80.
Manhattan war die Insel der Pendler. Rund fünf Millionen Menschen fuhren täglich von ihrem Zuhause in New York, Connecticut, New Jersey oder Pennsylvania über eine der großen Brücken oder durch einen der zahlreichen Tunnel zu ihrem Arbeitsplatz nach Manhattan. Die Insel war bequem per Auto, Fahrrad, Bus oder Fähre zu erreichen. Doch die meisten Pendler kamen mit dem Zug nach Manhattan. Von den drei Hauptbahnhöfen in Manhattan war die Grand Central Station der größte. Hier gab es im Untergrund auf zwei Ebenen mit einer Fläche von 19 Hektar 44 Bahnsteige mit 67 Gleisen.
Mit quietschenden Bremsen hielt der Streifenwagen vor der Sicherheitsschleuse an der Vanderbilt Avenue. Jonathan stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen, gefolgt von Danni und den Männern. Zwei Bahnpolizisten erwarteten sie bereits. »Sind Sie der Mann, mit dem wir gerade eben telefoniert haben?«
»Bringen Sie uns auf dem schnellsten Weg zum Roosevelt-Tunnel«, sagte Jonathan, ohne auf die Frage der beiden einzugehen.
»Der Roosevelt-Tunnel? Irrtum ausgeschlossen?«
»Ja«, entgegnete Jonathan. »Worauf warten Sie noch?«
Während der Fahrt vom Flughafen hierher hatten sich die Ereignisse überschlagen. Vor genau fünfzehn Minuten hatte Benny per Telefon von seinem Kontaktmann beim Secret Service die Nachricht erhalten: »Raschid wird morgen vor der UNO eine Rede halten. Sein Privatjet sollte heute Morgen um sieben auf dem Flughafen Teterboro in New Jersey landen, ist dort aber nicht aufgetaucht.«
»Wissen sie etwas über den letzten Aufenthaltsort von Raschids Privatflugzeug?«, erkundigte sich Jonathan.
»Deutschland«, informierte ihn Benny. »Er hat die Präsidentensuite im Waldorf Astoria gebucht.«
»Er hat Haq dabei«, fügte Danni hinzu. »So viel steht fest.«
Fünf Minuten später klingelte Bobs Handy. Während des Telefonats wurde sein Gesicht aschfahl. »Bei der Netzleitzentrale in der Grand Central Station ist gestern Abend ein Ersuchen eingegangen, den Roosevelt-Bahnsteig für einen hohen Diplomaten zu sperren.«
»Wo liegt dieser Bahnsteig?«, erkundigte sich Jonathan.
»In den Dreißigern wurde extra ein Tunnel für Franklin Roosevelt gebaut, damit er mit seiner Beinprothese bequem die Grand Central Station betreten und verlassen konnte, ohne die Blicke neugieriger Passanten auf sich zu ziehen. Der Tunnel befindet sich direkt unter dem Waldorf Astoria, damit Roosevelt unbemerkt ins Hotel und von dort aus in die Garage zu seinem Wagen gelangen konnte.
»Direkt unter dem Waldorf Astoria?«, wiederholte Jonathan. »Das muss es sein.«
»Wer hat die Anfrage gestellt?«, wollte Danni wissen.
»Die Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate im Auftrag von Prinz Raschid«, erwiderte Bob. »Der Heimatschutz hat sofort grünes Licht gegeben.«
Die Bahnpolizisten führten sie durch die Haupthalle zur Osttreppe und über die Stufen hinunter zu den Bahnsteigen im Untergeschoss. Inzwischen war es Viertel nach acht, und in der Grand Central Station herrschte Hochbetrieb. Die im Fünf-Minuten-Takt eintreffenden Züge aus Connecticut und Westchester County spuckten Hunderte von Menschen aus. In den zahllosen Gängen hasteten die Pendler in alle Richtungen davon.
»Warten Sie bitte hier«, sagte einer der Polizisten. »Ich habe ein Team meiner besten Leute angefordert.«
»Dafür haben wir keine Zeit«, entgegnete Danni. »Wir müssen weiter.«
Bob vom DHS war bereits völlig außer Atem. »Ist es wirklich so dringend?«, fragte er atemlos.
Jonathan nickte.
