18

Um halb acht Uhr morgens traf Menkhoff im Flur des Präsidiums auf Udo Riedel. Menkhoff hatte nicht gut geschlafen, war mindestens fünfmal in der Nacht aufgewacht, und jedes Mal hatte er sich lange hin und her gewälzt, bis er endlich wieder eingeschlafen war.

Sticheleien seines Kollegen konnte er daher so früh am Morgen am allerwenigsten gebrauchen, und er nahm sich vor, Riedel einfach zu ignorieren. Prompt steuerte der mit schnellen Schritten auf ihn zu. Doch statt eine neue Unverschämtheit abzufeuern, sagte er hastig, noch bevor er ihn erreicht hatte: »Morgen, auch schon von der Nachricht gehört?«

Menkhoff blieb überrascht stehen. »Nein, welche Nachricht?«

»Weiß nicht«, sagte Riedel und ging an ihm vorbei. »Brosius hat gerade durchgerufen, das Ding ist eben reingekommen. Wahrscheinlich von dem Psycho, komm am besten gleich mit.«

Menkhoff drehte sich um und eilte hinter Riedel her zum Büro des Chefs. Dort standen schon zwei Kollegen mit Brosius zusammen um dessen Schreibtisch herum und betrachteten etwas, das vor ihnen lag. Jutta Reithöfer war nicht dabei. Brosius sah von seinem Schreibtisch auf und sagte: »Bernd, gut, dass du da bist. Schau dir das mal an. Ist vor fünf Minuten unten von einem Fahrradkurier abgegeben worden. Er sitzt drüben beim Kollegen Dietel, aber er kann keine Beschreibung abgeben.«

Die beiden Kollegen machten Platz für Menkhoff und Riedel. Die Nachricht war auf einem herkömmlichen weißen DIN-A4-Blatt ausgedruckt worden:

Milde und Nachsicht wo Strenge notwendig wäre, ist nicht Güte, sondern elende Feigheit und Schwäche.

Das Miststück wartet am äußeren Grüngürtel. Vielleicht kratzt sie noch.

Es folgte eine detaillierte Wegbeschreibung ab der Kreuzung Militärringstraße-Robinienweg, die mit der Anzahl Schritte endete, die jeweils nach links oder rechts gegangen werden musste. Die letzten beiden Worte allerdings erzeugten ein mulmiges Gefühl in Menkhoffs Magengegend:

Dort ungefähr.

Menkhoff richtete sich auf. »Dort ungefähr … Vielleicht kratzt sie noch. Scheiße. Das Schwein hat wieder eine Frau vergraben, da möchte ich wetten. Und diesmal lässt er uns suchen.« Er wandte sich an Riedel. »Los, wir müssen dahin. Jutta ist noch nicht da, du kommst mit mir. Mach ein Handyfoto von dem Wisch, damit wir die Beschreibung haben.«

Er sah Brosius an, der ihm zunickte. »Ich schicke jeden dahin, den wir haben, und dazu eine Hundertschaft und eine Hundestaffel.«

Während der Fahrt redeten sie kaum. Menkhoff saß selbst hinter dem Steuer, er hatte das magnetische Blaulicht auf dem Dach befestigt und musste sich stark konzentrieren, während er durch den Kölner Verkehr raste. Sie brauchten zwanzig Minuten, bis sie den äußeren Grüngürtel erreicht hatten. Riedel dirigierte Menkhoff nach der abfotografierten Wegbeschreibung. Nach weiteren zehn Minuten erreichten sie schließlich die Stelle, an der sie den Wagen abstellen und zu Fuß weitergehen mussten. Sie stiegen aus und sahen sich um. Wenige Meter vor ihnen begann der Wald, hinter ihnen breiteten sich weitläufige Felder stumpf glänzend im morgendlichen Novembernebel aus, milchig und unwirklich. »Zeig mal das Foto, bitte«, sagte Menkhoff und zog seine Jacke am Hals enger zusammen. Er las die Beschreibung auf dem Handy-Display genau durch und reichte Riedel das Telefon zurück. »Gut, auf geht’s. Du liest vor, ich zähle die Schritte.«

Riedel nickte und las: »Dreißig Schritte rechts am Baumstumpf vorbei.«

Menkhoff suchte nach einem Stumpf, entdeckte ihn einige Meter schräg vor sich auf der rechten Seite, und ging grimmig los.

