in seine Praxis, wie er erklärte, wo sicher schon die ersten Patienten vor der Tür warten würden.
»Die Kollegen nehmen sich vor allem das Schlafzimmer auf der Suche nach DNA-Material vor«, fuhr Menkhoff fort.
Zwei weitere Männer in Zivil kamen herein, einer davon war kräftig und hatte ein auffallend rotes Gesicht. Eva überlegte, ob der Mann wohl an hohem Blutdruck litt, fragte sich im gleichen Moment aber, ob es keine wichtigeren Dinge gab, über die sie nachdenken musste. Der zweite Mann war einen Kopf kleiner und hager.
Eva fröstelte. »Wären Sie so nett, die Tür zu schließen?«, bat sie den Hageren, was der kommentarlos tat.
Menkhoff stellte die Männer als seine Kollegen Riedel und Borens vor. Eva fand die beiden nicht gerade sympathisch, vor allem dieser Riedel hatte einen Ausdruck im Gesicht, der ihr Unbehagen verursachte.
»Schaut euch im ganzen Haus um«, instruierte Menkhoff die beiden. »Wir suchen nach einer großen Kiste oder einem Sarg.«
»Einem was?«, fragte der Rotgesichtige, der sich rechts neben Menkhoff postiert hatte. »Ja, Udo, wir suchen einen Sarg. Frau Rossbach ist der Meinung, dass sie in der letzten Nacht und auch schon zweimal davor in einem Sarg eingeschlossen war. Also, auf geht’s.«
Eva registrierte nicht nur die Formulierung, mit der Menkhoff seine Kollegen instruierte, sondern auch die Blicke, mit denen die Männer daraufhin erst sie und dann ihren Kollegen bedachten. Frau Rossbach ist der Meinung …
Als die beiden Beamten sich abgewandt hatten, sagte sie an Menkhoff gewandt: »Sie glauben mir nicht. Sie denken wahrscheinlich, ich wäre verrückt und würde mir irgendwelche Geschichten ausdenken, nicht wahr?«
»Natürlich glauben wir Ihnen«, beeilte sich Menkhoffs Kollegin zu versichern, die sich zuvor mit einem der Männer in den weißen Anzügen unterhalten hatte. »Das zeigt Ihnen doch schon die Tatsache, dass wir nach einem Sarg suchen lassen, Frau Rossbach. Aber manchmal sind die Dinge anders, als sie uns zunächst erscheinen.«
Eva wusste langsam selbst nicht mehr, was sie glauben sollte. »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, aber eines weiß ich genau: Das, was ich erlebt habe, war kein Traum und auch keine Einbildung.« Wie zum Beweis hielt sie ihre wundgescheuerten Handgelenke hoch. »Für die blauen Flecken habe ich ja noch Erklärungen gefunden, aber glauben Sie, das hier habe ich mir selbst angetan?«
»Nein, wir glauben nicht, dass Sie sich bewusst selbst verletzt haben, Frau Rossbach«, erklärte Menkhoff, was Eva als Bestätigung wertete, dass die Polizei dachte, sie hätte sich selbst unbewusst verletzt. Das machte ihre Situation eher schlimmer als besser. Aber daran würde sie nun nichts ändern können.
»Denken Sie wirklich, dieser Sarg befindet sich hier im Haus? Wie soll er denn hierher gekommen sein?«
»Frau Rossbach, wir versuchen einfach, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen«, erklärte Menkhoff ihr, und Eva konnte in diesem Moment in seiner Stimme nichts entdecken, das ihren Eindruck von gerade bestätigt hätte. Es klang aufrichtig. »Wenn wir in Betracht ziehen, was Sie uns über Ihre Erlebnisse erzählt haben, dann ist der Gedanke, dass dieser Sarg sich hier im Haus befindet, doch gar nicht so weit hergeholt, oder?«
»Ja, vielleicht. Aber wo in meinem Haus könnte ein Sarg stehen, ohne dass es mir aufgefallen wäre?« Eva sah einem der Männer in Weiß nach, der an ihnen vorbei zur Haustür ging.