»Hier, nehmen Sie sie.« Er drückte Jonathan seine Waffe in die Hand. »Ich nehme an, Sie wissen, wie man damit umgeht? Und jetzt beeilen Sie sich. Ich sorge dafür, dass die Jungs vom Einsatzteam Sie finden.«
Die Bahnpolizisten führten sie im Untergeschoss um eine scharfe Rechtskurve bis zum Ende des Ganges und durch mehrere Türen in eine etwas abseitsgelegene Sperrzone. In einiger Entfernung sahen sie einen verlassen wirkenden, unbeleuchteten Bahnsteig.
Dort stand ein Zug mit drei Waggons. Plötzlich waren gedämpfte Schüsse zu hören. Durch die Wagenfenster sahen sie Mündungsfeuer aufblitzen. Jonathan rannte mit Danni dicht hinter ihm zu dem Zug. Benny folgte ihnen mit etwas Abstand. Aus der Tür am Ende des letzten Waggons huschte eine große, durchtrainierte Gestalt und rannte leicht hinkend über die Schienen in Richtung des öffentlich zugänglichen, belebteren Teils des Bahnhofs davon.
»Haq«, sagte Jonathan zu Danni und zeigte mit dem Finger auf den kleiner werdenden Schatten.
Auf einem anderen Gleis näherte sich ein Zug und versperrte ihnen die Sicht auf den Flüchtigen. Mit einem Satz sprang Jonathan auf die Schienen und nahm die Verfolgung auf. Dabei stieß er um ein Haar mit der ankommenden Lok zusammen. Als Jonathan sich kurz umdrehte, sah er, dass Danni unmittelbar neben ihm war. Ein Stück weiter vorn wurden die Schienen von der Finsternis verschluckt. »Dort drüben!«, rief Jonathan, der Haq wieder entdeckt hatte.
»Er trägt etwas über der Schulter«, bemerkte Danni neben ihm, während sie den unebenen Untergrund mit den tückischen Schienen und hölzernen Schwellen unbeschadet zu überqueren versuchten. Doch Haq, dessen Flucht durch das Gewicht des Sprengkopfs erschwert wurde, kam noch mühsamer voran als sie. Danni und Jonathan holten immer mehr auf.
Zweimal warf Haq einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wie groß der Abstand zwischen ihm und seinen Verfolgern noch war. Beim zweiten Mal traf sein Blick direkt auf den von Jonathan. Als Haq klar wurde, wer ihm auf den Fersen war, verlangsamte er seine Schritte. Mit einem Satz sprang er auf den nächsten Bahnsteig und entfernte sich in Richtung Treppe. Sekunden später war er in der Masse der zahllosen Pendler untergetaucht.
Vom anderen Ende des Bahnsteigs eilte ein Polizist herbei. Er hatte beobachtet, wie Haq in der Menschenmenge verschwunden war, und versuchte, ihm mit ausgebreiteten Armen den Weg zu versperren. »Halt!«, schrie er. »Sie da! Bleiben Sie stehen!«
Ein Schuss, und der Polizist sackte zusammen. Die Menschen um ihn herum wichen für einen Moment zurück und gaben den Blick auf Haq frei, der Jonathan und Danni den Rücken zuwandte. Neben Jonathan knallte es plötzlich ohrenbetäubend. Als er den Kopf zur Seite drehte, sah er, dass Danni mit einer Waffe mehrere Schüsse auf den isoliert stehenden Haq abgab. Doch im nächsten Moment wurde Haq wieder von der Menge verschluckt, die zum nahe gelegenen Treppenaufgang drängte.
»Er will in die Bahnhofshalle«, stieß Jonathan keuchend hervor.
Danni blieb dicht an seiner Seite, während sie die Stufen zur weitläufigen Bahnhofshalle hinaufrannten. Oben angelangt, hielt Jonathan inne und blickte sich suchend nach Haqs dunklen Haaren und der über die Schulter geworfenen Ledertasche um. Wieder hallte ein Schuss durch die Halle, und Jonathan hörte, wie jemand neben ihm einen Schrei ausstieß. Als er sich umwandte, sah er Danni mit einer Hand am Hals neben sich auf dem Boden liegen. Zwischen ihren Fingern sickerte Blut hervor. »Lauf«, flüsterte sie ihm zu.
