1.

Provinz Kabul, Afghanistan
In der Gegenwart

Bei Tagesanbruch brachten sie sich in Stellung.

Männer, Pferde und Wagen bildeten auf dem ausgedörrten braunen Boden eine hundert Meter breite Angriffslinie. Neben den Reitern und Jeeps waren auch Pick-ups mit schweren Maschinengewehren auf den Ladeflächen. Sie waren nur fünfzig Mann gegen ein Dorf mit hundertmal so vielen Einwohnern, aber sie waren bis zum Äußersten entschlossene Krieger, geeint in dem Bund, im Auftrag Gottes zu töten. Die Söhne des Tamerlan.

Der Anführer stand auf der Ladefläche seines Pick-ups und beobachtete das Dorf durch ein Fernglas. Er war groß und athletisch gebaut. Auf dem Kopf trug er einen hohen schwarzen Wollturban. Das herabhängende Ende des Stoffes hatte er sich zum Schutz gegen die beißende Kälte fest über Mund und Nase gewickelt. Sein Name war Sultan Haq, und er war dreißig Jahre alt. Sechs Jahre seines Lebens hatte er in Haft verbracht. Dreiundzwanzig Stunden am Tag war er damals an einem heißen Ort Tausende Kilometer von hier entfernt in einen engen sauberen Käfig gesperrt gewesen. In Anlehnung an seinen Namen und weil seine Fingernägel so lang und scharf waren wie die Krallen eines Raubvogels, hatten seine Peiniger ihn »Habicht« genannt.

Aufmerksam betrachtete der Habicht die gedrungenen Lehmhäuser, die sich in zwei Kilometer Entfernung an den Fuß des Berges schmiegten. Trotz des Frühnebels konnte er das geschäftige Treiben auf dem Dorfbazar erkennen. Verkäufer legten ihre Waren aus, über Kohlefeuern brutzelten zahlreiche zum Verkauf angebotene Speisen, Kinder und Hunde tollten durch die Gassen.

Sultan Haq ließ das Fernglas sinken und warf einen prüfenden Blick auf seine Männer. Rechts und links neben ihm standen jeweils sechs nahezu identische Pick-ups, alte Allrad-Toyotas, mit je einem 30-mm-Maschinengewehr. Seine Männer hockten mit geladenen Kalaschnikows und umgehängten ledernen Patronengurten daneben. Etliche von ihnen hatten noch Panzerfäuste aus der Zeit der Sowjetunion. Zwischen den Wagen scharrten gut zwanzig Pferde mit Schaum vor den Nüstern nervös mit den Hufen. Die Reiter hielten ihre tänzelnden Pferde fest am Zügel und warteten geduldig auf das Signal zum Angriff.

Keiner der Männer trug eine Uniform. Ihre Kleidung war zerlumpt und staubig. Trotzdem bildeten sie eine stolze Armee. Sie waren zusammen ausgebildet und gedrillt worden. Sie hatten gemeinsam gekämpft und Blut vergossen. Sie waren Kämpfer ohne die geringste Spur von Mitgefühl.

Sultan Haq hob die Hand. Sofort entsicherten die Schützen die MGs. Das metallische Klicken der Waffen hallte bedrohlich über die Einöde. Die Pferde wieherten verängstigt. Haq ballte die Faust. Seine Männer stießen einen wilden Kriegsschrei aus und sprangen auf. Haq warf den Kopf zurück und stimmte in das Gebrüll mit ein. Er spürte, wie der Geist seiner Ahnen von ihm Besitz ergriff. Vor seinem inneren Auge sah er die angreifende Horde. Das Donnern der Hufe dröhnte ihm in den Ohren, die gezückten Schwerter blitzten in der Morgensonne, und der beißende Geruch der brennenden Hütten erfüllte die Luft. Die angsterfüllten Schreie der Besiegten mischten sich unter das Triumphgebrüll der Krieger, und der süße Geschmack des Todes legte sich ihm auf die Zunge.

Haq öffnete die Augen und kehrte zurück in die östlichen Steppen Afghanistans. Kraftvoll schlug er mit der Faust auf das Dach seines Pick-ups. Der Fahrer ließ den Motor aufheulen und jagte mit dem Wagen über das vor ihnen liegende Brachland. In nur wenigen Monaten, wenn der Mohn zum Leben erwachte, würde hier alles in voller Blüte stehen. Vergangenes Jahr waren auf diesen Feldern dreitausend Kilogramm Rohopium geerntet worden, mit einem Reingewinn von mehreren Millionen Dollar für die Bauern. Mehr als genug, um eintausend Männer bis an die Zähne zu bewaffnen.

Das Dorf musste unbedingt in die Hand der Taliban fallen. Nicht so sehr aus religiösen, vielmehr aus ökonomischen Gründen.