»Ich weiß es nicht«, gab Menkhoff zu. »Wir werden sehen.«
Etwa eine dreiviertel Stunde später kamen sowohl Menkhoff und seine Kollegin als auch der Rotgesichtige mit seinem Partner zu Eva ins Wohnzimmer, das die Männer der Spurensicherung gerade mit ihren Taschen und Koffern verließen. Menkhoff sprach noch ein paar Worte mit einem der Männer und gab ihm die Zeitung mit der Nachricht des Unbekannten und Evas Schriftproben. Der Mann steckte sie behutsam in eine große Tüte und verließ dann ebenfalls den Raum. Ihre Aufforderung, Platz zu nehmen, verneinten die Beamten, also stand auch Eva auf.
»Die Kollegen konnten keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens feststellen«, erklärte Menkhoff ihr sachlich. »In Ihrem Schlafzimmer und im Gästezimmer haben sie Haare, Hautschuppen und eine Menge Fingerabdrücke gesichert, vor allem am Kleiderschrank, am Gästebett, in dem Dr. Leienberg geschlafen hat, und an den Türen. Wir werden sehen, ob es sich ausschließlich um Ihre und die von Dr. Leienberg handelt oder ob auch fremde Abdrücke darunter sind.«
»Werden noch andere Abdrücke darunter sein, Frau Rossbach?«, fragte der Mann mit dem roten Gesicht, und es klang nicht sehr freundlich.
Eva verstand nicht. »Wie meinen Sie das? Ich weiß es doch nicht. Wenn der, der heute Nacht hier im Haus war, vielleicht Handschuhe …«
»Ach kommen Sie, Frau Rossbach, Sie wissen doch genau, wie ich das meine. Gibt es sonst noch jemanden außer Ihnen, der sich in Ihrem Schlafzimmer aufhält?«
Es dauerte einen Moment, bis Eva schließlich begriff, auf was der unfreundliche Kerl anspielte. »Nein, den gibt es nicht«, antwortete sie knapp.
»Sind Sie …«, setzte der Mann wieder an, wurde aber von Menkhoff unterbrochen. »Frau Rossbach, ich denke, das war’s für den Moment. Ich werde dafür sorgen, dass zwei Kollegen sich draußen vor Ihrem Haus postieren und darauf achten, wer hier rein möchte.«
»Also entschuldige mal, Bernd, ich …«
»Wir sind hier erst mal fertig«, schnitt Menkhoff seinem unsympathischen Kollegen erneut das Wort ab, was Eva als kleine Genugtuung empfand. Sie begleitete die vier in die Diele, wo erst die Polizistin und dann Menkhoff sich von ihr verabschiedeten. Der Rotgesichtige marschierte ohne ein weiteres Wort zur Haustür, doch als er sie öffnete, gab er einen überraschten Laut von sich. Auch Wiebke, die gerade im Begriff zu klingeln war, zuckte zusammen, als die Tür so plötzlich aufgerissen wurde.
»Wiebke«, sagte Eva, während ihre Freundin sichtlich irritiert von ihr zu Menkhoff und seiner Kollegin blickte, bis sie schließlich ihre erste Überraschung überwunden zu haben schien. »Was ist denn hier los?«
»Kommen Sie doch herein, Frau Pfeiffer«, sagte Menkhoff, was Eva vollends verwirrte. »Sie … kennen sich?«
»Ja, wir haben uns gestern bei Herrn Wiebking junior in Ihrer Firma getroffen«, erklärte Menkhoff ihr, was die Situation für Eva allerdings nicht gerade klarer machte.
»Bei Jörg? Ich verstehe nicht …« Sie sah zu Wiebke, die nun auf sie zukam, nachdem die beiden Polizisten an ihr vorbei nach draußen gegangen waren. »Du warst bei Jörg … im Betrieb? Warum? Ich meine, was hast du dort gemacht? Ich wusste nicht, dass ihr euch überhaupt trefft.« Täuschte Eva sich, oder wirkte ihre Freundin plötzlich nervös?
