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Eva gab die Hoffnung auf, wenigstens für einen kurzen Moment zur Ruhe zu kommen. Ein Blick auf den Radiowecker zeigte ihr, dass sie seit zwei Stunden im Bett lag. Sie war zwar zwischendurch eingenickt, aber von Erholung konnte nicht die Rede sein, ganz im Gegenteil, sie fühlte sich eher noch ausgelaugter als zuvor. Grundsätzlich war dieser Zustand nichts Neues für sie, und sie war auch schon häufiger deswegen deprimiert und verzweifelt gewesen. Aber dieses Mal hatte sie das Gefühl, das alles allein nicht mehr bewältigen zu können. Zum ersten Mal, seit sie erwachsen war, gestand sie sich selbst ein, dass sie Hilfe brauchte. Es war die unbeschreibliche Angst, die diese Situation so entscheidend schlimmer machte als alles, was sie jemals zuvor als Erwachsene erlebt hatte. Vor der Tür standen zwei Polizisten, aber was konnten die ausrichten, wo es nicht einmal etwas genutzt hatte, dass jemand nur wenige Meter von ihr entfernt im Haus gewesen war, als man sie entführt und in den Sarg gesperrt hatte. Diese Polizisten hatten alle keine Ahnung davon, was es hieß, Angst zu haben vor Dingen, die nicht greifbar waren, die man nicht beweisen, sondern nur vermuten konnte. Auch dieser Menkhoff nicht.
Eva stellte sich die Frage, ob Dr. Leienberg es schaffen würde, ihr zu helfen. Vielleicht sogar nicht nur aus dieser Situation heraus, sondern grundsätzlich. Ihr war klar, dass er überhaupt nur eine Chance hatte, wenn sie ihm wirklich alles von sich erzählte. Aber wollte sie das? Und vor allem: Konnte sie das?
Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Sie wollte es zumindest versuchen. Zudem fühlte sie sich merkwürdigerweise in Dr. Leienbergs Nähe sicherer als mit zwei Polizisten vor ihrer Haustür, und das, obwohl die vergangene Nacht gezeigt hatte, dass er sie nicht beschützen konnte.
Seine Nummer hatte sie auf einen Zettel notiert, der an der Pinnwand in der Küche hing. Als sie danach greifen wollte, erstarrte sie. Gleich über dem gelben Zettel mit der Telefonnummer hing ein DIN-A4-Blatt, darauf stand ein Satz in einer Schrift, die sie sofort erkannte:
Erkenne, dass du nicht
allein bist, sonst bist
du verloren.
Er wird dich töten!
Mit klopfendem Herzen las sie die Botschaft wieder und wieder. Sie taumelte rückwärts und stieß gegen die Arbeitsplatte. Was sollte das heißen, Erkenne, dass du nicht allein bist? Wen meinte der Schreiber damit? Sollte sie erkennen, dass sie die ganze Zeit recht gehabt hatte mit ihrer Vermutung? Dass er gekommen war, um sich zu rächen? Er wird dich töten! So deutlich war bisher noch keine Botschaft zuvor gewesen. Aber von wem stammte sie bloß? Wer konnte wissen, was er vorhatte? Was sollte sie tun? Hinauslaufen zu den Polizisten und ihnen erzählen, was sie gerade gefunden hatte? Und dann? Dann würden wieder diese Leute auftauchen und ihr Haus durchsuchen und alles durchwühlen und ihre Nasen in all ihre privaten Dinge stecken. Irgendwann würden sie wieder abziehen und … Nein, sie würde die Nachricht niemandem zeigen. Niemandem außer Dr. Leienberg.
