42.

Im Audi von Hauptkommissar Markus von Daeniken herrschte angespanntes Schweigen. Es war acht Uhr morgens. Auf ihrem Weg bergab von Gstaad nach Saanen kamen sie bei strahlendem Sonnenschein und wolkenlosem Himmel an zahllosen Wiesen und Feldern vorbei, auf denen der Schnee wie lupenreine Diamanten funkelte. Doch beim Anblick der versteinerten Mienen seiner Mitfahrer fühlte sich Jonathan fast so, als wären sie auf dem Weg zu einer Beerdigung.

Von Daeniken war noch wortkarger als sonst. Wenn er überhaupt mit Jonathan kommunizierte, dann nur mit Blicken: einsteigen. Anschnallen. Still sitzen und Klappe halten.

Auf der Wiese neben ihnen hob gerade ein regenbogenfarbener Heißluftballon ab und gesellte sich zu zwei weiteren Ballons, die ein Stück weiter oben am Himmel schwebten. Im Wagen sagte niemand ein Wort. Jonathan blickte sich verstohlen zu Danni auf dem Rücksitz um. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, dann drehte Danni den Kopf zur Seite. Sie trug, genau wie er, Jeans, Fleecejacke und Parka. Von ihrem exklusiven Schmuck war nichts mehr zu sehen. Die teuren Ohrringe, das Armband und die Eheringe waren im Hotel geblieben, genau wie Mrs. und Mr. John Robertson. Hier im Wagen gab es nur noch Danni und Jonathan, die Ausbilderin und ihren Schüler, und er fragte sich, ob sie sich gestern Abend wirklich zueinander hingezogen gefühlt hatten oder ob er sich das alles nur eingebildet hatte.

Das erste Anzeichen für einen Stimmungsumschwung hatte er bei Dannis Rückkehr ins Restaurant bemerkt. Ihr Gesicht wirkte verschlossen, und sie schien auch keinen großen Wert mehr darauf zu legen, ihre Rolle als Mrs. Robertson überzeugend weiterzuspielen. Ohne große Umschweife erklärte sie ihm, dass sie beide sofort ins Hotel zurückkehren müssten, um sich für den nächsten Tag auszuruhen. Im Hotel lief es nicht viel besser. Danni verhielt sich ihm gegenüber so frostig wie ein Eiszapfen. Jeder Versuch von Jonathan, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, endete mit einer kurz angebundenen, einsilbigen Antwort. Als er um drei Uhr morgens aufwachte und sah, dass das Bett neben ihm leer war, stand er auf und fand Danni im Salon vor dem Fenster sitzen, wo sie mit ausdruckslosem Gesicht den Mond anstarrte.

An der nächsten Ausfahrt verließ von Daeniken die Autobahn und lenkte den Audi über eine schmale Landstraße bergauf in den Wald. Der Teerbelag wich einer festgefahrenen Schneedecke. Auf beiden Seiten säumten Kiefern die Straße und verdeckten den Blick auf die Sonne. Die Temperatur im Wagen sank spürbar. Direkt vor ihnen versperrte eine Metallschranke die Straße. Auf einem Schild daneben stand: »Durchfahrt verboten. Privatbesitz des Schweizer Verteidigungsministeriums. Schießübungsplatz und Lager.«

Von Daeniken stieg bei laufendem Motor aus, entsicherte die Schranke und schob sie mit beiden Händen an den Straßenrand. Als er wieder in den Wagen stieg, blickte er noch finsterer aus der Wäsche als vorher. Zum ersten Mal an diesem Tag spürte Jonathan, wie ihm die Angst in den Nacken kroch.

»Ich dachte, ich werde als Schönheitschirurg eingeschleust«, sagte er. »Warum soll ich dann schießen lernen?«

»Hat hier irgendjemand etwas von Schießen gesagt?«, entgegnete von Daeniken griesgrämig und schaltete in den nächsten Gang. Nach rund einem Kilometer hielt der Wagen auf einem Kiesplatz vor einem länglichen Betonklotz, der aussah wie eine Kaserne. Neben dem Eingang parkte noch ein zweites Auto.

»Raus mit Ihnen«, befahl von Daeniken.

Jonathan öffnete die Beifahrertür und blickte sich fragend zu Danni um. »Kommst du nicht mit?«, fragte er, als sie keine Anstalten machte, aus dem Wagen zu steigen.

