44.

Die letzte Einsatzbesprechung des frisch rekrutierten Agenten Dr. Jonathan Ransom und des Leiters von Division, Frank Connor, fand um sechs Uhr abends in einem steril wirkenden Konferenzraum auf der vierten Etage des Conference Centers am Züricher Flughafen statt. Ein wandhohes Fenster bot ihnen einen unverstellten Blick auf die Parkbuchten von Terminal A und B. Etwa fünfhundert Meter weiter ragte Terminal E wie eine Insel aus dem Asphalt mit gut einem Dutzend startbereiten Flugzeugen aus ebenso vielen Ländern an den Gates. Die meisten von ihnen stammten aus dem Fernen Osten und wurden gerade für ihre nächtlichen Rückflüge gewartet: Thai Airways, Cathay Pacific, Singapore Airlines und, gerade noch erkennbar, am hintersten Ende von Terminal E eine Boeing 787 mit der grün-schwarz-roten Flagge der Vereinigten Arabischen Emirate an der Heckflosse. Emirates-Flug 221 von Zürich nach Dubai sollte planmäßig um 20.30 Uhr voll ausgebucht mit 248 Passagieren plus Crew abheben.

»Da sind Sie ja, mein Lieber«, sagte Connor, als er den Konferenzraum betrat und Jonathan entdeckte, der am Fenster stand und wartete. »Himmel, ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt. Was haben meine Leute denn bloß mit Ihren Haaren angestellt? Blond? Und dann noch diese Brille und der Anzug. Sie sehen ja richtig elegant aus.«

Jonathan rang sich ein Lächeln ab. Das Einzige, was Connor noch nicht kommentiert hatte, waren seine blauen Kontaktlinsen. »Hallo, Frank. Wie geht es Ihren Beinen?«

»Tun höllisch weh. Sie sind doch Arzt. Können Sie mir nicht irgendwas verschreiben?« Connor lachte gutgelaunt, und beide Männer reichten sich zur Begrüßung die Hände. Während Connor Jonathans Hand mit festem Griff schüttelte, musterte er diesen von Kopf bis Fuß. »Hat Danni sich gut um Sie gekümmert?«

»Könnte man durchaus so sagen.«

»Wie ich höre, haben Sie sich hervorragend geschlagen und alle Erwartungen weit übertroffen. Danni meint, Sie waren einer ihrer besten Schüler. Nur schade, dass ich Sie nicht schon eher angesprochen habe.«

»Aber das haben Sie doch. Oder Emma, um genau zu sein. Das dürfte aber wohl keinen großen Unterschied machen.« Jonathan setzte sich und verschränkte die Hände auf der Tischplatte. An jedem der acht Plätze am Tisch standen eine Flasche Mineralwasser, ein Block und ein Stift bereit, und an der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: »Reserviert für Atlantic International Consultants«.

Connor setzte sich auf einen Platz neben ihm und rückte seinen Stuhl so zurecht, dass er Jonathan direkt ins Gesicht sehen konnte. »Dass Sie so überstürzt abreisen müssen, tut mir leid. Keiner von uns hat damit gerechnet, dass sich die Dinge so rasant entwickeln. Aber so läuft es leider oft in diesem Geschäft.«

»Steckt Balfour in Schwierigkeiten?«

»Nicht mehr als sonst auch. Pakistan will ihn schneller loswerden, als er dachte. Das ist alles.« Mit einem Stoßseufzer bückte sich Connor nach seiner Aktentasche und zog einen Stapel Papiere heraus. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Bis zum Boarding bleiben uns noch zwei Stunden. Das sollte reichen.« Er klopfte mit der Faust auf die obere Akte. »Noch Fragen zu unserem speziellen Freund?«

»Balfour, meinen Sie?« Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich bin ganz gut über ihn im Bilde. Abgesehen vielleicht von ein paar Details.«

