33.

Wieder war es Vormittag, und wie an jedem Vormittag stand auch heute Gedächtnistraining auf dem Plan. Danni zog das weiße Tuch vom Tisch und gab das Kommando zum Start: »Los.« Jonathan blieben zehn Sekunden, um sich so viele Gegenstände wie möglich auf dem gut einen Quadratmeter großen Tisch zu merken. Am ersten Tag hatte Danni ihm dreißig Sekunden Zeit gelassen, am zweiten waren es nur noch zwanzig gewesen. In dem Maße, wie die Zeitspanne zum Betrachten und Einprägen der Gegenstände abnahm, nahm die Anzahl der Dinge auf dem Tisch zu. Danni bezeichnete diese Form des Gedächtnistrainings als »Erweiterung« und meinte damit, die Fähigkeiten des Gehirns wirklich bis an die Grenze zu nutzen. Für Jonathan, dessen fester Vorsatz es war, alle Aufgaben besser zu erledigen als alle anderen vor ihm, war diese Übung nichts weiter als »Bockmist«, denn es fiel ihm absolut nicht leicht, seine Trefferquote noch zu verbessern.

Zehn Sekunden.

Jonathan studierte die vollkommen unterschiedlichen Objekte auf dem Tisch und versuchte, sie sich systematisch einzuprägen, indem er jedem Gegenstand einen Buchstaben oder eine Zahl zuordnete. K für Kerze. N für Notizblock. 1 für das Handy, denn ein Handy war immer dabei, deshalb war es eine konstante Größe. (Andere konstante Größen waren die Geldbörse aus Krokodilleder: Nr. 2, eine Sonnenbrille: Nr. 3 und eine Packung Pfefferminzbonbons: Nr. 4.) Auf dem Tisch lagen so um die fünfundzwanzig Gegenstände. Einige von ihnen waren groß und deshalb leicht zu merken, wie zum Beispiel ein.45er-Colt. Aber Jonathan wusste inzwischen, dass eben diese Dinge nur deshalb da lagen, um ihn von den unauffälligen, aber wichtigen Gegenständen abzulenken. Darum nahm er sich immer zuerst Letztere vor und versuchte, sie sich ins Gehirn einzubrennen: ein als Stift getarnter USB-Stick, ein Zettel mit einer zwölfstelligen Telefonnummer (»Konzentrieren Sie sich auf die letzten acht Ziffern«, hatte Danni ihm geraten. »Um welches Land es sich handelt, kriegen wir auch so heraus.«), ein Foto von drei Männern und einer Frau (zwei der Männer waren dunkelhäutig und hatten kräftige Schnauzbärte, der dritte war kahlköpfig und hatte ein Muttermal auf der linken Wange. Die Frau hatte rote Haare, trug eine Sonnenbrille und war seltsamerweise oben ohne) und eine Visitenkarte mit arabischen Schriftzeichen.

Daneben lagen noch viele andere Dinge auf dem Tisch, beispielsweise ein Schraubenzieher oder ein Schlüsselbund. All diese Dinge speicherte Jonathan nach einem flüchtigen Blick im Kopf ab.

»Die Zeit ist um.«

Jonathan drehte sich mit dem Rücken zum Tisch, aber Danni breitete trotzdem das Tuch wieder über die Gegenstände, nur für den Fall, dass Jonathan auch im Hinterkopf Augen haben sollte.

Doch damit nicht genug. Um die Übung so realistisch wie möglich zu gestalten, ließ ihn Danni noch exakt zehn Minuten schmoren, bevor er die Dinge aufzählen durfte, die er sich gemerkt hatte. In diesen zehn Minuten diskutierten sie über die wichtigsten aktuellen Ereignisse aus der Morgenausgabe der Jerusalem Post. »Schubladendenken« lautete Dannis Fachbegriff dafür. Das Gedächtnis in einzelne, hermetisch abgeschottete Bereiche zu unterteilen, sicher voneinander getrennt und jederzeit einzeln abrufbar.

In den Schlagzeilen der heutigen Zeitung drehte sich fast alles nur um Krieg. Die israelische Flotte hatte sich Zugang zu einem Schiff, das unter ausländischer Flagge im östlichen Mittelmeer unterwegs gewesen war, verschafft und es konfisziert. Auf dem Schiff war ein wahres Höllenarsenal aus dem Iran gefunden worden, das für die Hisbollah in Syrien und dem Libanon bestimmt gewesen war.

»Wie lautet der Name des Schiffes, und aus welchem Land stammte es?«, wollte Danni wissen.

Jonathan erwiderte, ohne zu zögern: »Faring Rose. Aus Norwegen.«

Auf dem Tempelberg hatte es erneut gewalttätige Ausschreitungen gegeben. Mehr als zweihundert Polizisten waren ausgerückt, um die Lage unter Kontrolle zu bringen.

»Was ist die Ursache für all die Aufregung?«, hakte Danni nach.

