14.
»Schießen Sie los«, sagte Jonathan. »Ich bin ganz Ohr.«
»Zunächst einmal sollten Sie wissen, dass Emma nie aufgehört hat, für Division und die USA zu arbeiten. Nur unmittelbar nach den Vorfällen in der Schweiz war sie einige Zeit auf sich allein gestellt. Ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen, nicht mehr. Damals hatte sie Angst, dass wir ihr die Sache heimzahlen würden. Um ehrlich zu sein, gab es auch einige Stimmen bei Division, die Rache forderten. Oberflächlich betrachtet sah es so aus, als hätte Emma uns verraten, und diese Leute wollten, dass sie nicht ungeschoren davonkam. Ich selbst gehörte nicht zu ihnen. Meiner Ansicht nach hatte Emma uns einen riesigen Gefallen erwiesen, und ich wusste, wenn sich die Wogen erst einmal geglättet hatten, würde selbst der schärfste Gegner sich dieser Meinung anschließen müssen. Außerdem hatte ich erkannt, dass durch Emmas Alleingang nicht nur eine Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß verhindert worden war, sondern dass sich für uns bei Division eine einmalige Chance bot. Emma und ich besprachen die Sache, und ich konnte sie davon überzeugen, dass sie uns von noch viel größerem Nutzen sein konnte, wenn wir auch weiterhin so taten, als würde Division sie im Regen stehen lassen.«
»Aber genau so war es doch auch«, fiel Jonathan ihm ins Wort. »Ich habe die Narbe auf ihrem Rücken selbst gesehen und ihre Krankenakte in Rom gelesen. An dem Blutverlust wäre sie fast gestorben.«
»Nein, Dr. Ransom, das wäre sie nicht. Ein sehr renommierter Chirurg, so einer, wie Sie es sind, hat Emma den Schnitt auf dem Rücken verpasst und sie anschließend wieder zusammengenäht. Der Rest war ein reines Täuschungsmanöver. Genau das ist unser Job.«
Jonathan verkniff sich die Antwort. Die Erinnerungen an die Ereignisse im vergangenen Juli waren noch nicht verblasst. Emma hatte ihn in London besucht und anschließend vor seinen Augen eine Autobombe gezündet, bei der etliche Menschen getötet und eine noch viel größere Anzahl verwundet worden waren. Hier bot sich ihm die Gelegenheit, seine anschließende Suche nach Emma noch einmal Schritt für Schritt zu durchleuchten. Aber Jonathans Gedanken kreisten ständig um ihre letzte gemeinsame Nacht im Dorchester Hotel. Die Nacht, bevor die Hölle losbrach.
Er erinnerte sich daran, wie sie sich auf dem Teppichboden im Hotelzimmer geliebt hatten. Emma war eine leidenschaftliche Geliebte, aber nie zuvor hatte sie sich ihm so vollständig hingegeben. Ihre gemeinsamen Stunden im Hotel hatten ihm vor Augen geführt, wie sehr er seine Frau noch immer liebte. Mehr noch, seine Liebe zu ihr hatte sich in dieser Nacht sogar noch vertieft. Emma hatte ihr Leben riskiert, um bei ihm zu sein.
Es war eine wunderbare Erinnerung, die aber schon am nächsten Morgen grausam zerstört worden war. Nach und nach erfuhr Jonathan, dass Emma inzwischen Agentin des russischen FSB und der wahre Grund für ihren Aufenthalt in London eine weitere Geheimmission war. Die romantischen Liebesstunden mit ihrem Ehemann waren für sie nur ein netter kleiner Zeitvertreib gewesen. Was Jonathan für einen unumstößlichen Beweis ihrer Liebe gehalten hatte, war in Wirklichkeit nur ein weiteres Täuschungsmanöver oder, noch schlimmer, ein eigennütziges Spiel ohne Rücksicht auf seine Gefühle gewesen. Diese Erkenntnis hatte ihn zutiefst verletzt.
»Aber wozu das ganze Theater?«, fragte Jonathan, obwohl ihm die Zusammenhänge Stück für Stück klar wurden.