»Details über sich gibt Balfour nicht gerne preis. Jeder, der mit ihm zu tun hat, weiß, dass er in den Slums groß geworden ist, doch Balfour zieht es vor, seine Vergangenheit zu verdrängen. Dabei lässt sie sich genauso wenig verbergen wie ein ausgewachsener Minderwertigkeitskomplex. Wie dem auch sei, wir konnten jedenfalls an die hundert E-Mails abfangen, die er und Revy sich geschrieben haben. Sie bekommen von mir eine Zusammenfassung über die wichtigsten Inhalte. Sobald Sie sie gelesen haben, reißen Sie alles in kleine Stücke und spülen diese im Klo runter. Verstanden?«

»Jawohl, Sir«, antwortete Jonathan wie ein Soldat, der von seinem Vorgesetzten Anweisungen erhielt. Überrascht stellte er fest, dass Connors militärischer Tonfall ihn nicht mehr im Geringsten störte. »Verstanden.«

»Wie es scheint, hat Balfour in seiner Residenz eine Art Taj Mahal unter den OP-Sälen eingerichtet. Aber er hat keine Ahnung, dass Revy eine fette Provision von den Herstellern der medizinischen Geräte kassiert.« Connor grinste vielsagend, um seinem neuen Agenten etwas von seiner Nervosität zu nehmen. Jonathan lachte leise, und Connor wirkte sofort eine Spur weniger angespannt. »Das hier ist eine Liste von Orten, an denen Revy in der letzten Zeit gewesen ist: Sardinien, Rom, Paris, Athen, Kiew, Berlin. Der Mann scheint ziemlich viel in der Welt herumzukommen. Prägen Sie sich die Liste gut ein. Und last but not least ist es uns gelungen, nach den Angaben des städtischen Bauinspektors von Islamabad Grundrisspläne von Balfours Residenz anzufertigen. Balfour hat sie auf den Namen Blenheim getauft. Das Hauptgebäude ist gut zweitausend Quadratmeter groß, die sich über drei Etagen verteilen. Außerdem gibt es noch etliche Nebengebäude und Stallungen auf dem Gelände. Balfour ist passionierter Reiter. Und Revy hat anscheinend eine Zeit lang bei der Kavallerie der Schweizer Armee gedient. In der Zusammenfassung finden Sie einige Mails über Hannoveraner, Warmblüter und jeden erdenklichen Mist über das Reiten. Wie halten Sie sich im Sattel?«

»Ich weiß, wie man auf ein Pferd rauf- und wieder runterkommt«, erwiderte Jonathan. »Aber das ist auch schon alles.«

»Sie haben also mit der Reiterei nichts am Hut?«

»Bei einem Sattel mit Knauf komme ich einigermaßen klar. Ansonsten dürfte es kritisch werden.«

Connor runzelte nachdenklich die Stirn. »Erzählen Sie Balfour, dass Sie sich beim Skifahren eine Knieverletzung zugezogen haben. Erfinden Sie, was Sie wollen, aber steigen Sie unter keinen Umständen auf ein Pferd. Er soll auf keinen Fall Anlass zu dem Verdacht bekommen, dass Sie nicht der Mann sind, der Sie zu sein vorgeben. Verstanden?«

»Absolut.«

»Gut.« Connor breitete eine verkleinerte Grundrisszeichnung vom Haupthaus auf dem Tisch aus. »Jetzt aber zum Wesentlichen. Die Gäste-Suite befindet sich im ersten Stock, und zwar genau hier. Balfours Privaträume, von denen aus er seine Geschäfte erledigt, liegen im zweiten Stock, genau über Ihrer Suite. Das ist die Schaltzentrale für all seine Operationen. Alles, was uns interessiert, dürfte genau dort zu finden sein.«

Jonathan betrachtete die Zeichnungen. »Hat er Wachen im Haus aufgestellt?«

»Wachen nicht, aber jede Menge Personal. Darunter auch einen eins sechsundneunzig großen Sikh namens Singh, Balfours Haushofmeister, persönlicher Assistent und Henker.«