»Die Palästinenser wollen Zugang zum Tempelberg haben.«

»Wer fordert das, und wer wehrt sich dagegen?«

»Die Partei der …«, setzte Jonathan an, gab aber sofort frustriert wieder auf. Die politische Lage in Israel hatte ihn schon immer verwirrt. Dass er jetzt hier war, änderte daran auch nichts. »Nächste Frage.«

Den Spielregeln zufolge mussten Jonathan und Danni sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Auf diese Weise konnte Jonathan keine Tricks anwenden, um sich später besser an die Dinge auf dem Tisch zu erinnern. Während Danni Schlagzeile für Schlagzeile mit ihm durchging, bemerkte Jonathan in ihren Gesichtszügen die unübersehbaren Anzeichen einer gewissen Kriegsmüdigkeit. Schlagzeilen wie die in der Jerusalem Post kannte er aus zahllosen Zeitungen, und er war mit den Jahren beim Lesen der Artikel mehr und mehr abgestumpft. Dannis trauriger Blick hingegen verriet, dass sie Geschichten wie diese nicht nur gelesen, sondern selbst erlebt und durchlitten hatte. Als Jonathan Dannis blaue Augen genauer betrachtete, fiel ihm auf, dass sie grün gesprenkelt waren. An diesem warmen Vormittag trug Danni Shorts mit einem Top, das so schwarz war wie ihre Haare. Make-up hatte sie nicht aufgelegt, nur eine leichte Pflege für die spröden Lippen, und sie verströmte einen schwachen Duft, der Jonathan an ein französisches Parfüm erinnerte. All diese Eindrücke ließen sich nicht einfach in einer Schublade verbannen. Jonathan konnte sich nicht dagegen wehren, dass sein Körper mit allen Sinnen reagierte, selbst wenn er es sich noch so sehr wünschte.

Ungerührt fuhr Danni fort. In Peshā an der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan waren zum gleichen Zeitpunkt drei Autobomben unmittelbar neben einem Militärstützpunkt explodiert. Diese Geschichte hatte Jonathan besonders aufmerksam verfolgt. »Wie viele Todesopfer gab es?«, wollte Danni wissen.

»Sechzig, den offiziellen Angaben zufolge, und dreihundert Verletzte. Beide Zahlen müssen vermutlich noch nach oben korrigiert werden.«

»Wer hat sich zu dem Anschlag bekannt?«

»Ein Warlord der Taliban.«

»Und der Name?«

»Sultan Haq. Die Bombenattentate waren ein Vergeltungsschlag, um den Mord an seinem Vater zu rächen. Ich war übrigens dabei, als Haqs Vater in der Höhle ermordet wurde, und habe mit eigenen Augen gesehen, wie er starb.«

Danni musterte ihn scharf. »Sie kennen Haq?«

»Unmittelbar bevor ich hierherkam, bin ich ihm begegnet.«

»Haq war in Guantánamo«, sagte Danni mit hasserfüllter Stimme. »Ihr habt den Falschen laufen lassen.«

»Sieht ganz so aus.«

Kommentarlos fuhr Danni fort, die aktuellen Schlagzeilen abzufragen. »Wer hat den Sprengstoff geliefert?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, musste sich Jonathan geschlagen geben. »Wissen Sie, wer’s war?«

»Nein, aber das spielt auch gar keine Rolle. Wenn Balfour nicht der Lieferant war, dann war es eben jemand anderes. Noch so eine miese Kakerlake, die zertreten werden muss. Aber Ihr Zielobjekt ist Balfour. Wir sollten nicht vergessen, warum Sie eigentlich hier sind.«

Jonathan spürte, dass sein Herz schneller schlug, und er hatte das Gefühl, er sei seinem Ziel einen entscheidenden Schritt näher gekommen.

»Sind Sie so weit?«, fragte Danni. »Dann schießen Sie mal los.«

Ohne ihrem Blick auszuweichen, zählte Jonathan die Gegenstände auf, an die er sich erinnern konnte. Es waren einundzwanzig. Nur der Füller, die Visitenkarte mit arabischer Schrift und eine Mandarine fehlten. Außerdem hatte er die letzten beiden Ziffern der Telefonnummer auf dem kleinen Zettel vertauscht.

»Nicht übel«, lobte Danni. »In fünf Minuten brechen wir auf in die Stadt. Vielleicht gelingt es Ihnen ja dieses Mal, einen Ihrer Verfolger zu identifizieren. Obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht so recht daran glaube.«