»Ach, Jörg hat mich angerufen, weil er ein neues Apartment für sich sucht. Da bin ich bei ihm vorbeigefahren, um die Einzelheiten mit ihm zu besprechen.«
Eva bemerkte den Blick, mit dem Menkhoff Wiebke musterte. Sie hatte ein eigenartiges Gefühl dabei, schob es aber zur Seite. Gerade jetzt konnte sie eine Freundin gut brauchen. »Ah, verstehe«, sagte sie deshalb nur. »Ich wusste nicht, dass er eine neue Wohnung sucht.«
»Ja, aber jetzt sag mir doch bitte, was hier los ist?«
»Haben Sie denn schon eine geeignete Wohnung für Herrn Wiebking gefunden, Frau Pfeiffer?«, schaltete Menkhoff sich ein, und lenkte damit Wiebkes Aufmerksamkeit wieder auf sich.
»Nein … So schnell geht das nicht, er hat mir ja gerade erst den Auftrag gegeben. Aber ich verstehe nicht, was das hiermit …«
»Eine Frage noch, Frau Pfeiffer: Herr Wiebking hat angegeben, vorgestern Abend bei Ihnen gewesen zu sein, und zwar nicht nur den Abend über, sondern die ganze Nacht, stimmt das?«
Eva starrte ihre Freundin an, die ihr einen schnellen, unsicheren Blick zuwarf, als wolle sie sich bei ihr entschuldigen. Dann nickte sie langsam. »Ja … Ja, das stimmt.«
Evas Verwirrung wurde immer größer. Wiebke und Jörg? Die ganze Nacht?
»Von wann bis wann genau war Herr Wiebking bei Ihnen?«
»Er kam so gegen neunzehn Uhr und war da bis gestern Morgen, ich glaube, er ist gegen halb acht gefahren.«
»Gut, danke, das war’s fürs Erste.« Menkhoff wollte sich schon abwenden, drehte sich dann aber doch noch einmal um. »Frau Rossbach, verlassen Sie das Haus bitte nur, wenn es unbedingt nötig ist. Solange wir nicht wissen, was da letzte Nacht vorgefallen ist, sind Sie in Gefahr. Warten Sie auf jeden Fall auf die Kollegen, die Ihr Haus im Auge behalten werden. Wenn Sie danach weg müssen, sagen Sie ihnen bitte Bescheid.« Damit nickte er Eva und Wiebke zu und verließ das Haus, gefolgt von seiner Kollegin, die die Tür hinter sich zuzog.
»Ich werde dir alles erklären, Eva«, sagte Wiebke, und ihre Stimme klang nun müde, fast resigniert, so gar nicht nach der Wiebke, die Eva bisher zu kennen geglaubt hatte. »Kann ich bitte einen Kaffee haben?«
Als sie sich Minuten später in der Küche gegenübersaßen, fragte Eva: »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du und Jörg … dass ihr zusammen seid?«
Wiebke schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht zusammen, Eva. Wir haben uns ewig nicht gesehen, wir kannten uns ja bisher auch kaum. Vor ein paar Tagen rief Jörg mich an und sagte, er würde eine neue Wohnung suchen und bräuchte dabei meine Hilfe. Ich habe mich gefreut, und wir haben uns vorgestern Abend bei mir getroffen und durchgesprochen, was er sich vorstellt. Dann haben wir ein paar Gläser Wein getrunken und uns gut unterhalten. Es war ein netter Abend, wir haben viel zusammen gelacht, und irgendwann … Na ja, er hat halt bei mir übernachtet. Aber da ist nichts Großartiges zwischen uns, vor allem nicht von meiner Seite aus. Bei ihm war ich mir da nicht so sicher, und das hat mir keine Ruhe gelassen. Ich wollte das schnellstmöglich klären. Deshalb war ich gestern noch bei ihm im Büro, um klarzustellen, dass das eine einmalige Sache war. Dort habe ich dann auch die Polizisten getroffen. Das war alles.«