»So wie Sie ihn schildern, werde ich ihn wohl kaum übersehen können.«

»Er ist Balfours Mann fürs Grobe, und er wird Sie im Auge behalten. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht.« Connor warf Jonathan einen warnenden Blick zu und fuhr dann fort: »Obendrein steht Balfour ein persönlicher Harem von acht bis zwölf Mädchen zur Verfügung, die alle sechs Monate ausgetauscht werden. Soweit ich informiert bin, kommen die Mädchen aus Russland, England und einige sogar aus Amerika. Wenn er Ihnen eines der Mädchen anbietet, nehmen Sie sein Angebot dankend an. Revy ist Junggeselle, und Balfour hat sich ein paar Mal bei ihm nach seinen persönlichen Vorlieben erkundigt.«

»Was denn für Vorlieben?«

»Ob er auf blonde, brünette oder rothaarige Mädchen steht. Die Antwort lautete übrigens: jung, blond, vollbusig und anschmiegsam. Fragen Sie mich nicht nach Details. Ich bin ein alter Mann, dem solche Gespräche schnell peinlich werden.«

Jonathan blickte auf sein Spiegelbild im Fenster oder besser gesagt, auf Revys Spiegelbild. Allmählich fing er an, den Schweizer Chirurgen regelrecht zu verabscheuen. »Haben Sie ihn geschnappt?«, erkundigte er sich bei Connor.

Überrascht blickte Connor vom Tisch auf. »Wen, Revy? Ja, natürlich, den haben wir. Keine Sorge. Von Daeniken hat ihm kein Haar gekrümmt. Der gute Doktor hat’s bequem, in diesem Augenblick wie in der Zukunft.«

Jonathan brachte seine Erleichterung zum Ausdruck, doch im Grunde interessierte ihn das Wohlbefinden des Arztes heute viel weniger als noch vor ein paar Tagen.

»Eine schlechte Nachricht gibt es jedoch«, fuhr Connor fort. »Revys Handy ist bei der Aktion zu Bruch gegangen. Wir haben Ihnen ein neues mit derselben Nummer besorgt, aber die Daten von seiner alten SIM-Karte konnten wir leider nicht retten.«

»Könnte das ein Problem für mich werden?«

»Davon gehen wir nicht aus. Sie dürfen ohnehin mit niemandem mehr Kontakt aufnehmen, sobald Sie in Pakistan ankommen. Balfour wird mit Sicherheit dafür sorgen, dass Sie auf seinem Anwesen keine Anrufe empfangen oder tätigen können, darauf können Sie sich verlassen. Aufgrund der Unannehmlichkeiten, die die indische Regierung ihm bereitet hat, ist er überaus paranoid wegen etwaiger Spitzel.«

»Und wie soll ich Informationen an Sie weiterleiten?«

»Benutzen Sie, wenn möglich, Ihren Laptop, und schicken Sie alles, was Sie finden, an meine sichere Mailadresse. Noch besser wäre es, wenn Sie Balfours Anwesen verlassen und mich anrufen könnten. Für den Fall, dass das nicht geht, versuchen Sie es mit einem netten kleinen Gerät, das Balfours Störsender lahmlegt, sodass Sie telefonieren können. Benutzen Sie es aber nur, wenn Sie auf absolut wichtige Informationen stoßen oder dringend Hilfe brauchen. Eines unserer Teams kann dann etwas vierundzwanzig Stunden später bei Ihnen sein.«

»Für einen Notfall hört sich das aber verdammt lange an. Was ist mit Danni?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wird sie mich begleiten?«

»Ich fürchte, nein. Ich habe ihre Dienste schon über Gebühr in Anspruch genommen. Sie muss zurück nach Israel. Dringende Angelegenheit. Wie ich Ihnen schon bei unserem ersten Treffen gesagt habe, werden Sie dort unten ziemlich auf sich allein gestellt sein. Ab einem gewissen Punkt geht es in diesem Geschäft jedem von uns so. Aber Sie können immer noch aussteigen. Ich würde es Ihnen nicht verübeln.«

»Und was ist mit Emma?«

»Über Emma kann ich Ihnen leider keine weiteren Informationen geben, wenn Sie vorhaben auszusteigen.«