Den ersten Verfolger entdeckte Jonathan fast auf Anhieb. Er war jung und schlaksig mit einer wilden Lockenmähne und zerfledderten Jeans, und er machte auf Jonathan den Eindruck, als ob er die ausgestellten Waren in den Schaufenstern ein wenig zu angestrengt begutachtete. Ein Sportler mochte sich vielleicht für die ausgestellten Angelruten interessieren, doch derselbe Mann würde wohl kaum mit dem gleichen Interesse die Schaufensterpuppen in der angrenzenden Modeboutique betrachten. Dass es ihm gelungen war, einen der Verfolger zu identifizieren, erfüllte Jonathan mit Stolz. Aber noch besser war, wie er ihn gefunden hatte. Als er sich nach Möglichkeiten umsah, wie er die Passanten hinter sich unbemerkt beobachten konnte, war ihm das Spiegelbild des jungen Mannes im Seitenfenster eines im Stoßverkehr stehenden Taxis aufgefallen. Weder der Blick über die Schulter noch das umständliche Stehenbleiben und Schuhebinden waren nötig gewesen, um verstohlen nach Verfolgern Ausschau zu halten. Nur ein kurzer Seitenblick auf das Taxifenster, in dem die Passanten hinter ihm so deutlich wie in einem Spiegel zu erkennen waren, und schon hatte Jonathan ihn entdeckt. Wenn Jonathan seine Schritte beschleunigte, wurde auch der Lockenkopf schneller. Sobald Jonathan langsamer ging, drosselte auch sein Schatten das Tempo.

Blieben nur noch drei.

Es war genau halb eins, und das sonnige Wetter lockte zahllose Menschen ins Hafenviertel von Haifa. Einladende Cafés, kleine Läden mit Kuriositäten und gut besuchte Märkte ließen Menschen aus allen Altersgruppen und Schichten hierher strömen. Junge, Alte, Einheimische, Palästinenser. Wohin Jonathan auch sah, überall fanden sich Spuren von Tradition und Moderne, typisch für das heutige Israel. Bei der Auswahl der Orte schien Danni genau zu wissen, was sie tat.

Als Jonathan an der alten Turmuhr vorbeikam, hörte er, wie sie halb eins schlug. An der Straßenecke bot ein buckliger Verkäufer Softdrinks und Shawarmas auf einem Karren an. Jonathan kaufte sich eine Coke und unterhielt sich ein wenig mit dem alten Mann. Dabei drehte er sich langsam ein Stück zur Seite und beobachtete die Straße hinter sich. Danni hatte ihn angewiesen, nur den Blick schweifen zu lassen, und Jonathan gab sich alle Mühe, den Kopf nicht zu bewegen.

Seine zweite Verfolgerin entdeckte er etwa einen Häuserblock hinter sich. Eine schlanke Frau mittleren Alters beobachtete ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Sie trug einen orangeroten Kittel und einen Strohhut, aber das war nur eine Verkleidung. Vor fünf Minuten hatte sie noch einen blauen Pullover angehabt, und ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten gewesen. Nur ihre Schuhe hatten sich nicht verändert und sie verraten: klobige Mephisto-Wanderschuhe, die ihm schon zwei Häuserblocks zuvor aufgefallen waren.

Langsam hatte er den Bogen raus.

Blieben nur noch zwei.

Bevor er noch das Auto sah, hörte er schon, wie es von hinten auf ihn zuraste. Das Röhren des Motors war so laut, dass es in seinen Ohren schmerzte, und schien von Sekunde zu Sekunde lauter zu werden. Trotzdem bezwang Jonathan seine Neugier und drehte sich nicht um. Erst als der schwarze BMW ihn um ein Haar rammte, sprang Jonathan erschrocken zur Seite und richtete seine volle Aufmerksamkeit auf den Wagen.

Das Auto hielt ein Stück vor ihm am Straßenrand. Im nächsten Moment wurde die Seitentür aufgestoßen, und Danni sprang aus dem Wagen. Mit den Händen winkte sie Jonathan heran, der sofort angelaufen kam. »Was ist los?«, fragte er. »Habe ich etwas falsch gemacht? Der Typ mit dem Lockenkopf und der zerrissenen Jeans und die schrullige Dame mit dem Strohhut waren meine Verfolger.«

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Danni. »Steigen Sie ein.«

Jonathan schien nicht zu verstehen. »Aber ich habe sie entdeckt«, sagte er stolz. »Ich habe tatsächlich herausgefunden, wer meine Verfolger waren.«

»Herzlichen Glückwunsch«, bemerkte Danni trocken. »Und jetzt steigen Sie endlich ein. Wir sind spät dran.«

Jonathan kletterte in den Fond, und Danni setzte sich auf den Platz neben ihn. »Wieso spät dran?«, erkundigte er sich. »Was ist denn los? Ist etwas passiert?«

Der Wagen beschleunigte und reihte sich wieder in den Verkehr ein. Danni drückte Jonathan einen Reisepass in die Hand. »Planänderung. Die Dinge entwickeln sich ein wenig schneller als erwartet. Wir verlassen Israel.«

»Wann? Ich meine, wohin soll es denn gehen?«

»In zwei Stunden startet das Flugzeug«, erwiderte Danni und warf einen Blick auf die Armbanduhr an ihrem braungebrannten Handgelenk. »Nur keine Sorge. Das Reiseziel wird Ihnen gefallen. Dort ist es kalt, und es gibt jede Menge Berge.«