»Nachdem wir entschieden hatten, aus Emma eine Doppelagentin zu machen – also sie zurück zum FSB zu schicken –, mussten wir den Russen einen hieb- und stichfesten Beweis dafür liefern, dass Emmas Herz in Wahrheit nur für Russland schlägt. Dass die Russen, und besonders Sergei Shvets, der damalige Direktor des FSB und Emmas erster Boss und Liebhaber, im höchsten Maße paranoid sind, kam noch erschwerend hinzu. Sie dürfen nicht vergessen, dass Emma zu diesem Zeitpunkt schon jahrelang für Amerika gearbeitet hatte.«
»Acht Jahre lang«, sagte Jonathan.
»Länger«, korrigierte ihn Connor. »Shvets hätte sie niemals wieder aufgenommen, wenn wir ihm keinen wasserdichten Beweis für Emmas Loyalität zu Russland geliefert hätten. Unsere Versuche, Emma zu töten, ließen Shvets glauben, dass sie uns tatsächlich verraten hatte. Nur so ist es uns gelungen, ihn zu überzeugen.«
»Und weiter? Was war mit der Bombe in dem Atomkraftwerk in der Normandie? Oder mit der Autobombe in London? Wie wollen Sie mir das erklären?«
»Gar nicht, denn das geht Sie nichts an.« Als Jonathan protestieren wollte, hob Connor warnend die Hand. »Sie wissen schon viel zu viel über die Ereignisse des letzten Sommers. Was ich Ihnen heute erzählt habe, sage ich Ihnen nur, weil Sie Emmas Mann sind und ich das Gefühl hatte, Ihnen diese Erklärung schuldig zu sein.«
»Sie wussten also nichts davon, dass Emma mich in London treffen wollte?«
Connor stieß ein bitteres Lachen aus. »Glauben Sie wirklich, dass Emma mich bei so etwas erst um Erlaubnis fragt?«
Jonathan wandte das Gesicht ab. »Also …«
»Wenn Emma sich mit Ihnen verabredet hat, dann nur, weil sie es so wollte. Die richtigen Schlüsse daraus müssen Sie selbst ziehen. Aus meiner Sicht kann ich Ihnen dazu nur eines sagen: Es war eine dumme, unüberlegte Entscheidung und das genaue Gegenteil von dem, was Emma in ihrer Ausbildung gelernt hat. Wegen dieses Treffens hat sie ihr Leben und ihre Mission aufs Spiel gesetzt. Glauben Sie mir, wenn ich auch nur die leiseste Ahnung von Emmas Plänen gehabt hätte, hätte ich ihr den Marsch geblasen und alles unternommen, um dieses Treffen mit Ihnen zu verhindern.«
Jonathan griff nach seinem Becher und trank den letzten Rest Tee aus. Dabei lauschte er auf das gleichmäßige Dröhnen des Schiffes. Plötzlich ertönte direkt über ihren Köpfen ein lautes Wusch, und das Schiff erbebte wie beim Zusammenstoß mit etwas Schwerem.
»Flugmanöver«, kommentierte Connor beiläufig. »Das Geräusch kam von dem Katapult, mit dem die Flugzeuge vom Schiff aus gestartet werden.«
Der durchdringende Geruch von verbranntem Diesel zog durch das Schiff und stieg Jonathan in die Nase. »Sie sagten, dass Emma in großer Gefahr schwebt. Was kann ich tun, um ihr zu helfen?«
»Sie können Emmas Mission zu Ende führen.«
»Ich fürchte, dafür bin ich nicht der richtige Mann. Ich bin Arzt, kein Agent.«
»Ganz genau. Doch wie der Zufall so spielt, ist das genau das, was ich suche.« Connor ballte seine wulstigen Finger zu Fäusten und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. »Aber zuerst muss ich Sie fragen, wie es Ihnen nach den letzten Ereignissen geht. Und versuchen Sie gar nicht erst, mir den Helden vorzuspielen. Was Sie dort oben in den Bergen erlebt haben, reicht aus, um einen echten Kerl völlig umzuhauen. Ich habe Soldaten mit zwanzig Jahren Berufserfahrung erlebt, die nach einem einzigen Einsatz von diesem Kaliber den Dienst quittieren mussten.«
»Mir geht es gut«, sagte Jonathan.