Unsicher, ob er die verletzte Danni einfach so zurücklassen sollte, zögerte Jonathan. Doch dann riss er sich los und nahm Haqs Verfolgung von Neuem auf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Fliehende sich mit gezückter Waffe einen Weg zur Mitte der Bahnhofshalle bahnte. Hin und wieder ertönte ein Schuss, doch das Geräusch verlor sich in der riesigen Halle ebenso wie die panischen Schreie der Menschen in Haqs unmittelbarer Umgebung. Einige von ihnen versuchten zu fliehen, andere warfen sich auf den Boden oder gingen irgendwo in Deckung.
Plötzlich teilte sich die Menge um Haq, und Jonathan konnte sehen, wie dieser die Tasche absetzte, den Reißverschluss aufzog und den silberfarbenen Zylinder mit dem Sprengkopf herausholte. An der Decke über ihm war eine riesige amerikanische Flagge gespannt. Langsam hob Jonathan die Pistole und zielte auf Haq. Aber es waren einfach zu viele Menschen zwischen ihm und seinem Ziel. Jonathan spürte, wie eine Woge der Angst in ihm aufstieg. Er riss sich zusammen und umklammerte mit ruhiger Hand die Waffe. Dann zielte er genau auf Haqs Rücken und feuerte langsam und konzentriert drei Schüsse ab. Ohne zu zögern und zu allem entschlossen.
Haq fuhr herum und ging in die Knie. Mit einer Hand hielt er die Bombe fest umklammert, und mit der anderen öffnete er den Zylinder. Jonathan stürzte auf ihn zu und feuerte im Laufen erneut auf ihn. Haq ging zu Boden, und die Bombe kullerte ihm aus der Hand. Jonathan gelang es, den Sprengkopf an sich zu nehmen. In dem Zylinder leuchtete ein grünes Lämpchen. Auf dem LED-Display war das Wort »Manuell« zu lesen. Jonathans Blick wanderte zu der roten Taste daneben. So behutsam wie möglich zog er die Hand zurück und schloss den Zylinder wieder. Dann klemmte er sich die Bombe fest unter den Arm und baute sich neben dem am Boden liegenden Haq auf. »Es ist vorbei.«
Mit verschleiertem Blick starrte der Afghane ihn an. In seinen tiefschwarzen Augen waren noch immer der unbändige Hass und der feste Wille zu lesen, bis zum bitteren Ende zu kämpfen. »Niemals«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Jonathan sah, wie Haqs Pupillen sich weiteten und sein Kopf zurück auf den Boden sank. Sein Blick wanderte von Jonathans Gesicht zu der überdimensionalen amerikanischen Flagge an der Decke. Sekunden später war er tot.
Jonathan verstaute die Bombe wieder in der Ledertasche. Um ihn und den getöteten Haq hatte sich eine neugierige Menschentraube gebildet. Einer der Zuschauer erkundigte sich, ob der Tote ihm das silberne Ding in der Tasche gestohlen habe. Im nächsten Moment drangen laute Anweisungen von herbeieilenden Polizisten an sein Ohr. Sie forderten die Menschen auf, den Weg frei zu machen. Als Jonathan sich umdrehte, blickte er direkt in Emmas Gesicht. Sie trug eine unauffällige schwarze Hose und einen Trenchcoat und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sodass sie sich kaum von den anderen Pendlerinnen im Bahnhof unterschied. »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Jonathan.
Emma nickte. »Du hast ihn aufgehalten.«
»Ja.«
Emma trat ganz dicht an ihn heran und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Danke, Jonathan«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Ich liebe dich«, sagte er leise. Im nächsten Augenblick spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Nacken.
Vor seinen Augen drehte sich alles, und um ihn herum wurde es schwarz. Halb weggetreten spürte er, wie Emma ihm die Ledertasche abnahm, aber er vermochte nicht, sie daran zu hindern. Seine Arme und Beine wollten ihm nicht gehorchen. Seine Knie wurden weich, und Emma ließ ihn vorsichtig zu Boden gleiten. Dann beugte sie sich über ihn und küsste ihn sacht. »Ich weiß«, antwortete sie sanft.
Jonathan blinzelte verwirrt, doch als er sich umsah, war Emma spurlos in der Menge verschwunden.