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Britta stieg an der Haltestelle Am Kölnberg aus und blieb einen Moment stehen, den Blick auf die düsteren Wohnbunker vor sich gerichtet. Kalt und abweisend, dicht nebeneinander in die Erde gerammt standen sie am Rande einer riesigen Ackerfläche. Manche von ihnen waren an die dreißig Etagen hoch und quetschen Hunderte von Wohnungen in ihrem Inneren zusammen. Sie dachte an die Typen, die in ihnen hausten, Tausende beschissene Verlierer mit großer Klappe.

Eine eisige Windböe strich ihr am Hals entlang, und sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke weiter zu. Ein paar Tage zuvor waren die Temperaturen noch angenehm gewesen, zu warm für Mitte November. Dann war es plötzlich saukalt geworden.

Eine Frau stieß sie im Vorbeigehen an der Schulter an, blieb abrupt stehen und sah sie mit heruntergezogenen Mundwinkeln und feindseligem Blick an. Britta musterte sie von oben bis unten. Sie mochte Anfang zwanzig sein. Die weißblond gefärbten Haare lagen strähnig auf ihren Schultern, die Kleidung war billig, ihr Aussehen auch. Mit einem verächtlichen Zischlaut wandte die Frau sich ab und ging weiter. Britta drückte die Stöpsel ihres MP3-Players in die Ohren und ging ebenfalls los. Nach ein paar hundert Metern bog sie An der Fuhr ein und steuerte auf den Betonblock zu, in dem ihre Wohnung lag.

Sie hatte die vergammelte Eingangstür fast erreicht, als ein Kerl sich ihr in den Weg stellte. Sie hatte ihn nicht bemerkt, war wohl zu sehr in Gedanken gewesen. Sein Mund bewegte sich, irgendwas schien er von ihr zu wollen. Britta warf einen Blick zur Seite, wo zwei weitere Typen standen, die Hände tief in den Taschen ihrer Jogginghosen vergraben, und sie dümmlich angrinsten. Sie stieß einen Fluch aus, und zog an dem dünnen Kabel unter ihrem Kinn. Der Sound von Metallicas Nothing else matters wurde ersetzt durch die typische Geräuschesuppe aus Gemurmel und Geschrei, Motorenlärm von der Straße und basslastigen Musikfetzen, die über die verrosteten Geländer einiger Balkone der Häuserblocks quollen.

» … schon lange nicht mehr gesehen. Wo hast du dich rumgetrieben? Siehst wieder scharf aus für dein Alter.«

Britta verdrehte die Augen und musterte den Fünfundzwanzigjährigen mit den kurz geschorenen Haaren, der eigentlich Bernd hieß, den aber alle Jacko nannten, weil er sich ununterbrochen in den Schritt fasste. »Verpiss dich, Jacko.« Sie ließ ihn stehen und ignorierte, dass er ihr noch etwas nachrief.

Ihre Wohnung lag im achten Stock, am Ende eines engen Flurs mit kahlen Betonwänden. Das Tageslicht, das durch das winzige Fenster neben dem Aufzug hereinfiel, reichte nicht bis zu ihrer Tür, und die Neonröhre an der Decke war eigentlich immer kaputt. Wenn der versoffene Hausmeister tatsächlich mal eine neue einsetzte, dauerte es meist nur Stunden, bis irgendein Idiot sie wieder kaputttrat. Auch als Britta jetzt den mit Schmierereien übersäten Aufzug verließ, funktionierte die Lampe nicht, so dass sie auf den letzten Metern bis zu ihrer Tür so gut wie nichts mehr sah und sich das Türschloss ertasten musste.