»Leiden Sie unter Albträumen? Oder plötzlichen Schweißausbrüchen?«
Jonathan schüttelte den Kopf.
»Strecken Sie bitte einen Arm aus!«
»Wie bitte?«
»Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage. Strecken Sie den Arm auf Schulterhöhe gerade nach vorn. Handfläche nach unten und die Finger möglichst gerade halten.«
Jonathan streckte den rechten Arm aus und bemerkte, dass seine Hand zitterte. Er ballte die Finger zur Faust und streckte sie dann wieder aus. Das Zittern ließ nach. Connor beobachtete ihn skeptisch.
»Als junger Mann habe ich einige Freunde bei Klettertouren verloren«, erzählte Jonathan. »Wir wagten uns am liebsten bis zu den gefährlichsten Stellen hoch oben in den Bergen vor, wo Unfälle nicht selten von einer auf die andere Sekunde passieren. Gerade noch klettert jemand neben dir, und im nächsten Moment ist er weg, einfach so. Es geht so schnell, dass man gar nicht begreift, was gerade geschehen ist und was es für einen selbst bedeutet. Im Moment fühle ich mich ganz ähnlich. Total von der Rolle, vielleicht sogar in einer Art verzögertem Schockzustand. Ein Teil von mir wünscht sich nichts sehnlicher, als diesen Gefühlen nachzugeben. Aber die Welt dreht sich weiter, und die Ereignisse überstürzen sich immer noch. Ich habe alle Hände voll zu tun, mit dem Hier und Jetzt klarzukommen. Dazu noch über das Erlebte nachzudenken würde mir wahrscheinlich den Verstand rauben. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
Connor dachte einen Moment über Jonathans Worte nach. »Ja, Dr. Ransom. Ich denke, ich verstehe Sie.«
»Tun Sie mir bitte einen Gefallen und nennen Sie mich nicht immer Dr. Ransom. Mein Name ist Jonathan.«
»In Ordnung, Jonathan.« Connor streckte ihm eine seiner gewaltigen Hände entgegen. »Frank Connor.«
»Sind Sie sicher, dass das Ihr richtiger Name ist?«, fragte Jonathan und versuchte, Connors Händedruck genauso fest zu erwidern.
»Wenn meine Mutter mich nicht belogen hat«, erwiderte Connor lachend und lockerte den Krawattenknoten. »Also schön, Jonathan, ab hier beginnt der offizielle Teil. Alles, was ich Ihnen von jetzt an erzähle, ist streng vertraulich oder sogar noch mehr als das. Ich habe im Moment keine Papiere zur Hand, die Sie unterzeichnen müssen. Das kann warten. Aber um eines klarzustellen: Von diesem Augenblick an arbeiten Sie für mich, also für die Regierung der Vereinigten Staaten. Verstanden?«
»Absolut, aber den militärischen Mist können Sie sich sparen. Verstanden?«
Connors Augen verengten sich zu Schlitzen, und das Blut schoss ihm in die Wangen. »Und noch etwas sollten Sie wissen. Der Job, den Sie in meinem Auftrag ausführen sollen, ist extrem gefährlich. Sie werden sich in die Höhle des Löwen wagen müssen, und niemand wird da sein, der Sie im Ernstfall an die Hand nehmen kann. Der Feind wird Ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Sie müssen jederzeit damit rechnen, dass Sie enttarnt werden, und wenn dieser Fall eintritt, gibt es nichts und niemanden mehr, der Ihnen helfen könnte. Wenn es Sie tröstet, Sie werden wohl kaum die nächsten fünfzig Jahre in einem dunklen Verlies in Pakistan hocken müssen. Stattdessen dürfte man Sie standrechtlich erschießen.«
»Nur keine falsche Rücksichtnahme, Frank. Weihen Sie mich in die grausamen Details ein.«
Doch der Galgenhumor schien Connor nicht zu gefallen. »Ich werde Ihnen alle notwendigen Anweisungen geben und sagen, was genau Sie tun sollen. Wenn Sie sich an meine Vorgaben halten, werden Sie die Sache heil überstehen. Zu keinem Zeitpunkt dürfen Sie Ihren Verstand ausschalten und nachlässig werden, so lautet die oberste Regel. Ist das kl …, äh, noch Fragen so weit?«, korrigierte sich Connor im letzten Moment.
