21.

»Zuallererst werde ich Ihnen beibringen, wie Sie von A nach B kommen, ohne verfolgt zu werden. Dazu müssen Sie vor allem zwei Dinge beherrschen: Zum einen brauchen Sie ein scharfes Auge, um zu erkennen, wer Ihnen folgt, und zum anderen müssen Sie schnell und geschickt Ihre Verfolger abschütteln können.«

Es war zehn Uhr morgens am Tag nach Jonathans Ankunft in Israel. Danni und er standen an der Straßenecke Ramat Gan und Ben Gurion mitten im Geschäftsviertel von Tel Aviv. Um Danni im Lärm des Straßenverkehrs überhaupt verstehen zu können, musste sich Jonathan ganz nah zu ihr rüberbeugen. Auf den Bürgersteigen wimmelte es von Kauflustigen, und alle schienen es furchtbar eilig zu haben.

»Wir beginnen mit einem einfachen Test«, fuhr Danni fort. »Ich möchte, dass Sie die Straße überqueren und dann etwa bis zur Hälfte des Blocks weitergehen, bevor Sie auf dieser Seite zurückkehren. Danach gehen Sie noch ein Stück weiter die Straße hinunter bis zur Ampel. Dort warten Sie auf uns.«

Jonathan schätzte die Entfernung mit Blicken ab. »Das sind ja noch nicht mal zweihundert Meter.«

»Das dürfte für den Anfang reichen«, erwiderte Danni. Sie hatte ihre Dienstmädchenuniform gegen eine Jeans, ein weißes Tanktop und eine schwarze Designersonnenbrille ausgetauscht. »Vier Personen werden Ihnen folgen. Alle sind von hier aus gut zu erkennen. Schauen Sie sich die Menschen in Ihrer Umgebung genau an, und prägen Sie sich die Gesichter ein.«

Jonathan suchte sich eine Lücke in der Nähe, von der aus er beide Straßenseiten gut überblicken konnte.

»Was machen Sie denn da?«, fragte Danni und zerrte ihn am Arm zurück.

»Na das, was Sie mir aufgetragen haben. Ich schaue mir die Menschen in meiner Umgebung genau an.«

»Und jeder Einzelne von ihnen kann sehen, was Sie vorhaben. Ihre Art, die Leute anzustarren, ist in etwa so unauffällig wie ein Novize in einem Striplokal. Passen Sie genau auf.«

Danni schlenderte unauffällig bis zur Kreuzung und stellte sich neben eine gedrungene Frau mittleren Alters mit zwei Bast-Shoppern in den Händen. Nachdem sie mit der Frau ein paar Worte gewechselt hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Einmal kratzte sie sich beiläufig am Kopf. Als die Fußgängerampel auf Grün schaltete, überquerten alle bis auf Danni die Straße.

»So macht man das«, sagte Danni, nachdem sie zu Jonathan zurückgekehrt war.

»Was denn? Abgesehen von der Frau und dem Bürgersteig direkt vor Ihnen haben Sie doch nichts und niemanden angeschaut.«

»Stimmt genau.« Während sie den Blick fest auf Jonathans Gesicht gerichtet hielt, fuhr sie fort: »Auf der anderen Straßenseite bei der Kebab-Bude steht ein Mann mit Jeans und rotem T-Shirt. Ein anderer Typ wartet in seiner Nähe an der Kreuzung auf Grün. Dunkler Anzug, Sonnenbrille, kurzgeschorene Haare. Er schaut ständig auf seine Armbanduhr. Schräg gegenüber von uns sind zwei junge Mädchen im Alter von fünfzehn oder sechzehn, die, solange wir hier stehen, immer den gleichen Ständer mit T-Shirts durchsuchen.«

Ohne hinzusehen, beschrieb Danni alle Passanten in ihrer unmittelbaren Umgebung, egal, ob sie standen, saßen oder sich bewegten. Jonathan hatte keine Mühe, sie in der Menge ausfindig zu machen, und staunte über Dannis Gabe, sich selbst an die kleinsten Details zu erinnern. »Und wer von diesen Leuten ist nun hinter mir her?«, erkundigte er sich schließlich.