Im Inneren ihrer Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung zog sie die Jacke aus, schmiss sie achtlos auf das alte Sideboard, das einen großen Teil des winzigen Flurs einnahm, und ging ins Bad. Dort warf sie einen Blick in den ovalen Spiegel, der an manchen Stellen an den Rändern blind war. Das abgespannte Gesicht, das sie anglotzte, sah nicht aus, als gehöre es einer Frau Anfang dreißig, sondern eher wie das einer mindestens Vierzigjährigen. Die schulterlangen roten Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, Augen und Mund waren stark geschminkt, auf den Wangen lag eine dicke Schicht Rouge. Sie hatte keine Lust mehr auf diese Fratze, wandte sich ab und ging in die Küche. Die meisten der wenigen wild durcheinandergewürfelten Schränke und Elektrogeräte hatten ihr ein paar Typen aus der Nachbarschaft besorgt, als sie vor einem halben Jahr mal wieder umgezogen und hierher gekommen war. Kerle wie Jacko. Sie hatten ihr gute Preise gemacht, und es war ihr egal gewesen, woher sie die Sachen hatten. Genauso wie es diesen Leuten egal war, wo Britta herkam, was sie machte, wer sie war. Ihr war ihr Leben sowieso egal.

Sie öffnete den Kühlschrank und nahm die halbvolle Colaflasche heraus, die neben drei verrunzelten Äpfeln, einem Glas mit ein paar eingelegten Gurken in trüber Flüssigkeit und einer flachen Pizzaschachtel voller Fettflecke den gesamten Inhalt darstellte. Die Cola schmeckte schal, obwohl sie kühl gestanden hatte.

Britta nahm die Flasche mit und blieb am Durchgang zum Wohnzimmer stehen. Die Einrichtung des Raums bestand aus einem zweiteiligen vergammelten Eichenschrank, an dem eine Tür fehlte, einem schäbigen Tisch mit zwei Campingklappstühlen und einem Holzstuhl sowie einem zerschlissenen, braunen Cordzweisitzer direkt vor dem Fenster. »Pissbude«, zischte Britta, durchquerte den Raum und ließ sich schnaufend auf den Zweisitzer fallen. Das Fenster vor ihr reichte bis zum Boden, Gardinen gab es keine, so dass sie von dort die Felder sehen konnte, die sich entlang der Brühler Landstraße in Richtung Kölner Stadtzentrum erstreckten. Im Sommer hatte sie oft dagesessen und dabei zugesehen, wie der Wind die Gräser und Ähren hin und her gebogen hatte. Jetzt war alles kahl. Braune, leblose Flächen, soweit das Auge reichte, durchsetzt von schlammigen Pfützen.

Britta wandte den Blick ab, stand wieder auf und ging zu dem kleinen Fernseher auf einem der Eichenschränke. Sie nahm den schmutzigen Bleistiftstummel, der daneben lag, und schaltete das Gerät damit ein, indem sie das stumpfe Ende in das Loch unter der Mattscheibe drückte, wo mal ein Einschaltknopf gewesen war. Eine Weile war nur ein Knistern zu hören, dann eine weinerliche weibliche Stimme. Sekunden später kam das passende Bild dazu. Britta wusste auf den ersten Blick, welche Sendung gerade lief, sie hatte es schon gewusst, bevor das Bild da gewesen war. Eine tägliche Gerichtsshow, in der ein paar Amateure in Gerichtssälen irgendwelche hirnrissigen Dialoge vor sich hin stammelten. Sie ließ die Sendung trotzdem laufen und ging zurück zum Sofa. Nach wenigen Minuten war die Show zu Ende, und es folgten Nachrichten. Britta fluchte und suchte nach der Fernbedienung, sie hatte keine Lust auf das Elend in der Welt.

Sie hatte sie gerade gefunden, eingeklemmt in der Ritze zwischen dem zerschlissenen Cordsitzkissen und der Rückenlehne, als eine Meldung sie stocken ließ: »… ist heute Vormittag in einem Waldstück bei Köln die Leiche einer Frau gefunden worden. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, lag sie in einem vergrabenen Sarg. Es deute einiges darauf hin, dass die Frau lebendig begraben wurde. Für nähere Einzelheiten zu der Todesursache müsse aber das Ergebnis der Obduktion abgewartet werden. Wie die Polizei weiter mitteilte, sei am frühen Vormittag im Polizeipräsidium eine Nachricht abgegeben worden mit einer genauen Beschreibung der Fundstelle. Bisher fehlt jeder Hinweis auf den Täter.« Ein Moment Pause, dann: »In Brüssel haben sich gestern Abend die EU-Finanzminister …«

»Arschloch«, sagte Britta, stand auf und schaltete den Fernseher aus.

Der Sarg
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