»Nein«, antwortete Jonathan. »Keine Fragen. Die Sache ist gefährlich. Schießen Sie los. Wenn es darum geht, Emma zu helfen, bin ich dabei.«
»In Ordnung, ich werde Ihnen einen kurzen Überblick über Emmas Verbleib und ihre letzten Aufgaben geben. Vor zwei Monaten, also im September, wurde Emma in die Außenstelle des FSB nach Damaskus strafversetzt, wo sie wegen des Mordanschlags auf Igor Iwanow zur Buße niedere Aufgaben erledigen musste, also zum Beispiel sich um arabische Diplomaten kümmern, kleinere Spionage-Jobs durchführen oder hin und wieder Firmengeheimnisse beschaffen. Industriespionage ist heutzutage bei vielen Staaten gang und gäbe, vor allem, wenn die Wirtschaft eines Landes so rückständig wie die der Russen ist. Einer von Emmas Schützlingen ist Ashok Armitraj Balfour, ein Waffenhändler ganz großen Stils, der vor allem in Südasien aktiv ist. Armitraj ist je zur Hälfte Inder und Brite und nennt sich auch Lord Balfour. Schon mal von ihm gehört?«
Jonathan verneinte.
»In Kürze werden Sie selbst seine intimsten Geheimnisse kennen. Er wird Ihnen so nahe stehen wie Ihr bester und engster Freund. Aber weiter im Text. Vor etwa einem Monat kam Balfour mit einer Einkaufsliste für einen seiner Kunden zu Emma. Normalerweise ist der Endabnehmer bei so einem Geschäft vollkommen uninteressant. Balfour sagt, in welches Land die Lieferung gehen soll, und wir stellen die Exportpapiere aus.«
»Wir? Heißt das, Amerika liefert auch an diesen Typen?«
Connor nickte. »Schließlich müssen wir dafür sorgen, dass auch unsere renommierten Firmen im Geschäft bleiben. Die Russen jedenfalls interessieren sich einen Dreck dafür, für wen die Waffen bestimmt sind. Sie besorgen sich die Waffen für die Lieferungen aus ihrem eigenen Hinterzimmer.«
»Was soll das heißen: ›Aus ihrem eigenen Hinterzimmer‹?«
»Das Ganze funktioniert wie die Mafia. Die Waffen, die Balfour von den Russen kauft, existieren offiziell gar nicht. Es ist wie bei einem Lkw, dem ein Teil der Ladung unterwegs abhandenkommt. Nur dass der Lkw in diesem Fall eine staatliche Waffenfabrik ist, die vom FSB kontrolliert wird. Ein Teil der dort hergestellten Waffen ist legal, der Rest wandert ins Hinterzimmer. Über die legale Produktion wird ordnungsgemäß Buch geführt, der Erlös aus dem Hinterzimmer wandert in die Taschen des FSB-Chefs.«
»Und für wen waren die Waffen auf Balfours Liste nun bestimmt?«
»Das wissen wir nicht. Aber was wir herausgefunden haben und was unser Interesse geweckt hat, war die Tatsache, dass Prinz Raschid in den Handel involviert war. Balfours Angaben zufolge war Prinz Raschid der Zwischenhändler und Garant für die Bezahlung der Lieferung.«
»Prinz Raschid vom Persischen Golf? Er unterstützt seit vielen Jahren Ärzte ohne Grenzen. Er gehört zu den Guten.«
»Ach ja?« Connor wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf, als hätten sie sich völlig missverstanden. »Vielleicht reden wir von verschiedenen Männern. Der Prinz Raschid, den ich meine, ist ein bekannter Geldgeber des Terrorismus. Meinen Informationen zufolge verschiebt er jährlich bis zu zweihundert Millionen Dollar an al-Qaida, die Taliban, Laschkar e-Taiba und andere islamistische Gruppen, deren erklärtes Ziel die Zerstörung des Westens ist.«