»Den Part hier kenne ich schon«, erwiderte sie und fügte dann ein wenig freundlicher hinzu. »Geh schon mal vor, Jonathan. Ich komme in ein paar Minuten nach.«

In einer Mehrzweckhalle wurde Jonathan von zwei Männern erwartet. An der Decke brannten Neonleuchten, und in einer Ecke waren Stühle gestapelt. In der einen Hälfte des Raumes lagen Gymnastikmatten auf dem Boden. Man hatte vergessen, die Heizung einzuschalten. Die Luft war unangenehm feucht und kühl.

»Das sind Mr. Amman und Mr. Schmid«, sagte von Daeniken zu Jonathan. »Sie sind hier, um Ihnen noch ein paar brauchbare Dinge beizubringen.«

Amman war blond und schmächtig, und seine sonnengegerbte Haut verriet, dass er sich viel im Freien aufhielt. Schmid war größer, muskulöser und hatte einen kahlrasierten Schädel. In seinem bleichen Gesicht fielen besonders die dunklen Augenringe und sein ungepflegter Dreitagebart auf.

»Er hat keine Waffe?«, wandte sich Amman fragend an von Daeniken.

»Nein.«

»Nicht mal ein Messer?«, erkundigte sich Schmid.

»Nur wenn er zufällig eins in die Finger bekommen sollte«, sagte von Daeniken bestimmt. »Ansonsten bleibt er unbewaffnet.«

»Das macht die Sache um einiges interessanter.« Amman musterte Jonathan eingehend, und Jonathan wurde klar, dass seine Intuition ihn nicht getrogen hatte. Das hier würde alles andere als ein Spaziergang werden.

In einer Ecke stand ein Tisch, auf dem verschiedene Gegenstände ausgebreitet lagen. Darunter ein Schlüsselbund, ein Kugelschreiber, eine Kreditkarte, ein gebundenes Buch und andere, ähnlich harmlos wirkende Dinge. Beim ersten Hinsehen hatte Jonathan vermutet, dass er hierher gebracht worden war, um weiter sein Gedächtnis zu trainieren. Als er jetzt jedoch sah, dass Schmid am anderen Ende der Halle gepolsterte Armschützer anlegte, wusste er, dass ihm ganz sicher kein harmloses Gedächtnisspiel bevorstand.

»Achtung!«

Jonathan fuhr herum und konnte den Schlüsselbund gerade noch mit der Hand auffangen, bevor er ihn mitten ins Gesicht getroffen hätte.

»Wissen Sie, was Sie da in der Hand halten?«, wollte Amman wissen.

»Einen Schlüsselbund.«

»Falsch. Was Sie da haben, ist eine tödliche Waffe. Klemmen Sie sich einen der Schlüssel so zwischen Zeige- und Mittelfinger, dass der Bart aus Ihrer Faust herausschaut.«

Jonathan betrachtete die Schlüssel in seiner Hand. »Ist das denn unbedingt nötig?«, fragte er und blickte hilfesuchend zu von Daeniken.

»Ich an Ihrer Stelle würde tun, was er sagt«, empfahl ihm der Schweizer.

Jonathan umklammerte den Schlüssel, wie Amman es ihm aufgetragen hatte. Mit einer Hand winkte Amman ihn zu einer der Matten. »Wenn Sie kämpfen, denken Sie immer daran, dass Sie vielleicht nur diese eine Chance haben, sich Ihren Gegner ein für alle Mal vom Hals zu schaffen. Schlagen Sie zu, als ob Ihr Leben davon abhinge. Verstanden?«

»Verstanden«, erwiderte Jonathan.

Schmid hob die geschützten Unterarme und umkreiste Jonathan.

»Nur eine Chance«, wiederholte Amman.

Jonathan holte mit dem Schlüsselbund in der Faust zum Schlag aus. Zögernd stürzte er sich auf Schmid, der mit einer schnellen Bewegung seinen Fausthieb abwehrte und ihm die Schlüssel aus der Hand schlug.

»Mit ein bisschen mehr Schmackes, wenn ich bitten darf«, forderte ihn Amman auf.

»Er kämpft wie ein Mädchen«, spottete Schmid und grinste hämisch.

