6.

Prinz Raschid Albayar al-Zayid war der zwölfte Sohn des Kronprinzen und regierenden Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate Ali al-Zayid. Er war zweiunddreißig Jahre alt, gut eins achtzig groß und konnte mit seinen breiten Schultern, dem gewinnenden Lächeln und den blitzenden braunen Augen mit dem aufrichtigen Blick Menschen im Nu für sich einnehmen. Raschid gehörte nicht zu den Royals, die nur vom hochherrschaftlichen Namen der Familie leben und mit Geld um sich schmeißen, als wäre es eine olympische Disziplin. Er war das genaue Gegenteil. Mit Auszeichnung hatte er die amerikanische Phillips Exeter Academy, die Universität Cambridge und die renommierte Business School INSEAD abgeschlossen und war danach in sein Heimatland zurückgekehrt, um beim Staat Karriere zu machen. In nur sechs Jahren hatte er sich vom Leiter des Zollamts zum stellvertretenden Außenminister hochgearbeitet und war gerade zum Polizeichef des Landes ernannt worden.

In seiner Freizeit war Prinz Raschid Vorsitzender eines Pan-arabischen Gipfels zum Klimawandel und vertrat die königliche Familie beim Bündnis »Kampf dem Hunger«, einem Verein, der Spenden von über zweihundert Millionen Dollar für hungernde Kinder in Schwarzafrika gesammelt hatte. Seine Frau war Christin und eine libanesische Schönheit. Seine vier vorbildlichen Kinder besuchten das internationale Lycée im Zentrum von Dubai. In den Augen der Öffentlichkeit war der Prinz der Inbegriff des modernen, weltoffenen Muslims und ein attraktiver Werbeträger für die Vereinigten Arabischen Emirate.

Doch die Akte des Geheimdiensts zeigte eine ganz andere, dunkle Seite des Prinzen. Danach waren seine öffentlichen Auftritte nichts weiter als die von einem Workaholic bis ins kleinste Detail aufgebaute Fassade, um seine wahre Berufung zu verschleiern: den großangelegten Handel mit Waffen für islamistische Terrorgruppen.

Als Prinz Raschid ihnen mit ausgestreckten Armen auf dem asphaltierten Platz vor dem Hangar entgegenkam, setzte er sein breitestes Lächeln auf. Im Nahen Osten sagt die Begrüßung alles über die Art einer Beziehung.

»Ashok, mein Freund«, rief er aus, während er Balfour herzlich in die Arme schloss. »Ich freue mich aufrichtig, dich zu sehen. Ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du mir … und meinen Freunden … so sehr unter die Arme greifst.«

»Immer wieder gerne«, sagte Lord Balfour. »Darf ich vorstellen: Miss Lara Antonowa vom FSB.«

»Ich dachte, Sibirer sind blond«, sagte Prinz Raschid mit einer leichten Verbeugung.

»Nicht alle«, erwiderte Emma. Prinz Raschid schüttelte ihr die Hand. Einen Moment lang dachte Emma, er würde sie nicht mehr loslassen. Seine Hände waren groß und erstaunlich schwielig. Emma kam eine weitere Information aus der Akte in den Sinn. Der Prinz war ein glühender Fan des Kampfsports. Man erzählte sich, dass er seine Sparringspartner gerne krankenhausreif schlug.

»Dem Akzent nach würde ich Sie für eine waschechte Britin halten. Aber ich kenne General Iwanow gut genug, um zu wissen, dass das unmöglich ist«, bemerkte der Prinz.

»Moskau legt Wert darauf, dass unsere englischen Sprachkenntnisse denen der Queen in nichts nachstehen.«

Raschid lachte, und seine Polizeibeamten fielen in das Gelächter mit ein. Just in dem Moment klingelte das Handy des Prinzen. Er sprach nur ein paar Sätze. »Miss Antonowa, Ihr Flugzeug hat um Landeerlaubnis gebeten. Es ist in zwei Minuten auf dem Boden.«

Er rieb sich die Hände und überquerte mit großen Schritten die Rollbahn. Balfour und Emma folgten ihm, darauf bedacht, wie vorgeschrieben einen Schritt hinter ihm zu bleiben. Gut zwanzig Polizeibeamte in kurzärmeligen khakifarbenen Uniformen begleiteten sie.