Jonathan lehnte sich perplex auf seinem Stuhl zurück. »Davon hatte ich wirklich keine Ahnung.«
»Das wundert mich nicht. Sie waren zu geblendet von seinen guten Taten, seiner blonden Frau und den hübschen, blauäugigen Kindern. Genau das ist ja auch Raschids Absicht.«
»Wenn Sie das alles wissen, warum gehen Sie dann damit nicht an die Öffentlichkeit?«
»Bevor Sie so etwas vorschlagen, sollten Sie sich über die Folgen Gedanken machen. Die Familie des Prinzen gehört in der Golfregion zu den engsten Verbündeten der USA. Schon die kleinste Beschuldigung würde die guten Beziehungen auf Jahre hinaus belasten. Mit so einem Vorwurf geht man nicht einfach an die Öffentlichkeit.« Connor beugte sich vor, als wolle er Jonathan ein Geheimnis anvertrauen. »Um Angelegenheiten wie diese kümmern wir uns lieber verdeckt.«
»Mit anderen Worten, Sie haben Emma benutzt, um über Balfour an Raschid heranzukommen?«
»Kein Kommentar.« Connor schürzte nachdenklich die Lippen, als wäre er unschlüssig, was er Jonathan noch erzählen solle und was nicht. In seinem Gesicht stand deutlich zu lesen, dass etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen war. »Wir wissen im Augenblick nur, dass Emma bei der Übergabe der Waffen an Balfour und Raschid verschwunden ist.«
Für Jonathan war es nicht schwer, sich die Szene vor seinem inneren Auge auszumalen: Emma, die vorgab, Agentin der Russen zu sein, um an Prinz Raschid heranzukommen und ihn zu töten. Auf ganz ähnliche Weise war sie im Libanon, in Bosnien und anderswo auf der Welt vorgegangen. Eine nicht ganz ungefährliche Methode. »Ist sie tot?«
»Es spricht einiges dafür, dass sie noch lebt.«
In Jonathans Ohren klang diese Aussage alles andere als beruhigend. Eher wie ein bekannter Satz unter Agenten, der bedeutete, dass die Chancen bestenfalls fünfzig zu fünfzig standen. »Hat Raschid sie enttarnt?«
»Das wissen wir nicht. Aber bevor ich Sie einweihe in das, was wir wissen, möchte ich Sie davor warnen, irgendetwas Unüberlegtes zu tun. Zorn und Rache helfen niemandem, schon gar nicht Emma.«
Jonathan versuchte, seine Nerven mit ein paar tiefen Atemzügen zu beruhigen. »Alles klar«, sagte er schließlich.
»Prinz Raschid hat eine spezielle Art, mit Leuten umzugehen, die ihn seiner Meinung nach betrogen haben. Egal ob geschäftlich, politisch oder in welchem Zusammenhang auch immer. Er bringt die Verräter an irgendeinen gottverlassenen Ort in der Wüste und foltert sie. Die Details will ich Ihnen ersparen. Das ist nichts für zarte Gemüter.«
»Was stellt Raschid mit ihnen an?«
»Das wollen Sie nicht wirklich wissen.«
»Was, Frank?«
Connor stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Antwort bereitete ihm sichtlich Unbehagen. »Ketten«, sagte er schließlich gedehnt. »Elektrische Viehtreiber. Zigaretten. Manchmal schleift er sie ans Auto gekettet durch die Wüste.«
»Hat er so etwas auch mit Emma gemacht?«
Connor nickte.
Jonathan spürte, wie eine unkontrollierbare Wut in ihm aufstieg, und wandte sich ab. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er meinte, dass nichts und niemand ihn daran hindern könne, das Ungeheuer zu bestrafen, das seiner Frau solche Dinge angetan hatte.