Jonathan hob die Schlüssel auf und klemmte sich den längsten zwischen die Finger. Schmid kam mit herabhängenden Armen und herausgestreckter Brust auf ihn zu. Dabei warf er seinem Kollegen einen süffisanten Blick zu, der zu sagen schien: »Und, was machen wir jetzt mit dem Weichei?«

Amman zuckte mit den Schultern und machte sich als der Professionellere von den beiden wieder an die Arbeit.

Nichts davon war Jonathans Aufmerksamkeit entgangen. Er verlagerte sein Gewicht auf die Zehen und lockerte die Nacken- und Schultermuskeln. Man sollte sich nie zu sicher sein, dachte er, als Schmid sich mit noch immer hängenden Armen und siegessicher vorgestrecktem Kinn vor ihm aufbaute.

Der erste Schlag traf den völlig überrumpelten Schmid am Ohr. Um ihn so wenig wie möglich zu verletzen, hielt Jonathan die Faust so, dass er Schmids Wange mit dem Schlüssel nur streifte. Noch bevor der Mann reagieren und die Hände schützend vors Gesicht heben konnte, versetzte ihm Jonathan mit der Linken einen Kinnhaken. Schmid sackte auf die Knie.

»Wie ein Mädchen«, kommentierte Jonathan und baute sich vor dem benommenen Schmid auf.

»Sie haben also Kampferfahrung?«, erkundigte sich Amman, während er seinem Kollegen auf die Füße half. »Das hat von Daeniken uns leider verschwiegen.«

»Vielleicht hätten Sie nicht ihn, sondern mich fragen sollen.«

»Unser Fehler.« Amman erteilte Schmid ein paar knappe Anweisungen, woraufhin dieser ihm missmutig die Armschoner aushändigte und danach in den Waschraum eilte, um die Schnittverletzung im Gesicht zu verarzten. »Ich würde sagen, dass reicht fürs Erste mit dem Schlüssel. Kommen wir also zum Kugelschreiber.«

Amman zeigte Jonathan, wie er den Stift halten musste. »Nicht wie ein Messer, sondern wie einen Dolch.« Danach wies er Jonathan an, dass er den Stift wie eine Verlängerung seiner Faust einsetzen solle. »Versuchen Sie nicht, den Gegner damit aufzuschlitzen. Stoßen Sie einfach zu. Rein. Raus. Rein. Raus. Die Kraft für die Bewegung kommt von hier«, sagte er und legte sich die Hand auf die Brust.

Dann war Jonathan an der Reihe. Blitzschnell stürzte er sich auf Amman, der nur mit seinen ausgezeichneten Reflexen verhindern konnte, dass Jonathan ihm mit dem Kugelschreiber ein Auge ausstach.

Aus der Kreditkarte wurde eine scharfe Klinge, die dem unachtsamen Gegner die Kehle durchtrennen konnte. Mit einem gezielten Wurf des schweren Wälzers an die Schläfe konnte man den Gegner ausknocken.

Irgendwann gesellte sich Danni zu ihnen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Jonathan, wie von Daeniken ein paar Worte mit ihr wechselte und Dannis Lippen sich zu einem flüchtigen Lächeln verzogen.

»Ich überlasse jetzt Danni das Feld«, sagte Amman, nachdem sie alle Gegenstände auf dem Tisch durchgegangen waren. »Hals und Beinbruch. Verglichen mit ihr sind wir blutige Anfänger. Nehmen Sie sich also in Acht.«

Kurz nachdem Amman und Schmid gegangen waren, verließ auch von Daeniken die Halle. Danni streifte sich die Schuhe von den Füßen und ging zu einer der Matten. »Gibt es noch etwas, was ich über dich wissen sollte?«, hakte sie nach, während sie sich die Haare aus der Stirn strich und zu einem Pferdeschwanz zusammenband. »Wie es aussieht, bist du ein echtes Naturtalent.«

»Wohl kaum«, wiegelte Jonathan ab. »Als ich jünger war, habe ich mich ganz gerne mit anderen herumgeprügelt. So habe ich gelernt, ganz gut mit den Fäusten umzugehen. Der einzige Vorteil einer verkorksten Jugend.«

»Verkorkste Jugend? Du? Ich glaube dir kein Wort.«

»Ja, ja. Zum Glück sind wir ja alle groß und vernünftig geworden.« Jonathan hockte sich im Schneidersitz auf die Matte und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. »Und was kommt als Nächstes? Armdrücken?«