»Soll das heißen, dass Sie inzwischen mehr darüber wissen, was mit ihr geschehen ist?«

»Ja.«

Absolute Stille breitete sich im Raum aus. Connor raschelte ausnahmsweise nicht mit den Papieren und klopfte auch nicht mit den Fingern auf den Tisch, um seinen lautstark geäußerten Worten Nachdruck zu verleihen. Der Tisch vor ihnen vibrierte leicht, als vor ihren Augen ein Flugzeug abhob, und Jonathan hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl, er wäre wieder auf der USS Ronald Reagan. »Verraten Sie mir, nach was für Informationen ich bei Balfour suchen soll?«, fragte er, um sich vorsichtig zum Wesentlichen vorzutasten.

»Es geht nach wie vor um eine Waffe und die Identität des Mannes, dem Balfour das Ding verkaufen will.«

Etwas an Connors Tonfall ließ Jonathan aufhorchen. Er klang eine Spur zu sachlich und zurückhaltend. Vielleicht lag es aber auch an dem, was Danni ihm vor ein paar Stunden gesagt hatte: Was wäre, wenn das Leben von noch mehr Menschen auf dem Spiel steht?

»Was für eine Waffe meinen Sie?«, hakte Jonathan nach.

Connor wich seinem Blick nicht aus. »Sind Sie dabei oder nicht? Ich denke, wir stehen am Rubikon.«

Jonathan fuhr sich nachdenklich mit der Hand über den Mund. Er dachte daran, was Danni über seine Motive gesagt hatte, weshalb er Connor helfen wolle. Er musste ihr recht geben. Er wollte tatsächlich herausfinden, ob er in der Lage war, dasselbe zu tun, was Emma tat. Doch das war nicht der einzige Grund. Die Sache war komplizierter. Was ihn antrieb, war nicht der Wunsch, sich mit Emma zu messen, sondern ein tief in ihm verwurzeltes Gefühl von Verantwortung oder sogar Schuld. Ob er wollte oder nicht, er hatte Emma bei zu vielen Operationen geholfen, um noch als unbeteiligter Zuschauer durchgehen zu können. Als Ehemann war es seine Pflicht zu wissen, was seine Frau tat. Nachdem er erfahren hatte, wer sie wirklich war, hatte sich sein Verhalten merklich geändert. In den vergangenen elf Monaten hatte er die ihm zugewiesene Rolle als nichtsahnender Bauer auf dem Schachbrett abgelegt und sich aktiv in das Spiel eingemischt – zuerst in der Schweiz, dann in Frankreich und schließlich in Afghanistan. Er war vor der Polizei geflüchtet, hatte mit angesehen, wie furchtbare Verbrechen verübt worden waren, und sogar mit eigenen Händen Menschen getötet, um sich zu verteidigen, aber auch mit Vorsatz und kühler Berechnung. An irgendeinem Punkt hatte er aufgehört, der ahnungslose Ehemann, Arzt und Zivilist zu sein, und war in eine andere Rolle geschlüpft. Dass Connor ihn mit ins Boot geholt hatte, sagte eine Menge über seine eigenen Fähigkeiten aus. Jonathan hätte aber nie erwartet, dass die Frage, ob er bereit war, seinem Land zu dienen, so schwer wiegen würde. Während er den stämmigen Mann mit den geröteten Wangen und dem zerknautschten Anzug neben sich musterte, fühlte er sich durch dessen Frage fast ein wenig geehrt. In Connors Augen konnte er lesen, wie überzeugt dieser von seinem Tun war, was Jonathan fast ein wenig neidisch machte.

Ich rette Leben, dachte er bei sich. Wenn auch auf eine etwas andere Art als bisher.

»Ich bin dabei.«

»Sicher?«

»Ja.«

Connor nickte leicht und stieß dann einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Wir glauben, dass Lord Balfour im Besitz einer Atombombe ist. Es handelt sich um einen Sprengkopf aus einem unserer Marschflugkörper, der vor etwa fünfundzwanzig Jahren in der Bergregion nahe der afghanischen Grenze verloren gegangen ist.«

Im Raum war es totenstill.