Nach einer Weile, in der sie immer wieder die Richtung wechseln und unterschiedlich lange Strecken zurücklegen mussten, endete die Beschreibung. »Dort ungefähr«, las Riedel vor und steckte das Telefon weg. »Jetzt müssen wir suchen.«

»Dieser Scheißkerl«, sagte Menkhoff und sah sich um. Die Bäume standen hier etwas weiter auseinander, der Boden war wie überall bedeckt mit Laub, Gestrüpp und abgebrochenen Zweigen. »Also gut, versuchen wir unser Glück schon mal, bis die Kollegen hier sind. Geh du links rüber, ich versuche es rechts.« Riedel nickte, doch noch bevor sie losgehen konnten, hörten sie hinter sich Stimmen und das Rascheln von Laub. Sekunden später tauchten drei Männer und eine Frau zwischen den Bäumen auf, Kollegen des KK11.

Menkhoff umschrieb ein Gebiet von etwa hundert mal hundert Metern und teilte die Kollegen ein. »Er hat die Frau wahrscheinlich erst vor wenigen Stunden vergraben. Achtet auf frische Spuren. Und beeilt euch. Wenn wir Glück haben, lebt sie noch. Aber wir müssen sie schnell finden. Das ist alles, was zählt.«

Sie fanden sie nicht schnell. Etwa eine Viertelstunde später trafen neben Jutta Reithöfer auch die Hundertschaft der Bereitschaftspolizei und die Hundestaffel ein, und doch dauerte es noch eine weitere Dreiviertelstunde, bis einer der Schäferhunde an einer Stelle anschlug, die Nase in das lose Laub wühlte und anfing, wie verrückt zu graben. Die Stelle war so gut wieder abgedeckt worden, dass sie sie ohne den Hund wahrscheinlich nicht entdeckt hätten. Hastig eilten mehrere Beamte herbei und begannen den Untergrund von Laub und Gestrüpp zu befreien. Erst da erkannte man, dass an der Stelle kurz zuvor gegraben worden war.

Die Kiste lag nicht sehr tief, schon nach etwa dreißig Zentimetern stieß der Spaten eines der Polizisten aus der Hundertschaft mit einem dumpfen Geräusch auf den hölzernen Deckel. Wenige Minuten später hebelte ein anderer mit einer Brechstange die Kiste auf, mehrere Hände griffen nach dem Deckel und rissen ihn hoch. Menkhoff stand am Rand und schob einen der jungen Männer zur Seite, um einen Blick ins Innere der Kiste werfen zu können. Auch Reithöfer schaute hinein und stieß ein betroffenes »O Gott« aus. Sekundenlang starrten sie die junge Frau an, die dort unter ihnen lag. Anders als das erste Opfer war sie bekleidet, aber auch bei ihr waren die Hände zusammengebunden und das lange Ende des Seils am Fußteil der Kiste an einer dicken Schraube festgemacht, so dass die Hände wie schon bei Inge Glöckner nur ein Stück weit Spielraum hatten. Die abgeschabten Fingerkuppen waren schwarz verkrustet, die Haut mit Splittern durchsetzt, Augen und Mund mit breitem Band verklebt. Und – um das zu erkennen musste Menkhoff nicht erst den Befund des Arztes abwarten – sie war tot.

»Gottverdammtes Dreckschwein«, zischte er und wandte sich ab.

»Warum fesselt er ihre Handgelenke, lässt ihnen aber so viel Platz, dass sie sie ein gutes Stück in alle Richtungen bewegen können?«, überlegte Reithöfer laut.

»Ich schätze, das macht er, damit sie sich in ihrer Panik das Fleisch von den Fingern schaben.« Menkhoff hörte selbst, dass in seiner Stimme die Mischung aus Ekel und Wut mitschwang, die er empfand.

»Aber warum dann überhaupt die Fesseln an den Handgelenken? Die Frauen hatten doch sowieso keine Chance, da wieder rauszukommen.«

Menkhoff war ein Stück zur Seite getreten, um den Kollegen der Spurensicherung Platz zu machen. Nun blieb er stehen. »Damit sie sich das Klebeband nicht von den Augen und vom Mund reißen können. Und wenn du mich fragst, warum er ihr Augen und Mund zugeklebt hat, dann fällt mir nur eines ein: Er steigert ihr Leiden noch zusätzlich dadurch, dass sie zumindest in der ersten Zeit nicht sicher wissen, was mit ihnen geschieht. Und dabei die Gewissheit haben, sich nicht bemerkbar machen zu können.«

Der Sarg
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