»Nicht ganz.« Danni setzte sich neben ihn. »Alles, was Amman und Schmid dir gerade gezeigt haben, war in erster Linie zur Selbstverteidigung gedacht. Dinge, mit denen du dich schützen kannst, wenn du gerade keine andere Waffe zur Hand hast. Aber das ist nicht mein Spezialgebiet.«

Ihre Zurückhaltung ließ Jonathan stutzig werden. »Und was ist dein Spezialgebiet?«

Danni starrte stur geradeaus. »Wie sich gezeigt hat, bin ich ziemlich gut darin, Leute zu töten.«

»Leute zu töten? Du meinst, wie ein Auftragskiller? Ist das dein Ernst?«

»Den Begriff Auftragskiller gibt es bei uns nicht«, antwortete sie kühl und blickte Jonathan fest in die Augen. »Ich kann all das, was ich dir beigebracht habe. Passwörter und Computer ausspionieren, Verfolger ausfindig machen und jedes Schloss der Welt in weniger als zwei Minuten knacken. Aber meine Regierung setzt mich lieber für andere Aufgaben ein.«

»Und wir sind hier nicht allein, um da weiterzumachen, wo wir gestern im Training aufgehört haben?«

»Nein.«

»Du bist also hier, um …« Jonathan überließ es Danni, den Satz zu beenden.

»Ich soll dir beibringen, wie du einen Menschen schnell und lautlos töten kannst.«

»Soweit ich weiß, soll ich in Pakistan Informationen beschaffen. Von Töten war nie die Rede.«

»Bei deinem Gespräch mit Connor lagen die Dinge auch noch etwas anders.«

»Jetzt geht es also darum, jemanden umzubringen?«, fragte Jonathan.

»Betrachte es einfach als reine Vorsichtsmaßnahme«, entgegnete Danni, aber der Ausdruck in ihren Augen sagte etwas ganz anderes.

»Hat Connor etwas über meine Frau herausgefunden? Wird sie gefangen gehalten? Ist sie in Gefahr?«

»Ich weiß nichts über deine Frau.«

»Worum geht es dann? Komm schon, Danni. Ich meine, versetz dich mal in meine Lage. Connor kann doch nicht im Ernst von mir verlangen, dass ich jemanden umbringe. Sich selbst zu verteidigen ist eine Sache, aber das hier geht mir echt eine Spur zu weit.«

Mit einem Satz sprang Jonathan auf und eilte mit großen Schritten zum Ausgang. Danni lief ihm nach und versuchte, ihn an den Händen zurückzuhalten. »Lass mich doch wenigstens ausreden.«

»Was gibt es denn da noch zu reden? Allein schon die Vorstellung ist absurd. Ich bin Arzt. Ich töte keine Menschen, ich rette sie.«

»Es wäre aber nicht das erste Mal, dass du jemanden umbringst. Das weiß ich von Connor.«

»Das war reine Notwehr.«

»Und die Sache mit General Austen in Zürich? Soweit ich weiß, hast du damals zwei Menschen erschossen, und das war alles andere als Notwehr.«

»Zugegeben, aber ich hatte keine andere Wahl.«

»Und wenn du dieses Mal auch keine Wahl hast?«

»Das war damals etwas anderes. Es ging um ein Flugzeug. Sie wollten Hunderte unschuldige Menschen töten, genau in dem Moment, quasi vor unseren Augen.«

»Das erleichtert einem die Sache enorm, nicht wahr? Ich meine, wenn man keine Zeit zum Nachdenken hat.«

Jonathan schüttelte ihre Hände ab und verzog sich in die hintere Ecke der Halle. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Aufgewühlt strich er sich mit der Hand über die Stirn. Es kam ihm so vor, als wäre er blind gewesen. Zum ersten Mal konnte er deutlich erkennen, auf was er sich da eigentlich eingelassen hatte. »Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Warum habe ich mich nur auf Connors Vorschlag eingelassen? Ich muss komplett verrückt gewesen sein. Posttraumatische Belastungsstörung oder so. Die ganzen letzten Tage – das Training in Israel, das Ausschauhalten nach dir und deinen Leuten auf der Straße, das Gedächtnistraining, das Beschatten von Dr. Revy. Was wollte ich damit nur beweisen? Ich passe einfach nicht in eure Welt. Ich bin kein Spion oder Agent oder wie auch immer ihr euch selbst nennt.«