Eva war erleichtert, als sie das hörte. Eigentlich hätte es ihr egal sein können, ob die beiden zusammen waren oder nicht, aber sie war nicht sicher, ob sie Wiebke weiterhin hätte vertrauen können, wenn sie damit rechnen musste, dass Jörg vielleicht von den Dingen erfuhr, die sie ihr erzählte. Aber da war ja noch etwas anderes. »Ich muss dich noch etwas fragen, Wiebke. Warum hast du Dr. Leienberg von der Sache mit dem Sarg erzählt, obwohl du mir versprochen hast, keinem Menschen etwas davon zu sagen?«
Überraschung machte sich auf Wiebkes Gesicht breit. »Ich … Ich verstehe nicht. Du hast doch gesagt, ich soll einen Termin für dich machen, Eva. Ich musste Burghard doch sagen, worum es geht.«
»Aber musstest du ihm deshalb gleich das mit dem Sarg erzählen? Was, wenn ich jetzt doch nicht mit ihm gesprochen hätte? Wahrscheinlich hätte er mich direkt zwangseinweisen lassen, nach dem, was er von dir gehört hat.«
Wiebke sah sie auf eine Art an, die Eva nicht deuten konnte. »Tut mir leid, Eva, ich wusste nicht, dass du das so siehst. Burghard hat mich nach dem genauen Grund gefragt, warum du zu ihm kommen wolltest, da dachte ich, es ist wichtig, dass er das weiß. Und er hätte natürlich nichts unternommen, wenn du nicht mit ihm hättest sprechen wollen. Ich würde aber niemals jemandem gegenüber ein Wort über Dinge verlieren, die du mir im Vertrauen erzählt hast, und das solltest du eigentlich wissen. Aber sagst du mir jetzt bitte, was hier los war? Als ich eben ankam, zogen sich draußen gerade ein paar Männer um. Sie hatten weiße Overalls an, wie diese Polizisten im Fernsehen, die Tatorte untersuchen.«
»Ja, das waren die Beamten von der Spurensicherung. Heute Nacht ist hier wieder etwas passiert, wieder mit diesem Sarg, und Dr. Leienberg war hier.«
»Wie? Ich verstehe nicht, Burghard war dabei? Heute Nacht? Hier?«
Eva nickte, dann erzählte sie Wiebke, was in der vergangenen Nacht vorgefallen war. Während sie redete, schüttelte Wiebke immer wieder fassungslos den Kopf. Als Eva mit ihren Schilderungen fertig war, hatte Wiebke Tränen in den Augen. Über den Tisch hinweg ergriff sie Evas Hände, hielt sie und streichelte ihr mit den Daumen über den Handrücken. »Mein Gott, wie furchtbar, du Arme, du musst doch vor Angst fast gestorben sein! Und Burghard hatte wohl Glück, dass er nur gefesselt worden ist. Aber warum tut man dir so was an? Und wer? Ich verstehe das alles nicht!«
»Ich verstehe es auch nicht«, erwiderte Eva und sah Wiebke in die Augen. In diesem Moment wünschte sie sich mehr als alles andere, ihre Freundin würde aufstehen, zu ihr kommen und sie einfach in die Arme nehmen. Sie erschrak bei dem Gedanken, denn er war neu für sie. Sie mochte es überhaupt nicht, angefasst zu werden, von niemandem. An dieser … Abneigung war bisher auch jeder Versuch einer Beziehung gescheitert.
»Und du hast überhaupt keine Idee, wer das gewesen sein könnte?«
Etwas schnürte Eva die Kehle zu. Bilder entstanden in ihrem Kopf, Erinnerungen waren mit einem Mal wieder da. Was sollte sie Wiebke auf diese Frage antworten? Die Wahrheit? Und dann? Das ging nicht. Aber anlügen wollte sie ihre Freundin auch nicht. »Doch, ich … ich habe eine Idee, aber die ist so … ich kann das niemandem sagen, Wiebke.« Doch noch während sie sprach, überlegte Eva es sich anders. Sie hatte das dringende Bedürfnis, die Gedanken, die sie schon so lange quälten, mit jemandem zu teilen, sie wollte, dass ihre einzige Freundin verstand, wie groß ihre Angst wirklich war und woher sie kam. Und deshalb erzählte sie Wiebke alles.