66.

Kriechend suchten Danni und Jonathan im hundert Meter entfernten Reparaturschuppen Schutz, wo sich die Soldaten vor dem Einsatz versteckt gehalten und auf das Signal zum Angriff gewartet hatten. Draußen dröhnte die Luft noch immer von den hochgehenden Mörsern, Granaten und der Schusswaffenmunition, und der Asphalt unter ihren Füßen erzitterte bei jeder neuen Explosion. Der Himmel war von den gewaltigen Rauchschwaden verdeckt, doch Jonathan dachte nur an die davonrasenden Jeeps. Atemlos stand er auf und sah sich hektisch nach dem nächstbesten Soldaten um.

»Ich muss sofort mit dem Kommandanten sprechen«, sagte er zu dem Soldaten. »Das ist ein Notfall. Ich habe gesehen, wie Haq in einem Jeep weggefahren ist.«

Der pakistanische Soldat kauerte mit einer Hand an seinem Helm vor ihm auf den Knien und sagte: »Sie müssen sich an Major Nichols wenden.« Dabei blickte er sich suchend um, konnte den Offizier aber nirgends entdecken. Schließlich setzte sich der Soldat über Funk mit Nichols in Verbindung und übermittelte ihm Jonathans Nachricht. »Der Major befindet sich noch draußen am Hangar. Aber er kommt so schnell wie möglich zu uns rüber.«

Zwei Minuten später kam von links ein Soldat mit eingezogenem Kopf zu ihnen herübergerannt.

»Ich bin Major Nichols«, stellte sich der Mann vor. Er war von Kopf bis Fuß Soldat der Delta Force: Bart, Oakley-Sonnenbrille, Stiernacken. »Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Ransom. Ich arbeite für die Regierung und bin mit Balfour hergekommen. Hören Sie, der Mann, den Sie suchen, ist …«

»Moment mal!«, brachte Nichols Jonathan mit erhobener Hand zum Schweigen. »Sind Sie Jonathan Ransom? Und Sie, Lady, sind Danni Pine?«

Danni nickte.

»Sie beide werden mich jetzt begleiten. Ich habe den Befehl, Sie sofort in Gewahrsam zu nehmen.«

»In Gewahrsam?«, erkundigte sich Danni misstrauisch. »Und weswegen?«

Major Nichols warf einen Blick auf einen kleinen Zettel in seiner Hand. »Ich soll Ihnen mitteilen, dass Frank Connor mit sofortiger Wirkung von seinem Posten als Leiter von Division enthoben worden ist. Da Sie beide bei der anstehenden Vernehmung und Untersuchung als Zeugen vernommen werden sollen, werden Sie bis auf Weiteres festgenommen.«

»Von seinem Posten enthoben? Warum?«, wollte Jonathan wissen.

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, Sir. Folgen Sie mir bitte.«

»Einen Moment«, sagte Jonathan in ruhigem, aber bestimmtem Ton. Major Nichols wirkte auf ihn wie ein intelligenter Mann, mit dem man reden konnte. »All das kann warten. Kurz bevor hier alles in die Luft flog, habe ich beobachtet, wie am anderen Ende des Hangars zwei Jeeps in Richtung der Frachtterminals abgehauen sind. Einer der Jeeps sah genauso aus wie der Wagen, in den Sultan Haq den Sprengkopf geladen hat.«

Beim Wort »Sprengkopf« horchte Nichols auf. »Haben Sie Haq mit eigenen Augen in einem der Wagen gesehen?«

»Dafür waren die Jeeps zu weit weg«, erwiderte Jonathan. »Warum fragen Sie? Haben Sie Haq im Hangar gefunden?«

Nichols musterte Jonathans zerschundenes Gesicht mit dem Schnitt unter dem Auge und dem Streifschuss oben am Ohr.

»Waren Sie der Verrückte, der wie wild durch den Hangar gelaufen ist, um Haq aufzuhalten?«

»Ja.«

Nichols stopfte den Zettel zurück in seine Brusttasche. »Nein«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Wir haben bislang weder Haq noch den Sprengkopf ausfindig machen können. Wegen der Explosion blieb uns keine Zeit, nach ihm und der Bombe zu suchen.«

»Er ist durch den Hinterausgang entwischt«, sagte Jonathan. Die Erinnerung an den Jeep war jetzt ganz deutlich. Auf den vorderen Sitzen hatten Männer in Uniform gesessen und auf der Rückbank ein unter einer Decke versteckter Mann. Jonathan schloss die Augen, um den Kopf freizubekommen und sich an so viele Details wie möglich zu erinnern, so wie Danni es ihm beigebracht hatte. Die Bilder vom Jeep und den Männern gewannen mehr und mehr an Kontur. Er zuckte zusammen und schlug die Augen auf. »Haq war in dem Jeep. Ich habe den Mann in Afghanistan kennengelernt und unfreiwillig einige Zeit mit ihm verbracht. Der Mann ist zu allem entschlossen. Er hat den Sprengkopf. Ich habe beobachtet, wie er die Bombe im Hangar auf den Jeep geladen hat.«

Nichols beugte sich näher zu Jonathan. »Sie haben gesehen, wie Haq den Sprengkopf in den Jeep verfrachtet hat? Ganz alleine?«

»Die Bombe wurde von zwei Atomphysikern, die für Balfour gearbeitet haben, auf handliche Größe gebracht. Ich habe sie sagen hören, dass die Bombe eine Sprengkraft von zwölf Kilotonnen hat. Sie sieht aus wie eine übergroße silberne Thermoskanne.«

»Aber wir haben doch das ganze Gelände abgeriegelt. Haq kann unmöglich entkommen sein.«

»Haben Sie seinen Leichnam gefunden?«, fragte Jonathan noch einmal.

»Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass wir Haq noch nicht haben«, antwortete Nichols zunehmend gereizt. »Ich lasse keinen meiner Männer auch nur in die Nähe des Hangars, um nach Haq und der Bombe zu suchen. Das muss bis morgen warten. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass niemand aus dem Hangar herauskommen konnte, außer durch das Haupttor.«

»Woher wollen Sie das wissen? Hat Ihnen das der gleiche pakistanische Offizier versichert, der mit Haq auf der Rückbank im Jeep weggefahren ist? Sie wissen doch, was man den pakistanischen Soldaten nachsagt, oder? ›Nicht käuflich, aber für die ein oder andere Schandtat immer zu haben‹.«

Jonathans Unverfrorenheit missfiel dem Major ganz offensichtlich, aber er war klug genug, der Sache auf den Grund zu gehen. »Oberst Pascha, bitte kommen«, sagte er in das Funkgerät an seinem Schultergurt. »Ihre Männer haben doch die Rückseite des Hangars abgeriegelt, nicht wahr?«

»Selbstverständlich«, meldete sich der pakistanische Offizier.

»Und von dort ist niemand weggefahren?«

»Negativ.«

Nichols warf Jonathan und Danni einen Blick zu. »Sind Sie da absolut sicher? Wir haben einen Zeugen, der kurz vor der Explosion zwei Jeeps vom Hinterausgang des Hangars hat wegfahren sehen, vermutlich mit Haq auf dem Rücksitz und der Atombombe auf der Ladefläche.«

»Jeeps? Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Er lügt«, sagte Jonathan.

»Halten Sie den Mund!«, fuhr Nichols ihn an. Dann wandte er sich wieder an Pascha. »Überhaupt nichts? Ich bin auch der Meinung, ich hätte bei Ihren Männern einen Jeep gesehen.«

»Das waren nur unsere eigenen Männer.«

»Der Mann lügt wie gedruckt«, sagte Jonathan und baute sich vor dem Major auf. »Ich habe sie gesehen. Haq war bei ihnen. Er war unter einer Decke auf dem Rücksitz. Glauben Sie dem Mann kein Wo r t.«

»Passen Sie mal auf, Cowboy«, erboste sich Nichols und packte Jonathan am Kragen. »Ich habe ein Jahr lang Seite an Seite mit diesem Mann gekämpft und trainiert. Er hat meinen Arsch mehr als einmal gerettet. Wenn er mir sagt, dass er niemanden dort gesehen hat, dann ist auch niemand dort durchgekommen. Verstanden?«

»Jetzt passen Sie mal auf«, konterte Jonathan und wich keinen Millimeter zurück. »Wenn ich Ihnen sage, dass ich Haq in dem Jeep gesehen habe, dann sollten Sie mir besser glauben. Oder wollen Sie etwa riskieren, dass er mit der Atombombe abhaut?«

Nichols sah von Jonathan zu Danni, während er nervös mit seinem Munitionsgurt spielte. »Mist«, sagte er schließlich. »Ich hoffe für Sie, dass Sie sich nicht getäuscht haben.«

»Ich habe mich nicht getäuscht.«

Nichols ließ Jonathan los. »Sie kommen mit.« Mit diesen Worten stapfte er zu einem in der Nähe geparkten Humvee und setzte sich hinters Steuer. »Sie sagten, sie fuhren in östlicher Richtung davon?«

»In Richtung der Frachtterminals. Ein schwarzer Jeep mit zwei pakistanischen Soldaten auf den Vordersitzen.«

Jonathan und Danni nahmen hinten Platz, und Nichols gab Gas. Im großen Bogen fuhr er um die brennenden Trümmer des Hangars herum. Während der Fahrt befahl er einigen seiner Soldaten über Funk, dass sie sich der Suche nach Haq anschließen sollten. »Wir sind auf dem Weg zum Ostteil des Flughafens. Frachtgutareal. Mir ist zu Ohren gekommen, dass einer der Schurken mit dem Sprengkopf durch den Hinterausgang getürmt ist. Verständigen Sie General Zoy. Er soll sofort den Flughafen abriegeln.«

»Das wird er niemals veranlassen.«

»Sagen Sie ihm, dass es sich um einen ausdrücklichen Befehl des US-Zentralkommandos handelt.«

»Entschuldigen Sie, Chef, aber vergessen Sie da nicht eine Kleinigkeit? Wir sind schließlich nicht zu Hause.«

»Das interessiert mich einen Dreck. Richten Sie ihm aus, dass es um eine Atombombe geht. Mal sehen, was er dazu sagt.«

Nichols warf einen Blick auf die Uhr und drehte sich dann zu Jonathan um. In seinen Augen lag ein so bedrohlicher Ausdruck, wie Jonathan ihn noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. »Dieser Hurensohn Haq hat einen Vorsprung von mindestens zehn Minuten. Warum zum Teufel haben Sie mich denn nicht früher informiert?«