Ein Geschoss pfiff über Haqs Kopf hinweg, und einen Sekundenbruchteil später hörte er auch den Knall. Unbeeindruckt beobachtete er, wie die Männer im Dorf zu den Waffen griffen und sich hastig in Stellung brachten. Doch er erteilte seinen Kriegern noch immer nicht den Befehl, das Feuer zu erwidern.

Sekunden später war die Steppe erfüllt vom Lärm unzähliger Schüsse. Bleisalven schossen durch die Luft wie ein aufgebrachter Schwarm Bienen. Ein Schuss durchschlug die Windschutzscheibe des Pick-ups, der neben Haq fuhr. Aus den Augenwinkeln sah Haq, wie das Blut des Fahrers auf die von Sprüngen übersäte Scheibe spritzte. Im nächsten Moment geriet der Wagen außer Kontrolle und fiel zurück.

»Feuer«, befahl Haq seinen Männern über das Funkgerät.

Die erste Granate landete mitten auf dem Dorfbazar. Eine Staubwolke schoss in den Himmel. Eine zweite Granate explodierte, gefolgt von einer dritten. Die bewaffneten Männer des Dorfes wussten nicht, auf was sie schießen sollten, und gaben nach und nach auf.

Der Habicht beobachtete ihren Rückzug mit Genugtuung. Er hatte zwei Trupps südlich der Siedlung am Hang platziert, die das Dorf von hinten unter Beschuss nehmen sollten, während er mit seinen Männern von vorne angriff. Es handelte sich um ein klassisches Hammer-und-Amboss-Manöver aus dem Handbuch der Infanterie-Taktik der US-Army. Ironischerweise war ihm das Handbuch ausgerechnet in der Gefängnisbibliothek in die Hände gefallen. Er hatte sich den Text und die Illustrationen genauestens eingeprägt.

Der Pick-up holperte über eine kleine Anhöhe. Dahinter tauchte das Dorf in voller Größe auf. Dort herrschte das blanke Chaos. Männer, Frauen und Kinder flohen in alle Richtungen und suchten vergeblich nach einem Versteck. Haq drehte sich zu dem Mann am Maschinengewehr um und tippte ihm leicht auf die Schulter. Wie auf Kommando feuerte der Mann eine Salve ab und gab damit den Schützen auf den anderen Wagen das Signal, den Dorfbewohnern mit gezieltem Beschuss den Fluchtweg abzuschneiden. Etliche der Fliehenden sanken blutüberströmt zu Boden. Die Wände von Läden und Häusern wurden durchsiebt und stürzten in sich zusammen. Aus einer der Hütten loderten Flammen.

Mit einer Hand umklammerte Haq ein Remington-Scharfschützengewehr, das er in einem Kampf erbeutet hatte. Es war eine sehr präzise Waffe mit poliertem Ahornschaft. Auf dem Kolben waren die Worte »Barnes« und »USMC« eingraviert. Haq gab nur einen einzigen Schuss ab, aber mehr war auch nicht nötig. Als kleiner Junge hatte Haq Dickhornschafe in den zerklüfteten Bergen der nördlich gelegenen Provinz Kunar gejagt. Er war ein ausgezeichneter Schütze.

Er erteilte dem Fahrer des Pick-ups den Befehl, langsamer zu fahren, und hob das Gewehr an die Schulter. Mithilfe des Zielfernrohrs suchte er nach einem geeigneten Opfer. Er entschied sich für einen jungen Mann, der mit einer Frau an der Hand in die Berge zu fliehen versuchte. Haq krümmte den Finger um den Abzug und drückte ab. Der junge Mann fiel zu Boden. Zufrieden signalisierte Haq dem Fahrer, dass er aufs Gas drücken solle. Der Pick-up jagte über eine letzte Anhöhe und erreichte schließlich das Dorf.

Todesmutig stellte sich ein älterer Mullah dem Wagen in den Weg. Mit wild fuchtelnden Armen rief er: »Halt.«

Haqs Fahrer brachte den Wagen neben dem alten Mann zum Stehen. Der Habicht sprang von der Ladefläche und verkündete mit lauter Stimme: »Dieses Dorf untersteht ab sofort meinem Befehl. Alle hier werden widerstandslos den Anweisungen von Abdul Haq und des Haq-Clans Folge leisten.«

Der alte Mann nickte zerknirscht. Tränen liefen ihm über die zerfurchten Wangen. »Ich ergebe mich.«

Haq hob den Arm. »Feuer einstellen!«

Er wartete, bis seine Soldaten die Bewohner an einem Brunnen in der Mitte des Dorfplatzes zusammengetrieben hatten. Als alle versammelt waren, zwang er den Alten auf die Knie, presste ihm den Lauf seiner Waffe an die Schläfe und drückte ab.