»Eine Atombombe?«, brach Jonathan nach einer Weile ungläubig das Schweigen.

»Eine nette kleine Atombombe von 150 Kilotonnen Sprengkraft in einem Stahlmantel von der Größe eine reifen Wassermelone.«

Connor beugte sich noch immer angespannt über den Tisch und starrte ihn an. Jonathan hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihm das dicke Ende noch bevorstand. »Und Emma?«

»Emma hat Balfour dabei geholfen, die Bombe zu bergen. Auf dem Gipfel des Tirich Mir.«

»Auf dem Tirich Mir?«

»Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Ach, vergessen Sie’s.« Der Name weckte tatsächlich Erinnerungen in Jonathan, aber das war nicht der richtige Moment, um über die Vergangenheit zu sprechen. Jonathan wandte den Blick ab und fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Er wusste, dass Connor ihm nichts vormachte. Diese Spielchen hatten sie hinter sich. Das galt auch für Halbwahrheiten, Machtkämpfe und Täuschungsmanöver. Das hier war die ungeschminkte oder, wie Connor es vielleicht nennen würde, die »maßgebliche« Wahrheit.

»Nachdem ich in Erfahrung gebracht hatte, wo der Marschflugkörper vermutlich lag, habe ich mithilfe eines Satelliten die Gegend absuchen lassen. So konnte ich selbst mit ansehen, wie sie das Bergungsteam zur Fundstelle geführt hat. Ich habe sofort ein Spezialeinsatzteam auf den Berg geschickt, um Emma zu stoppen, aber das Wetter hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Marine, der den Einsatz geleitet hat, ist dabei ums Leben gekommen.«

»Hat Emma ihn getötet?«

»Sie hat den zurückgelassenen Marschflugkörper in die Luft gejagt, um alle Spuren zu beseitigen. Ihr war klar, dass ich ohne Beweise nichts ausrichten kann. Captain Crockett kam nicht rechtzeitig genug weg.«

Jonathan setzte sich auf seinem Stuhl gerader hin und zwang sich, mit ruhiger Stimme weiterzusprechen. Es war die professionelle Stimme des Arztes, der gezwungen ist, einem Patienten das Allerschlimmste beizubringen. Hinter einem professionellen Auftreten ließen sich unangenehme Emotionen gut verbergen, das hatte er schon vor langer Zeit begriffen. »Aber warum sollte sie jemandem wie Balfour helfen? Sie haben doch selbst gesagt, dass Balfour dabei war, als Raschid sie gefoltert hat.«

»Vermutlich war es Balfour, der sie aus der Wüste gerettet hat. Auf diese Weise hat sie sich bei ihm revanchiert. Das Ganze ist mein Fehler. Wir haben sie so tief in unsere Operationen verstrickt, dass sie nicht mehr wusste, wer sie war und wo sie hingehörte. Die Folter hat ihr den Rest gegeben. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es selbst nicht glauben.«

»Ist sie bei Balfour?«

»Keine Ahnung. Wir gehen davon aus, dass sie die Bombe vom Berg geholt und Balfour übergeben hat. Es gibt eigentlich keinen Grund für sie, sich noch länger dort aufzuhalten, aber andererseits hätte ich auch nie gedacht, dass sie das Lager wechseln und für jemanden wie Balfour arbeiten würde.«

Jonathan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Grundrisspläne. Er musste sich zusammenreißen. Um der Sache und seinetwillen. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wo Balfour die Bombe versteckt haben könnte? Auf dem Grundstück, meine ich.«

»Ich gehe nicht davon aus, dass Balfour sie ins Haupthaus gebracht hat. So eine Bombe legt man sich doch nicht unters Kopfkissen. Meine Experten sind der Meinung, dass die Bombe nach all den Jahren unmöglich noch scharf sein kann. Wenn Balfour sie zu einem Spitzenpreis verkaufen will – und davon gehen wir aus –, muss er sie wieder funktionstüchtig machen. Dafür benötigt er eine sichere Werkstatt, in der er die Bombe vor neugierigen Blicken geschützt vorübergehend deponieren kann.«