»Das ist doch unwichtig. Ich wollte Ihnen nur deutlich machen, dass Sie Ihre Umgebung beobachten müssen, ohne direkt hinzuschauen. Halten Sie sich an Schaufenster oder Seitenspiegel von vorbeifahrenden Autos. Wenn Sie etwas Zeit brauchen, um sich umzusehen, tun Sie es so unauffällig wie möglich. Sie können zum Beispiel stehen bleiben, um sich die Schuhe zuzubinden. Vertrauen Sie Ihren Instinkten, denn sie nehmen oft mehr wahr als nur das Auge. Versuchen Sie, Ihren Kopf freizukriegen. Verbessern Sie Ihr Gehör. Spüren Sie, was um Sie herum passiert.«

»Ich dachte, ich bin hier in Israel und nicht in Japan. Das ist fast wie Zen.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Schärfen Sie Ihre Sinne. Im Augenblick sind Ihre Sinne so abgestumpft wie ein Buttermesser.«

»Wie soll man bei diesem Lärm und diesen Menschenmassen denn bitte seine Sinne schärfen? Man kann ja kaum sein eigenes Wort verstehen, geschweige denn sich auch nur einen Meter voranbewegen, ohne von irgendjemandem angerempelt zu werden.«

Wie aufs Stichwort raste ein Streifenwagen mit heulenden Sirenen an ihnen vorbei. Jonathan trat unwillkürlich einen Schritt vom Straßenrand zurück, musste aber feststellen, dass niemand außer ihm sich so verhielt.

»Jetzt sind Sie dran«, sagte Danni mit vor der Brust verschränkten Armen. »Hundert Meter bis zur Ampel dort hinten. Auf der Hälfte der Strecke überqueren Sie die Straße. Die Aufgabe lautet, die Personen ausfindig zu machen, die Ihnen folgen. Und lassen Sie sich nichts anmerken.«

Jonathan hatte Glück. Die Fußgängerampel in ihrer Nähe schaltete eben auf Grün, und die Menschen vor ihnen auf dem Bürgersteig wechselten auf die andere Straßenseite hinüber. Jonathan beeilte sich, ihnen zu folgen. Vier Personen waren ihm auf den Fersen. Er drehte den Kopf bis zur Schulter, zwang sich aber sofort, wieder nach vorne zu blicken. Beobachte deine Umgebung nur aus den Augenwinkeln. Jonathan versuchte, sich so gut wie möglich daran zu halten. Die jungen Mädchen neben dem T-Shirt-Ständer schienen ihn von der anderen Straßenseite aus anzuschauen. Der Geschäftsmann im dunklen Anzug telefonierte mit seinem Handy. Sein Blick blieb an einer schwangeren Frau und einem Jungen mit Lakers-Käppi hängen. Möglicherweise waren sie es, die ihn verfolgten. Danni dachte vielleicht, dass er niemals einen Jungen verdächtigen würde, der eine amerikanische Basketballkappe auf dem Kopf trug. Als Jonathan die Straße überquert hatte, stieß er auf dem Bürgersteig fast mit zwei Chassidim zusammen und stellte erschrocken fest, dass er sich beim Betrachten der Leute fast den Hals verrenkte.

Auf dem Bürgersteig kam er in der Menge der zahllosen Passanten nur im Schneckentempo voran. Mit eingezogenem Kopf bahnte sich Jonathan einen Weg durch die Menschen und versuchte, nicht stecken zu bleiben. Nach ein paar Metern hatte er die jungen Mädchen aus den Augen verloren. Auch von dem Geschäftsmann war weit und breit nichts mehr zu sehen. Sosehr sich Jonathan auch anstrengte, er fand in der Menge kein einziges vertrautes Gesicht mehr. Vollkommen entmutigt gab er die Suche auf. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, auf seinem Weg mit niemandem zusammenzustoßen. Als er die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, trat er an den Straßenrand und wechselte bei der nächstbesten Gelegenheit im Laufschritt auf die andere Seite.

Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig war das Gedränge deutlich weniger stark. Jonathan ging in die Hocke, um sich die Schuhe zuzubinden, musste aber feststellen, dass er Slipper ohne Schnürsenkel trug. Verlegen tat er so, als müsste er etwas Schmutz von den Schuhen abwischen, und blickte sich dabei verstohlen nach beiden Seiten um. Doch alles, was er sah, waren Knie, Schuhe und Männer mit Bierbäuchen, die ihm unangenehm dicht auf die Pelle rückten. Frustriert stand er auf und setzte seinen Weg bis zum Ende des Blocks fort.

Vor einem Handyladen blieb er stehen und betrachtete die Auslage. Er hoffte, dabei in der Schaufensterscheibe einen seiner Verfolger zu entdecken. Doch die Sonne blendete ihn so sehr, dass er im gleißenden Licht niemanden erkennen konnte. Jonathan gab es auf und brachte die letzten Meter bis zur Ampel hinter sich. Dort angekommen, betrachtete er die Gesichter der vorbeieilenden Leute. Ohne Erfolg. Keiner von ihnen kam ihm bekannt vor.

»Na, und? Haben Sie Ihre Verfolger erkannt?«

Erschrocken fuhr Jonathan herum und entdeckte Danni, die unmittelbar hinter ihm stand. »Wie sind Sie …?«, stieß er überrascht hervor. »Wann sind Sie … ach, egal.«

»Es war ein bisschen zu offensichtlich, oder?«, fuhr Danni fort. »Sie stachen aus der Masse heraus wie ein Farbtupfer auf einem Schwarzweißbild.«

Jonathan musterte die Menschen in seiner Umgebung ein letztes Mal. »Das ist eine Fangfrage, oder? Niemand hat mich verfolgt.«

Dannis Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wirklich niemand?«

Jonathan drehte beschämt den Kopf zur Seite. Das Ganze war ihm peinlicher, als er zugeben wollte. »Tut mir leid.«

»Okay, dann werde ich sie Ihnen zeigen.« Danni deutete auf eine blonde Frau vor der Tür eines Musikgeschäfts. Einen Moment später gesellte sich eine andere Frau zu ihr. Etwas an den beiden kam Jonathan bekannt vor. Die Frauen zogen ihre Jacken aus, und eine der beiden löste ihren Pferdeschwanz. Jonathan erkannte, dass es die beiden jungen Frauen vor dem T-Shirt-Laden waren. Als Nächstes machte Danni Jonathan auf einen durchtrainierten Mann in einer Trainingsjacke und einer Sportmütze auf dem Kopf aufmerksam. Der Mann nahm die Mütze ab und stülpte die Innenseite seiner Trainingsjacke nach außen. Jonathan stellte fest, dass der Sportler und der eifrige Geschäftsmann ein und dieselbe Person waren.

»Ich habe Sie sogar schon vorher auf die drei aufmerksam gemacht«, sagte Danni. »Noch mehr konnte ich Ihnen wirklich nicht helfen.«

»Aber sie haben die Kleider gewechselt.«

»Das ist ein ganz verbreiteter Trick. Meine Mädchen ziehen sich oft eine Jacke über und binden sich die Haare hoch. Wenn Sie genauer hinsehen, können Sie feststellen, dass sie noch immer die gleichen Hosen und Schuhe anhaben.«

Jonathan fiel auf, dass die eine gelbe Shorts und Nike-Tennisschuhe trug und die andere eine weiße Caprihose mit farblich passenden Ballerinas. Er hatte nur auf Gesichter geachtet.

»Ihre Aufgabe ist es, die Dinge wahrzunehmen, die sich nicht verändern. Konzentrieren Sie sich nicht auf die Gesichter. Gesichter kann man leicht verändern. Prägen Sie sich die Schuhe oder Gürtel und alles, was Ihnen sonst noch besonders auffällig erscheint, ein.«

»Und wer war die vierte Person?«

»Das war ich. Ich war die ganze Zeit nur ein paar Schritte hinter Ihnen.«

»Unmöglich.«

»Keine drei Meter von Ihnen entfernt, und zwar auf der gesamten Strecke. Und ich habe mir noch nicht mal andere Sachen angezogen.«

»Aber …«

Danni warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Also, das Ganze noch mal von vorn.«