17

Es regnete, und die Dämmerung war schon so weit fortgeschritten, dass die Konturen ineinanderflossen, dort, wo es kein künstliches Licht gab. Er nahm weder die immer weniger werdenden, hell erleuchteten Schaufenster wahr, an denen er vorbeifuhr, noch die Menschen, die unter aufgespannten Regenschirmen daran vorbeihasteten. Das Geschehen dort draußen, dieses grässliche, verdorbene Pack in seiner grenzenlosen Dummheit, das wie die Schafe aufgeregt von hier nach da rannte –, all das interessierte ihn nicht. Nicht hier.

Er hatte sich verkleidet, weil die Chancen dann besser standen. Wie abwesend saß er hinter dem Steuer, ließ den Wagen mit dem Verkehr rollen und registrierte die fast vollendete Dunkelheit lediglich als Umstand, der ihm für sein Vorhaben entgegenkam. Ab und zu drang ein Grunzlaut aus seinem halb geöffneten Mund.

Nach einer Weile hatte er sich weit genug von der hektischen Betriebsamkeit der Stadt entfernt. Er fuhr durch ein ruhiges Wohngebiet, in dem es nur alle hundert Meter Inseln aus kaltem Licht gab, die den nassen Boden in seiner ganzen schmutzig glänzenden Hässlichkeit zeigten.

Seine Lethargie hatte höchster Konzentration Platz gemacht. Der schwierigste Teil stand ihm nun bevor. Alles andere war vergleichsweise einfach. Schon seit Monaten hatte er sich um die Vorbereitungen gekümmert. Er hatte an verschiedenen Stellen mehrere Gruben geschaufelt. Auch die Kisten lagen schon darin, massiv gezimmert, gut getarnt, verborgen vor den Blicken zufälliger Spaziergänger.

Die wichtigste Aufgabe hatte er erledigt, mit diesem schändlichen Weib, aber er hatte gewusst, dass das nur der Anfang sein würde, der Pflichtteil. Jetzt kam die Kür. Er lachte. Kurz und bellend, hysterisch. Ja, jetzt ging es erst richtig los. Er schlug mit der Faust gegen das Lenkrad. »Miststücke«, zischte er, und wieder sauste die Faust auf das Lenkrad nieder. Überall traf man sie, und sie waren schamlos und verlogen. Sie waren schlecht. Eine Hand ließ das Lenkrad los, legte sich zwischen seine Beine und drückte auf die sündige Stelle. »Miststücke«, stieß er keuchend hervor, während der Druck seiner Hand fester wurde. Er merkte, dass es ihm schwerfiel, sich auf die Straße zu konzentrieren, weil die sündige, die schlimme Stelle an seinem schmutzigen Körper etwas aussandte, das ihn dazu bringen wollte, sofort anzuhalten. Aber das würde er nicht zulassen. Er musste … Plötzlich entdeckte er jemanden schräg vor sich, eine Frau. Sie ging gerade unter einer der Laternen durch, etwa zweihundert Meter vor ihm auf der rechten Seite. Er fuhr noch langsamer, hielt an, sah sich nach links und rechts um, warf einen Blick in den Rückspiegel. Niemand zu sehen. Dort ging so ein Miststück, als sei alles in bester Ordnung.

Er öffnete das Handschuhfach, nahm einen Stadtplan, einen zusammengeknüllten Lappen und eine verschlossene Glasflasche heraus. Dann ließ er die Seitenscheibe seiner Tür herunter, um zu verhindern, dass das Zeug bei ihm seine Wirkung tat. Er faltete den Plan auseinander und legte ihn auf den Beifahrersitz, schraubte die Flasche auf, drückte sofort den Lappen auf die Öffnung und drehte beides zusammen um, so dass der Lappen getränkt wurde. Nun musste es schnell gehen. Der Geruch breitete sich trotz des geöffneten Fensters im Wageninneren aus.