Jonathan deutete auf zwei Nebengebäude auf dem weitläufigen Gelände, die er für geeignet hielt. In den nächsten zehn Minuten sprachen Connor und er darüber, welche Plätze sonst noch zur Lagerung der Bombe in Frage kämen, mit welchen Sicherheitsvorkehrungen Jonathan in Blenheim rechnen musste, sowie über Balfours Arbeitsgewohnheiten.

Anschließend kramte Connor aus seiner Jackentasche einen kleinen Ersatzkopf für einen Nassrasierer heraus, den er Jonathan auf der ausgestreckten Hand hinhielt. »Der ist für Sie. Hüten Sie ihn wie Ihren Augapfel. Er sieht zwar aus wie eine gewöhnliche Rasierklinge, ist aber in Wirklichkeit ein getarnter USB-Stick. Alles, was Sie tun müssen, ist, den Stick für zehn Sekunden in Balfours Computer zu stecken – ganz gleich, ob Laptop oder Desktop, solange der Computer nur über WLAN oder eine LAN-Verbindung verfügt. Über den USB-Stick wird ein Spionageprogramm auf dem Computer installiert, das uns über alles auf dem Laufenden hält, was Balfour mit diesem Computer anstellt, und sich zudem noch auf allen anderen Computern einnistet, die mit diesem Gerät in Verbindung stehen. Wenn Achilles das Trojanische Pferd in der heutigen Zeit noch einmal bauen würde, dann sähe es vermutlich so aus wie das hier.«

Jonathan nahm ihm den USB-Stick aus der Hand. Bislang hatte er im Hinblick auf die bevorstehende Operation ein ganz gutes Gefühl gehabt. Vor etlichen Jahren hatte er Klettertouren im Hindukusch und im Himalaya unternommen und kannte sich deshalb ganz gut in Pakistan aus. Als Arzt schlüpfte er in die Rolle eines anderen Arztes und musste auch in dieser Hinsicht kaum mit Problemen rechnen. Sogar der Gedanke, in das Allerheiligste von Balfour einzudringen, bereitete ihm nicht sonderlich viel Angst. Er war schon mit viel heikleren Aufgaben konfrontiert worden, und es war ihm bislang immer gelungen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Als Chirurg war er daran gewöhnt, unter Zeitdruck zu arbeiten und dabei mit Argusaugen kontrolliert zu werden.

Es gab nur einen einzigen Knackpunkt.

»Wie soll ich mich verhalten, wenn ich Emma über den Weg laufe?«, erkundigte er sich.

Connor beugte sich vor und legte die Fingerspitzen aneinander. »Versuchen Sie, mit ihr zu sprechen. Finden Sie heraus, warum sie tut, was sie tut. Wenn möglich, bringen Sie sie dazu, Ihnen zu verraten, wo die Bombe ist. Versuchen Sie, sie wieder auf unsere Seite zu ziehen.«

»Und wenn sie damit droht, mich zu verraten?«

Connor zog die Stirn kraus. »Ich fürchte, dann bleibt Ihnen keine andere Wahl, als sie zu töten.«

Jonathan erwiderte nichts. Erstaunlicherweise hatte er nicht das Bedürfnis, Connor zu widersprechen. Er war über den Vorschlag nicht einmal empört. Stattdessen erinnerte er sich daran, wie sich das Messer in seiner Hand angefühlt hatte, mit dem er noch vor wenigen Stunden trainiert hatte. Kalt und schwer. In diesem Moment wurde ihm klar, weshalb Danni so vehement darauf bestanden hatte, ihm beizubringen, einen Gegner mit dem Messer zu töten.

Noch bevor er etwas sagen konnte, ergriff Connor noch einmal das Wort: »Vorausgesetzt natürlich, Emma erledigt Sie nicht vorher.«