Dann trat er einen Schritt zurück und zog eine Liste mit Namen aus der Tasche. »Wer von euch ist Abdullah Masri?«, rief er.

Totenstille. Der Habicht nahm einen Mann mit spärlichem Bartwuchs ins Visier und schoss ihn kaltblütig nieder. Dann wiederholte er die Frage. Ein kräftig gebauter Mann trat aus einem Laden, in dem neben japanischen Fernsehern DVDs mit westlichen Filmen verkauft wurden.

»Bist du Masri?«, fragte Haq.

Der Mann nickte.

Seelenruhig schob Haq eine neue Patrone in den Lauf seines Gewehrs. Dann hob er die Waffe, zielte auf den Kopf des Mannes und drückte ab.

»Wer von euch ist Muhammad Fawzi?«

Nacheinander ließ Haq alle Honoratioren des Dorfes vortreten und exekutierte sie. Er erschoss den Dorflehrer, den Besitzer des Lebensmittelgeschäfts, einen Homosexuellen und eine angebliche Ehebrecherin. Monatelang hatte er das Dorf sorgfältig ausspioniert und sich auf diesen Moment vorbereitet.

Schließlich blieb nur noch eine Sache zu tun.

Mit einem Satz sprang der Habicht auf den Beifahrersitz des Pick-ups und deutete auf ein großes weiß getünchtes Gebäude, in dem die Schule untergebracht war. Wie fast alle Häuser hier war es aus Lehm und Stein errichtet worden. Haqs Fahrer setzte den Wagen rückwärts vor eine Wand des Schulhauses. Ein zweiter Wagen stellte sich neben ihn. Auf das Signal des Anführers rammten beide Pick-ups mit dem Heck das Schulhaus, setzten vor und wieder zurück, so lange, bis die Wand in sich zusammenstürzte. Dann fuhren die Pick-ups zur nächsten Wand. Auf diese Weise machten sie die Schule dem Erdboden gleich.

Anschließend suchten Haqs Männer aus den Trümmern alle Bücher, Hefte und Unterrichtsmaterialien zusammen, die sie finden konnten, und warfen sie auf einen Haufen. Haq holte einen Kanister aus dem Pick-up und übergoss alles mit Benzin.

Als er den Haufen anzünden wollte, stürzte ein Junge aus der Menschenmenge nach vorn und rief verzweifelt: »Halt. Wenn ihr die Bücher verbrennt, können wir nicht mehr lernen.«

Mit kaltem Blick musterte Haq den mutigen Jungen. Was sein Interesse weckte, waren nicht dessen beherzte Worte, sondern der Castverband an dessen linkem Arm. Soweit Haq informiert war, gab es im Dorf lediglich eine einfache Krankenstation. Verletzungen wie diese wurden überall im Land nur mit einem Gipsverband ruhiggestellt. Einen so modernen Glasfaserverband wie diesen hatte er in seinem ganzen Leben nur einmal zuvor gesehen. »Woher hast du den?«, fragte er den Jungen und legte ihm eine Hand auf den verletzten Arm.

»Vom Heiler«, sagte der Junge.

Haq wurde hellhörig. Von einem Heiler, der sich in diesem Teil Afghanistans aufhielt, wusste er nichts. »Wer ist dieser Heiler?«

Der Junge wich seinem Blick aus.

Mit eisernem Griff packte Haq ihn am Kinn. Seine scharfen Nägel hinterließen lange rote Kratzer auf der Wange des Jungen. »Wer ist er?«

»Ein Kreuzritter«, meldete sich jemand aus der Menge zu Wort.

Haq wandte sich aufgebracht um. »Ein Kreuzritter? Bei uns? Allein?«

»Er hat einen Assistenten bei sich. Einen Hazara, der sich um seine Tasche mit Medikamenten kümmert.«

»Ist dieser Heiler Amerikaner?«, wollte Haq wissen.

»Er kommt aus dem Westen«, erwiderte ein anderer. »Er spricht Englisch und ein wenig Paschto. Wir haben ihn nicht gefragt, ob er Amerikaner ist. Er macht viele Leute gesund. Er hat das Magenleiden des Khan kuriert und das Knie meiner Kusine geheilt.«

Haq ließ den Jungen los und stieß ihn unsanft von sich weg. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, aber es gelang ihm, seine Erregung hinter dem Wutausbruch zu verbergen. »Wo ist er jetzt?«

Ein alter Mann deutete mit der Hand auf die Berge. »Da oben.«

Nachdenklich betrachtete Haq die steilen Ausläufer des gewaltigen Hindukusch. Dann schleuderte er mit einem gezielten Wurf ein brennendes Feuerzeug auf die aufgetürmten Bücher, machte auf dem Absatz kehrt und ging unbeeindruckt von den auflodernden Flammen zurück zu seinem Wagen.

»Fahr los«, wies er den Fahrer an. »In die Berge.«