Sobald die Tupolew gelandet war, wurde sie umgehend zur Parkbucht vor dem Hangar dirigiert. Die Frachtklappe öffnete sich, und die Crew entlud eine Palette hoch aufgestapelter Holzkisten nach der anderen aus dem Bauch der Maschine auf die Rollbahn. Die Kisten waren olivfarben und mit kyrillischer Aufschrift versehen.

Eine Stunde dauerte es, bis die Fracht gelöscht war. Prinz Raschid lief von Palette zu Palette, deutete scheinbar wahllos auf einzelne Kisten und verglich deren Inhalt mit seiner Bestellliste. Lord Balfour begleitete ihn und versicherte immer wieder: »Alles komplett. Das komplette Paket, wie gewünscht.«

Emma wartete etwas abseits von ihnen. Mit verschränkten Armen behielt sie sowohl den Prinzen als auch die Scharfschützen auf dem Dach im Auge. Bei einem Blick über die Schulter bemerkte sie auch den Mann. Er war klein und drahtig, trug, wie fast alle anwesenden Männer mit Ausnahme des Prinzen, einen Vollbart und verhielt sich irgendwie sonderbar. Weil er direkt neben dem Mercedes des Prinzen stand, vermutete Emma, dass er auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Er war also ein VIP. Seine Gesichtsfarbe war dunkel, und eine Hand ruhte auf der geöffneten Beifahrertür des SUVs. Seine gesamte Körperhaltung wirkte nervös, so als fürchte er, entdeckt zu werden. Er trug die traditionelle Robe der Araber, aber nicht die eines reichen Mannes, sondern nur eine schlichte weiße Dischdascha mit einem schwarzen Turban. Es war die Kleidung eines gewöhnlichen Mannes, doch ein gewöhnlicher Mann fuhr nicht mit dem Prinzen in dessen Wagen mit.

Emma blickte so lange in seine Richtung, bis die Kamera ein gutes Bild von dem Mann für Frank Connor und seine Mitarbeiter bei Division eingefangen hatte.

Dieser Mann war der Endabnehmer: Prinz Raschids Terrorist des Monats. Einen Beweis dafür gab es nicht, aber Emma wusste es trotzdem. Aus Erfahrung.

»Alles komplett.« Dieses Mal war es der Prinz, der sprach. Emma wandte sich um und sah, dass dieser auf sie zukam. »Wirklich beeindruckend. Ich freue mich schon auf das nächste Geschäft mit General Iwanow.« Er winkte einen Adjutanten heran, und ehe sie sich’s versah, hielt Emma zwei glänzende Metallkoffer mit je fünf Millionen Dollar in den Händen.

»Wir haben zu danken«, sagte Emma. »Deshalb möchte ich Ihnen auch im Namen des Generals ein Geschenk überreichen.«

»Ach ja?«

Emma sah dem Prinzen fest ins Gesicht. Irrte sie sich, oder spielte er tatsächlich nur den Überraschten? Mit der Hand gab sie der Flugzeugcrew ein Zeichen, und kurz darauf kamen zwei Männer mit einem schwarz lackierten Gewehrkoffer zwischen sich aus dem Rumpf der Maschine. »Stellt ihn dort drüben ab«, sagte Emma und zeigte auf eine Kiste ganz in ihrer Nähe.

Feierlich klappte sie den Deckel der Koffers auf, unter dem ein Vychlop-Scharfschützengewehr auf kastanienbraunem Samt zum Vorschein kam. Direkt unter der Waffe lagen in speziell dafür gefertigten Aussparungen drei 12,7 Zentimeter lange Patronen vom Durchmesser einer Cohiba-Zigarre. Auf jeder einzelnen Patrone waren der Name des Prinzen und sein Familienwappen eingraviert. Was jedoch noch wichtiger war: Jede Patrone hatte genug Durchschlagskraft, um einen gepanzerten Humvee aus gut neunhundert Meter Entfernung zu durchlöchern.

Prinz Raschid hob die zehn Kilo schwere Waffe an die Schulter, als wäre es ein Luftgewehr.

»Ich hoffe, Sie sind mit der Wahl der Waffe zufrieden«, sagte Emma.