Ein schriller Ton hallte ihm schmerzhaft in den Ohren, aber er war sich nicht sicher, ob das Geräusch von der Übermacht seiner Gefühle oder nur vom Flugzeugträger herrührte. »Sie haben gesagt, es spräche einiges dafür, dass Emma trotzdem noch am Leben ist.«
»Es gibt Beweise dafür, dass sie die Folter überlebt hat.«
»Einen Augenzeugen?«
»Nein.«
»Was dann? Immerhin sprechen wir hier von meiner Frau. ›Beweise‹ allein reichen mir nicht.«
»Wir haben Fußabdrücke an der Stelle gefunden, wo Raschid und seine Männer Emma zurückgelassen haben. Sie stammen allem Anschein nach von ihr und beweisen, dass sie noch in der Lage war zu laufen. Wie es scheint, wurde sie mit einem Auto aus der Wüste herausgebracht. Das ist im Augenblick alles, was wir wissen.«
»Elektrische Viehtreiber? Und er hat Emma an sein Auto gekettet und durch die Wüste geschleift?«
Connor verzog das Gesicht. »Prinz Raschid ist ein echtes Monster. Tut mir leid.«
Jonathan spürte, wie ein Teil seiner Seele zu einem harten, unerbittlichen Eisklumpen gefror. Niemals zuvor hatte er gegen andere lange Zeit einen Groll gehegt oder im Stillen eine Liste über erlittenes Unrecht, Tiefschläge, Demütigungen und Beleidigungen geführt, in der fehlgeleiteten Hoffnung, seinen Widersachern die Schmähungen eines Tages heimzahlen zu können. Als junger Mann hatte er seine ganz eigene Methode für den Umgang mit Arschlöchern entwickelt, und dazu hatte er nichts weiter benötigt als eine Flasche Jack Daniel’s Tennessee Sour Mash und seine Fäuste. Mit der Methode ließen sich billig, bequem und äußerst effektiv Meinungsverschiedenheiten ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Leider hatte sie ihn aber auch mehr als einmal in Konflikt mit dem Gesetz gebracht, und so war er in den äußerst zweifelhaften Genuss gekommen, in insgesamt zehn Städten quer über sechs Staaten verteilt eine Nacht im Gefängnis verbringen zu dürfen. Als er die wilden Jahre hinter sich gelassen hatte und etwas vernünftiger geworden war, hatte er begriffen, dass Gewalt keine Lösung ist, sondern nur die Dämonen in den tiefsten Abgründen der eigenen Seele nährt und wachsen lässt. Anstatt Menschen zu verprügeln, lernte Jonathan, sie zu ignorieren. Seinen Ruf als Schläger vertauschte er gegen den eines Doktors der Medizin, und seine Hände ballte er nicht länger zu Fäusten, sondern lernte stattdessen, im OP-Saal geschickt mit Pinzette und Skalpell umzugehen. Für den nie enden wollenden Kampf um Menschenleben musste er nun gut auf seine Hände achten.
Doch der Dämon in seiner Seele lauerte noch immer auf seine große Stunde und sammelte in der dunkelsten Ecke Kraft für sein Comeback. Jonathan hatte das die ganzen Jahre über gewusst und alles darangesetzt, nicht in alte Muster zurückzufallen.
Ketten … Elektrische Viehtreiber … Zigaretten … Manchmal schleift er sie ans Auto gekettet durch die Wüste.
Connors Worte waren bis in die dunkelste Ecke seiner Seele gedrungen, und am Tisch dieser Kajüte an Bord eines Flugzeugträgers, dessen Wände gerade wieder nach dem Start eines Kampfjets vibrierten, spürte Jonathan, wie der Dämon zu neuem Leben erwachte und auf Rache sann.
Vergeltung.
»Sie wollen also an Raschid herankommen?«, fragte Jonathan, der die Zusammenhänge jetzt klarer sah.