Als er fast auf gleicher Höhe mit ihr war, drehte sie sich zu ihm um. Er bremste neben ihr ab, beugte sich herüber, öffnete die Beifahrertür und sagte: »Entschuldigung.« Seine Verkleidung kam ihm nun zugute. Mit dem Öffnen der Tür schaltete sich die Innenbeleuchtung ein, und das Miststück warf einen Blick ins Wageninnere. Sie war ein junges Ding, er schätzte sie auf Anfang zwanzig. »Können sie mir bitte helfen?«, fragte er und deutete auf die Karte neben sich. »Können Sie mir zeigen, wo ich mich hier befinde? Ich habe komplett die Orientierung verloren.« Einen kurzen Moment zögerte sie, dann lächelte sie und beugte sich zu ihm in den Wagen, um einen Blick auf die Karte werfen zu können. Weit genug. Gerade, als sie den Oberkörper wieder zurückziehen wollte, weil sie wohl den Geruch wahrgenommen hatte, packte seine rechte Hand sie im Nacken, die Linke schnellte vor und drückte ihr den getränkten Lappen auf den Mund. Sie schrie dumpf gegen den Lappen an, versuchte sich zu wehren, hatte durch die vornübergebeugte Haltung aber keine Kraft, wohingegen er das ganze Gewicht seines Oberkörpers auf sie herabpresste. Sie hatte keine Chance. Ihre Bewegungen wurden langsamer, erlahmten, erstarben. Bewusstlos sank sie auf den Sitz, die Beine hingen noch aus dem Wagen. Er ließ von ihr ab, stieg aus und ging um den Wagen herum. Ein schneller Rundumblick – es war noch immer niemand in der Nähe. Zwei Minuten später stieg er wieder ein, zischte: »Na siehst du«, und fuhr los. Er brauchte etwa zwanzig Minuten bis zu der Stelle, die er für sie ausgesucht hatte. Zwischendurch hielt er einmal an und drückte ihr bei geöffneten Fenstern erneut den frisch getränkten Lappen auf Mund und Nase.

Er hatte seine Plätze sorgfältig gewählt, sie lagen alle in Gegenden, an denen wahrscheinlich kaum jemand vorbeikam, und doch so, dass er mit dem Auto auf befestigtem Untergrund zumindest bis auf ein paar hundert Meter heranfahren konnte.

Als er ankam, stellte er den Motor ab und stieg aus. Aus dem Kofferraum nahm er einige schmale Gurte und ein langes Seil von ein paar Millimetern Durchmesser und ging damit zurück zur Beifahrerseite. Er drückte ihren schlaffen Körper zur Seite und versuchte, sie halbwegs gerade hinzusetzen, was der dicke Mantel erschwerte, den sie trug. Es nützte nichts, er musste ihn ihr ausziehen. Das war ein mühseliges Unterfangen und erforderte viel Kraft, aber nach zwei Minuten, in denen er den Oberkörper der jungen Frau ächzend in alle Richtungen schob und drückte, hatte er ihr das Kleidungsstück schließlich vom Körper geschält und zog es ruckweise unter ihr heraus. Er schmiss den Mantel auf den Rücksitz und atmete ein paarmal durch. Als er ihr danach mit dem ersten Gurt die Beine am Sitz festzurrte, stöhnte sie kurz auf. Er musste sich beeilen, bald würde sie aufwachen. »Warte noch«, murmelte er, etwas außer Atem. Den zweiten Gurt legte er ihr um den Hals, führte ihn hinter ihr um die Kopfstütze herum und zog dann so weit zu, dass sie anfing zu röcheln. Dann lockerte er ihn ein winziges Stück, um ihr das Atmen zu ermöglichen, achtete aber darauf, dass der Gurt noch immer fest saß. Schließlich nahm er das Seil und fesselte damit ihre Handgelenke so aneinander, dass ein langes Ende übrig blieb, das er einfach herunterhängen ließ.