Der Psychiater hob nach dem zweiten Klingeln ab. Als sie ihm sagte, sie müsse schnellstmöglich zu ihm in die Praxis kommen, hatte sie erst das Gefühl, er reagiere etwas verhalten. Als sie dann jedoch die neue Nachricht erwähnte, erklärte er ihr, er erwarte jeden Moment seinen letzten Patienten für diesen Tag, und sie könne in einer Stunde zu ihm kommen. Eva bedankte sich und legte erleichtert auf. Sie fühlte sich verschwitzt und irgendwie schmutzig, ging ins Badezimmer, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser drehte sie dabei so heiß, dass sie es noch gerade eben aushalten konnte. Das Brennen auf ihrer Haut empfand sie als reinigend, es war, als weiche das heiße Wasser die Kruste der Verzweiflung ein wenig auf, die sie fest umschlossen hatte. Als sie schließlich das Wasser abstellte, stand im ganzen Badezimmer eine dichte Wand aus waberndem Dampf. Nachdem sie sich abgetrocknet und in ein großes Badetuch eingewickelt hatte, musste sie sich auf dem Rand des Waschbeckens abstützen, weil ihr schwindlig wurde. Ihr Kreislauf machte ihr offensichtlich Schwierigkeiten, was bei den Temperaturen und der Feuchtigkeit im Badezimmer auch kein Wunder war. Sie schloss mit gesenktem Kopf die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Plötzlich, im Bruchteil einer Sekunde, ohne Übergang, ging es ihr wieder besser. Die Veränderung war schneller gekommen, als ihr Verstand folgen konnte, sie war verwirrt, hob den Kopf und betrachtete sich im Spiegel, der schon nicht mehr beschlagen war. Ihre Wangen wirkten eingefallen, um die Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, ihr Mund kam ihr fremd vor, so schmallippig, so … egal. Sie musste sich anziehen, sonst kam sie zu spät zu Dr. Leienberg. Zwanzig Minuten später verließ sie das Haus. Sie hatte sich einen Handschuh übergezogen, um das Blatt aus der Küche mit der unheimlichen Nachricht darauf anfassen zu können. Sie hatte ihre Meinung geändert und wollte es nun doch den beiden Beamten zeigen, die in einem dunkelblauen Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkten. Als sie das Fahrzeug fast erreicht hatte, glitt das Fenster der Fahrertür nach unten. Sie hielt dem verblüfft dreinschauenden Polizisten das Blatt entgegen und sagte: »Können Sie das bitte nehmen? Das … das habe ich in meiner Küche gefunden. Ich weiß nicht, seit wann es schon da hängt, ich habe es erst vorhin bemerkt. Ich werde jetzt zu Dr. Leienberg in die Praxis fahren, ich kann jetzt nicht zu Hause bleiben.«
»Wo haben Sie das gefunden?«, fragte der Mann, während Eva hörte, wie sein Kollege auf der Beifahrerseite im Handschuhfach herumkramte.
»In der Küche, an meiner Pinnwand.«
Eine Hand tauchte neben der Schulter des Mannes auf und hielt ihm einen Gummihandschuh hin. Er streifte ihn über seine Linke und nahm ihr das Blatt dann aus der Hand. »Warten Sie bitte noch einen Moment, ich muss erst Hauptkommissar Menkhoff über diese Nachricht informieren.«
Menkhoff informieren? Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war dieser Menkhoff, der sie wieder mit seinen Fragen löchern würde. Dem schien es doch sowieso völlig egal zu sein, dass sie Todesängste ausstand. Eva schüttelte den Kopf. »Nein, ich … das geht nicht. Ich habe einen Termin.« Damit wandte sie sich ab und ging zurück auf ihr Grundstück. Keine drei Minuten später fuhr sie mit ihrem X5 an den beiden Polizisten vorbei und sah im Rückspiegel, dass sie ihr folgten. Zumindest war sie auf diese Weise während der Fahrt halbwegs sicher. Erkenne, dass du nicht allein bist. Er wird dich töten! Die Nachricht ging ihr nicht aus dem Kopf. Plötzlich war keine Rede mehr von vielleicht. Was sollte das bedeuten? Zum wiederholten Mal fragte sie sich, wer ihr diese Botschaften schrieb und wieso derjenige zu wissen glaubte, was geschehen würde. War es der Täter selbst, der sie warnte? Aber weshalb sollte er sie vor sich selbst warnen, und warum sollte er dann in der dritten Person schreiben? Nein, es musste jemand anderes sein. Nur wer? Eva hoffte inständig, dass Dr. Leienberg ihr helfen konnte.