Connor schüttelte verneinend den Kopf. »Im Augenblick nicht. Die Dinge haben sich ein wenig geändert. Raschid ist im Moment für uns uninteressant. Was uns viel mehr auf den Nägeln brennt, ist die Frage, für wen Raschid die Waffen besorgt hat. Wenn der Endabnehmer neu im Geschäft ist, würden wir gern wissen, wer er ist. Das Gleiche gilt für den Fall, dass er schon länger dabei ist.«
»Aber Raschid hat Emma gefoltert. Damit können Sie ihn doch nicht einfach davonkommen …«
»Raschid ist ein richtiger Scheißkerl, und eines Tages wird er für all seine Taten bezahlen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Aber im Augenblick ist es unmöglich, an ihn heranzukommen. Er weiß, dass wir hinter ihm her sind, und wird seine Sicherheitsvorkehrungen noch verstärken. Der einzige Weg zu Raschid führt über Balfour. Sie müssen wissen, dass Balfour nicht nur Waffen besorgt, er liefert sie auch dorthin, wo seine Klienten sie haben wollen. Wenn es uns gelingt herauszufinden, wohin Balfour die Waffenlieferung an Prinz Raschid geschickt hat, können wir in Erfahrung bringen, wer dessen geheimnisvoller Freund ist. Wir müssen also so dicht wie möglich an Balfour rankommen, und Sie sind der Einzige, dem das gelingen kann.«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich den Mann überhaupt nicht kenne.«
»Das macht nichts. Viel wichtiger ist, was Sie für ihn tun können.«
In den darauffolgenden Minuten lieferte Connor Jonathan einen Überblick über Balfours Vergangenheit, seinen Aufstieg zu einem der größten Waffenhändler und seine unvermeidliche Aufnahme in die Rote Liste der meistgesuchten Verbrecher von Interpol. Als er fertig war, lehnte Connor sich in seinem Stuhl zurück und musterte Jonathan schweigend. »Noch immer interessiert?«, erkundigte er sich nach einer Weile.
»Reden Sie ruhig weiter«, erwiderte Jonathan.
»Balfour steckt in Schwierigkeiten, und das weiß er auch. Die indische Regierung hat es auf ihn abgesehen, und die Pakistanis können ihm jederzeit die eingeräumten Sonderrechte entziehen und ihn ausweisen, wenn der Druck auf sie zu stark wird. Balfour braucht einen Ausweg, und zwar schnell. Das Problem ist nur, dass er sich als international gesuchter Verbrecher in keinem anderen Land der Welt mehr verstecken kann. Deshalb muss Balfour sein Äußeres so verändern, dass er in einem anderen Land inkognito ein neues Leben beginnen kann. Zurzeit befindet er sich auf der Suche nach einem Schönheitschirurgen, um sich auf seinem Anwesen in Pakistan einer Operation zu unterziehen. Und Sie, Dr. Ransom, werden dieser Schönheitschirurg sein.«
»Sie wollen also, dass ich Balfours Aussehen verändere und ihm eine neue Identität verpasse?«
»Wenn alles nach Plan verläuft, werden Sie ihn gar nicht operieren müssen«, erwiderte Connor. »Balfour erledigt all seine Geschäfte von seinen Büroräumen in einem palastähnlichen Anwesen vor den Toren Islamabads aus. Ihre Aufgabe besteht darin, als Balfours Gast Informationen zu beschaffen, die uns helfen, mehr über Raschids Klienten herauszufinden. Eine bessere Gelegenheit, hinter Balfours Geschäftspraktiken zu kommen, wird sich uns nicht noch einmal bieten. Raschids Klient ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn wir Glück haben, liefern Sie uns so viel Material, dass wir den gesamten Waffenmarkt auf den Kopf stellen können.«
»Wie viel Zeit habe ich?«
»Das wissen Sie besser als ich. Wie lange dauert so eine Schönheitsoperation?«
»Alles in allem? Das hängt stark davon ab, wie radikal Balfour sein Aussehen verändern will. Nase, Kinn, Implantate. Das wird sich zeigen müssen. Auf jeden Fall werde ich ihn vorher von Kopf bis Fuß durchchecken müssen: körperliche Fitness, ein umfassendes Blutbild und so weiter. Das dürfte mindestens zwei Tage in Anspruch nehmen, vorausgesetzt, die Labore arbeiten ohne Verzögerung und schicken die Ergebnisse auf dem schnellsten Weg wieder zurück. Was für eine OP-Ausrüstung steht mir zur Verfügung?«
»Wie ich Balfour einschätze, nur das Beste vom Besten.«
»In dem Fall wird die OP nicht länger als einen halben Tag dauern. Aber Balfour wird für ein paar Tage strenge Bettruhe einhalten müssen. Unter einer Woche wird er auf keinen Fall sein Anwesen verlassen und in ein Flugzeug steigen können.«
Eine männliche Stimme meldete sich über das Lautsprechersystem und informierte die Besatzung, dass das Essen in der Schiffsmesse fertig wäre und als abendlicher Kinofilm Batmans Rückkehr auf dem Programm stünde. Jonathan nutzte die Pause, um über all das nachzudenken, was er bislang von Connor erfahren hatte.