Sie stöhnte wieder, diesmal lauter. Sie kam gleich zu sich, er musste sich beeilen. Er öffnete das Handschuhfach und nahm eine breite Rolle Textilklebeband heraus. Mit einem satten Geräusch zog er ein Stück des Bandes ab und riss es durch. »Du sollst schweigen«, sagte er schwer atmend, als er sich zu ihr hinunterbeugte, es auf ihren Mund drückte und auch auf den Wangen fest anpresste. Es war gutes Klebeband, es würde sich nicht lösen. Sie wollte sich aufbäumen, doch die Gurte machten es ihr unmöglich sich zu bewegen. Nur den Kopf konnte sie ein Stück zur Seite drehen.

Dann war sie wieder bei Bewusstsein und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als ihr ihre Situation vollends bewusst wurde. Sofort versuchte sie mit ruckartigen Bewegungen freizukommen, hatte gegen die straffen Gurte und das Seil, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, aber keine Chance.

»Hör mir zu, Miststück«, sagte er heiser. »Du musst tun, was ich dir sage, verstehst du? Tust du das?« Ihre Augen bewegten sich schnell hin und her, während sie ihn angsterfüllt anstarrte. Schließlich nickte sie langsam. Er sah sich um. Erkennen konnte er in der Dunkelheit so gut wie nichts. Auf der einen Seite starrte er gegen eine fast schwarze Wand aus Bäumen, auf der anderen, von der er gekommen war, konnte er die weiten Felder kaum erahnen. Er ging neben ihr in die Hocke. »Du hast Angst«, sagte er. »Kleine, schmutzige Angst, nicht wahr? Sie macht dich feige und nimmt dir die Fähigkeit zum Leben. Angst macht Menschen zu Lügnern, weißt du das?« Er machte eine Pause, als wolle er ihr die Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern. Ihr Gesicht glänzte, es war nass von ihren Tränen. Ihre Augen standen übergroß hervor und spiegelten die Panik wider, die ihn so wütend machte. »Du sagst jetzt nichts mehr, das ist gut. So kannst du auch nicht mehr lügen. Siehst du ein, dass ich dir helfe? Merkst du es? Spürst du die reinigende Kraft der Angst?« Wieder eine Pause, in der er sie anstarrte und interessiert beobachtete, wie sie noch immer versuchte, ihre Arme und Beine zu bewegen. »Wo gehobelt wird, da fallen Späne«, sagte er zu ihr, woraufhin unter dem Klebeband ein dumpfes Stöhnen zu hören war. Er schlug ihr wütend mit der flachen Hand ins Gesicht. »Halt den Mund, habe ich gesagt. Denkst du vielleicht, das macht mir Spaß?« Wieder wand sie sich in ihren Fesseln. Sie war noch immer zu feige, ihre Strafe anzunehmen, das dumme Ding. Er wusste, das würde sich ändern. Spätestens, wenn er sie zu der Grube mit der Kiste führte. Ihrer Kiste. Aber zuerst gab es noch etwas anderes zu tun. »Und nun werde ich dafür sorgen, dass du deinen Blick nach innen richtest, auf deine schmutzige Seele, damit du deine Fehler erkennst.«

Mit einem Ruck riss er ein weiteres Stück des Textilklebebandes ab, spannte es zwischen beiden Händen und hielt es ihr dann vor die panisch geweiteten Augen. »Nicht bewegen, sonst wird es dir sehr weh tun.« Sie schaffte es gerade noch, die Augen zuzukneifen, bevor er die Klebefläche fest aufdrückte.

Er löste die Gurte, mit denen sie am Sitz festgeschnallt war, und warf sie auf den Rücksitz, dann nahm er das lange Ende des Seils, stand auf, und zog sie daran aus dem Auto. »Komm«, sagte er zu ihr, schlug die Beifahrertür zu und ging los. »Ich habe eine Überraschung für dich.«

Der Sarg
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