Danni kam langsam auf ihn zu und blickte ihm dabei fest in die Augen. Alles an ihr wirkte entschlossen, und Jonathan wusste, dass sie nicht länger versuchen würde, ihn mit ihren Überredungskünsten zu überzeugen. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme ruhig und bestimmt, und Jonathan kam sich fast wie ein Kleinkrimineller vor, dem sie die Waffe abschwatzen wollte. »Und was wäre, wenn das Leben von noch mehr Menschen auf dem Spiel stünde? Wenn es nicht um mehrere hundert, sondern um mehrere tausend Menschen ginge?«

»Ganz gleich, um wie viele Menschen es geht, wenn Connor tatsächlich glaubt, dass ich jemanden einfach so töte, dann spinnt er.«

»Aber wenn niemand außer dir für diese Sache in Frage kommt?«

»Das ist nicht mein Problem.«

»Meinst du nicht, dass jeder sich damit auseinandersetzen sollte?«, hielt Danni dagegen. »Oder glaubst du im Ernst, dass mir so etwas Spaß macht? Am Anfang habe ich mich genauso gefühlt wie du. Damals war ich einundzwanzig. Ich wusste, wie man ein Maschinengewehr abfeuert und einen Hindernisparcours bewältigt. Aber Menschen umbringen? Das einzige Lebewesen, das ich bis dahin in meinem Leben getötet hatte, war eine Ente, die ich auf der Jagd mit meinem Onkel erschossen habe, und danach habe ich mich eine Woche lang hundsmiserabel gefühlt. Ich konnte nicht fassen, dass sie so etwas Ungeheuerliches von mir verlangten. Ich bin doch keine Mörderin. Aber meine Ausbilder glaubten, dass ich das Zeug dazu hätte. Nicht, weil ich böse bin, sondern eher wegen einer gewissen Unnachgiebigkeit, also vielleicht einer gewissen Kälte und Kompromisslosigkeit. Ich habe mich noch nie vor einer Aufgabe gedrückt, egal, wie schwierig sie war. Meine Stärke besteht darin, mir nicht immer den Kopf zu zerbrechen, sondern einfach zu tun, was getan werden muss. Zu viel Nachdenken ist oft hinderlich. In diesem Punkt sind wir uns sehr ähnlich, Jonathan. Auch du kannst es schwer ertragen, wenn eine Sache nicht bis zum Schluss durchgezogen wird. Genau deswegen bist du hier.«

»Ich bin hier, weil ein Mann meine Frau gefoltert hat und ich vielleicht dafür sorgen kann, dass dieser Mann und seine Kumpanen niemandem je wieder so etwas antun können.«

»Nein, deswegen bist du nicht hier. Du möchtest herausfinden, ob du ihr das Wasser reichen kannst.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Ach ja? Du willst austesten, ob du in der Lage bist, das zu tun, was sie getan hat, und ob du dabei so gut bist wie sie.«

»Nein, das stimmt nicht.«

Danni legte ihm die Hand auf die Wange. »Du bist hier, weil du sie immer noch liebst.«

Jonathan schüttelte ihre Hand ab. Er wollte ihre Worte Lügen strafen und ihr zurufen, dass sie sich irrte. Aber er konnte es nicht. Wortlos wandte er das Gesicht ab und setzte sich wieder hin. Danni hockte sich mit gekreuzten Beinen neben ihn. »Wenn du noch Fragen hast, solltest du dich damit an Connor wenden.«

Überrascht schaute Jonathan sie an. »Connor kommt hierher?«

»Er kommt heute Nachmittag, um dir letzte Anweisungen mit auf den Weg zu geben. Du reist noch heute Abend ab.«

»Heute Abend?«

»Genauer gesagt, um acht Uhr dreißig.«

»Aber …« Doch die Worte wollten ihm plötzlich nicht mehr über die Lippen kommen, und Jonathan fragte sich, ob Danni ihm die Angst im Gesicht ansehen konnte.

Danni zog ein langes schmales Messer aus einer Geheimtasche in ihrer Hose. Die Klinge schimmerte silbrig. »Wir sollten besser anfangen«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin, um ihn hochzuziehen. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«