Sie parkte fast an der gleichen Stelle, an der sie auch bei ihrem letzten Besuch gestanden hatte. Die Tür vom Wartezimmer zu Leienbergs Therapieraum stand offen, als Eva hereinkam. »Kommen Sie gleich durch, Eva«, rief er ihr zu, ohne dass sie ihn sehen konnte. Als sie das Zimmer betrat, forderte er sie auf, die Tür hinter sich zu schließen. Er saß nicht an seinem Schreibtisch, sondern auf dem Stuhl schräg neben der Ledercouch. Nun stand er auf, kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Guten Tag, Eva. Haben Sie sich von dem Schrecken der letzten Nacht erholt? Ich noch nicht.« Er sagte es freundlich, aber ohne dabei zu lächeln.
»Nein, das … ich habe eben schon wieder so eine Nachricht erhalten. Ich habe mittlerweile Angst, zu Hause zu sein, obwohl Polizisten vor meiner Tür stehen.«
Leienberg nickte und zeigte auf die Couch. »Machen Sie es sich bequem, dann redet es sich leichter.« Unsicher setzte sie sich hin und legte die Hände in den Schoß, doch er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht bequem genug. Legen Sie sich bitte hin, nur keine Angst.«
»Aber meine Schuhe …«
»Ziehen Sie sie einfach aus. Stellen Sie sich vor, Sie liegen zu Hause auf Ihrer eigenen Couch.«
Sie streifte die Sneakers ab, zog die Beine der Jeans gerade und legte sich dann auf den Rücken. Die Couch war wirklich sehr bequem, ein eingearbeiteter Wulst schmiegte sich angenehm um ihren Nacken. Sie sah zu Leienberg herüber, der mit übereinandergeschlagenen Beinen wieder auf dem Stuhl Platz genommen hatte. »Nein, sehen Sie nicht mich an, Eva, legen Sie den Kopf bitte gerade hin, und schließen Sie am besten die Augen.« Sie tat auch das.
»Dass Sie sich in Ihrem eigenen Haus nicht mehr wohl fühlen, ist vollkommen normal«, begann Leienberg mit sanfter Stimme. »Ein Haus oder eine Wohnung ist die sichere Burg, in die man sich zurückzieht, wenn man Schutz vor allem und jedem sucht oder auch einfach nur seine Ruhe haben möchte. Es ist ein sehr intimer Bereich, in dem wir unsere persönlichsten Dinge aufbewahren. Und der intimste Bereich darin ist das Schlafzimmer. Jemand ist in Ihr Haus und Ihr Schlafzimmer eingedrungen, ohne dass Sie etwas dagegen tun konnten. Damit hat er diesen intimen Bereich entweiht und Sie sehr verletzt und gedemütigt. Sie fühlen sich nun in Ihrem Haus nicht mehr geschützt, sondern wie auf einem Präsentierteller.«
Leienberg machte eine Pause, in der Eva Papier rascheln hörte. »Gibt es etwas Bestimmtes, worüber Sie mit mir reden möchten, Eva? Über die letzte Nacht vielleicht?«
»Ja. Nein. Ich meine, ich möchte über etwas mit Ihnen reden, aber nicht über die letzte Nacht.«
»Sondern?«
Nun öffnete sie die Augen doch wieder, sah ihn aber nicht an, sondern fixierte eine Stelle an der Decke, einen dünnen Riss, der auf einer Länge von vielleicht einem halbem Meter direkt über ihr in gezackter Linie die weiße Farbe durchbrach. »Ich möchte über meinen Bruder Manuel reden. Ich glaube, dass er noch lebt.«