»Gar keine Frage«, sagte der Prinz. Er ließ das Gewehr sinken und strich mit einer sorgfältig manikürten Hand über den Lauf. »Es ist eine wahre Schönheit. Eine todbringende Waffe in elegantem Design.«

»Schön, dass sie Ihnen gefällt.« Emma warf einen prüfenden Blick auf ihre Uhr. »Ich muss mich jetzt aber leider von Ihnen verabschieden. Mein Flug nach Zürich geht um drei Uhr früh. Tut mir leid, dass ich nicht länger bleiben kann …«

»Unsinn«, fiel ihr Prinz Raschid ins Wort. »Ich rufe sofort am Flughafen an und sorge dafür, dass das Flugzeug auf Sie wartet. Ich bestehe darauf, dass Sie wenigstens so lange bleiben, bis ich General Iwanows Geschenk ausprobiert habe.«

Emma spürte, dass der Prinz keinen Widerspruch dulden würde. Er wirkte entschlossener denn je. Doch seine Höflichkeit war nur gespielt. Dahinter steckte etwas ganz anderes, viel Bedrohlicheres. »Das würde ich ja gerne«, sagte sie, obwohl ihre innere Stimme ihr riet, die Beine in die Hand zu nehmen und so schnell wie möglich zu verschwinden. »Aber es ist schon spät, und ich kann wirklich nicht mehr länger bleiben. General Iwanow erwartet mich.«

Prinz Raschid setzte sein Filmstar-Lächeln auf. »Ich habe vorhin noch mit Igor Iwanow telefoniert. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn Sie noch eine Weile bleiben. Seinen Worten zufolge sind Sie das Beste, was Russland zu bieten hat. Und jetzt, wo ich Sie kennengelernt habe, teile ich seine Meinung voll und ganz.«

Emmas Blick wanderte zum Dach des Hangars. Die Scharfschützen hatten sich mit schussbereiten Waffen in Position gebracht. Im Fadenkreuz der Zielfernrohre befand sich ihr Kopf, dessen war sich Emma sicher. Für Prinz Raschid war das Geschenk tatsächlich keine Überraschung gewesen, so viel stand fest. Einen Moment lang ruhte ihr Blick auf Balfour, doch der hatte von der Waffe bestimmt nichts gewusst. Die ganze Sache war von Anfang an allein Connors Spiel gewesen.

»Natürlich können Sie noch bleiben«, pflichtete Balfour dem Prinzen in beiläufigem Ton bei. Doch der Ausdruck in seinen Augen sprach eine ganz andere Sprache.

»Nun gut. Wenn Sie unbedingt darauf bestehen«, lenkte Emma ein, um Zeit zu gewinnen.

Mit lauter Stimme rief der Prinz seinen Männern einen Befehl zu, und unvermittelt erstrahlte ein von Gestrüpp überwucherter Streifen gleich neben dem Hangar in gleißendem Scheinwerferlicht. Am hinteren Ende der illuminierten Fläche wiegte sich ein Schaukelstuhl mit einer Schaufensterpuppe sacht im Wind. Die Puppe trug die Uniform eines US-Marine. Hier also war Emmas Beweis. Raschid hatte genauestens über die Waffe Bescheid gewusst.

Der Prinz reichte das Gewehr an Emma weiter. »Bitte nach Ihnen. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie den ersten Schuss abgeben würden.« Er nahm eine der Patronen aus dem Kasten. »Und keine Widerrede.«

Energisch klappte Emma den Lauf auf, steckte eine Patrone hinein und schlug das Schloss wieder zu. Ihre Chancen standen eins zu drei. Sie war schon aus schlimmerem Schlamassel heil wieder herausgekommen, beruhigte sie sich, während das mulmige Gefühl in ihrem Inneren einer unbändigen Wut Platz machte. Man hatte sie verraten. Sie wusste zu viel, und das war ihr jetzt zum Verhängnis geworden. So einfach war die Sache. Doch was auch geschah, sie würde sich von nichts und niemandem unterkriegen lassen.

»Kommen Sie her«, sagte sie und winkte den Prinzen mit der Hand zu sich. »Ich zeige Ihnen, wie man am besten mit der Waffe schießt. Der Lauf des Gewehrs ist ziemlich schwer. Sie müssen Ihr Gewicht auf den hinteren Fuß verlagern. Beim Zielen müssen Sie die Wange dicht an den Schaft drücken. Kommen Sie ruhig noch etwas näher. Von dort hinten können Sie doch gar nichts sehen.«

»Ich sehe ausgezeichnet«, erwiderte Prinz Raschid.