»Sie haben erwähnt, dass Balfour auf der Suche nach einem geeigneten Schönheitschirurgen ist. Hat er sich schon für jemanden entschieden?«
Connor bejahte die Frage.
In Jonathan stieg eine düstere Ahnung auf. »Was passiert mit dem Mann?«
»Wir werden dafür sorgen, dass er von der Bildfläche verschwindet«, erwiderte Connor lapidar.
»Von der Bildfläche verschwindet?«
Connor nickte. »Wir müssen ihn aus dem Weg räumen.«
»Wenn Sie glauben, dass ich da mitmache, haben Sie wirklich gar nichts kapiert. Ich kann doch unmöglich das Leben eines Unbeteiligten für das von Emma opfern.«
Offensichtlich enttäuscht starrte Connor ihn an. »Haben Sie wirklich ein so schlechtes Bild von uns? Was sind wir denn in Ihren Augen? Ein Haufen gedankenloser Mörder, die über Leichen gehen, nur um unsere amoralischen Ziele zu erreichen? Gerade Sie sollten wissen, dass wir das Leben anderer niemals leichtfertig aufs Spiel setzen.«
Der Wink mit dem Zaunpfahl blieb Jonathan nicht verborgen. Als Zivilist war er Zeuge verschiedener Operationen von Division geworden und wusste mehr, als ihm lieb war. Wenn eine Organisation wie diese den Grundsatz vertrat, alle Personen auszuschalten, die ihr gefährlich werden konnten, wäre er wohl kaum noch hier. »Vielleicht sollte ich das«, gab er zu. »Es fällt mir nur schwer zu unterscheiden, wer Ihrer Meinung nach überleben darf und wer nicht.«
»Die Entscheidung können Sie getrost mir überlassen. Für Sie heißt es im Moment nur, sich genau an meine Anweisungen zu halten. Ist das ein Problem?«
Jonathan verneinte, aber schon jetzt wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass Connor ihm irgendetwas verschwieg. »Also, was geschieht jetzt? Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
Connor warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. »Du lieber Himmel, ist es wirklich schon so spät? Sie sollten sich schleunigst nach oben zum Flugdeck begeben. Ihre Maschine ist bereits startklar.«
»Jetzt sofort?«
»Schnellstens.« Frank Connor geleitete Jonathan aus der Kajüte über ein paar Treppen hinunter bis zum Bereitschaftsraum für Piloten. An der Tür brüllte Connor ein paar Anweisungen, und kurz darauf erschien ein Offizier mit einem Fliegeroverall und einem Schutzhelm.
»Ziehen Sie das über«, sagte Connor zu Jonathan. »Jetzt gleich.«
»Wohin bringen Sie mich?«, erkundigte sich Jonathan.
»Zu ein paar Freunden von mir. Sie müssen noch eine Menge lernen, bevor ich Sie in die Höhle des Löwen schicken kann.«
Nachdenklich musterte Jonathan den Overall und den Helm. »Sekunde mal«, sagte er und legte die Hände demonstrativ an die Hüften. »Was wird nun aus Emma? Sie sagten, dass sie in großer Gefahr schwebt. Geht es bei diesem Einsatz eigentlich noch um sie?«
»Auf jeden Fall. Sie können Ihrer Frau am besten helfen, wenn Sie Emmas Mission zu Ende bringen«, erwiderte Connor. »Lord Balfour war einer der Letzten, die Emma gesehen und mit ihr gesprochen haben, bevor Prinz Raschid sie entführt und gefoltert hat. Wenn jemand weiß, was mit ihr geschehen ist, dann ist es Lord Balfour.«