»Wie Sie meinen.« Emma zielte mit dem Gewehr auf die Brust der Schaufensterpuppe und presste den Kolben gegen die Schulter. »Der Abzug geht erstaunlich leicht. Sie müssen nur ganz leicht draufdrücken, sollten sich aber auf den verteufelt stärksten Rückstoß Ihres Lebens gefasst machen.«

Eins zu drei.

Sie presste die Wange an den Schaft, holte tief Luft und krümmte den Finger um den Abzug.

Eine ohrenbetäubende Explosion hallte durch die Nacht.

Mit schützend erhobenem Arm kauerte der Prinz am Boden. Im Schaukelstuhl auf dem Seitenstreifen wippte die Schaufensterpuppe, doch ihr Kopf und die Hälfte der linken Schulter waren verschwunden.

»Leider ein bisschen zu hoch.« Emma zuckte gleichmütig mit den Schultern und gab dem Prinzen das Gewehr zurück. »Sie kriegen das bestimmt besser hin.«

Mit der Waffe in der Hand ging der Prinz zurück zu dem lackierten Koffer, wählte eine der übrig gebliebenen Patronen aus und steckte sie in den Lauf. Ohne ein Wort kehrte er zur Feuerlinie zurück, klappte die Waffe zu, legte an, zielte und schoss.

Der Schuss verfehlte das Ziel, schlug in die Erde und wirbelte eine Staubwolke auf.

»Was für ein Rückstoß«, bemerkte Prinz Raschid und rieb sich die schmerzende Schulter. »Meine Frau wird sich wundern, woher ich die blauen Flecken habe.«

Jetzt lag nur noch eine Patrone in dem mit Samt ausgeschlagenen Koffer. Raschid streckte Balfour das Gewehr hin. »Na, wie steht’s mit dir, Ashok? Lust auf ein kleines Wettschießen?«

Balfour hob abwehrend die Hände. »Ich verkaufe die verdammten Dinger nur. Seht selbst. Das Ding reicht mir ja fast bis zum Haaransatz!«

»Doppelte Ausrede«, sagte Prinz Raschid. Mit einem abschätzenden Blick auf Emma nahm er die letzte Patrone aus dem Koffer und steckte sie in den Lauf. »Vielleicht können Sie mir dieses Mal ein wenig helfen«, sagte er zu ihr. »Wie ziele ich noch mal?«

Emma trat hinter den Prinzen, legte einen Arm um seine Schulter und half ihm, die Wange an die richtige Stelle des Schaftes zu legen. Mit der anderen Hand half sie ihm, mit dem Lauf der Waffe genau auf die Schaufensterpuppe zu zielen. »Sie dürfen den Abzug erst drücken, wenn Sie das Ziel genau im Fadenkreuz haben. Zielen Sie wegen des Rückstoßes einen halben Meter tiefer. Pressen Sie den vorderen Fuß fest auf den Boden. Jetzt spannen Sie die Bauchmuskeln an.«

Emma trat neben den Prinzen und sah zu, wie er den Finger um den Abzug krümmte. »Nur ganz leicht«, sagte sie. »Tief einatmen und dann abdrücken.«

Der Prinz beobachtete sie aus dem Augenwinkel. »Nur ganz leicht«, wiederholte er.

»Ganz genau.«

Plötzlich richtete sich der Prinz wieder auf und ließ die Waffe sinken. »Verdammt noch mal«, sagte er und ging mit entschlossenen Schritten davon.

»Stimmt was nicht?«, wollte Balfour wissen und versuchte, mit dem Prinzen Schritt zu halten.

»Noch so einen Rückstoß hält meine Schulter nicht aus«, sagte Prinz Raschid. »Dann kann ich einen Monat lang nicht mehr Golf spielen.«

Keiner der Anwesenden wagte es, etwas zu erwidern. Nach einem Moment betretenen Schweigens fing auf einmal einer seiner Männer an zu lachen. Nach und nach fielen alle in das Lachen mit ein. Prinz Raschid übergab einem kleinen stämmigen Mann in der Uniform eines Captains das Gewehr. »Vielleicht gelingt es Captain Hussein ja, das Ziel zu treffen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren Sie doch Schießausbilder an der Akademie, oder?«

Hussein trat an die Feuerlinie. Vorsichtig hob er das Gewehr an die Schulter und nahm die Puppe ins Visier. Er würde seinen obersten Dienstherrn nicht enttäuschen.

»Ganz leicht«, sagte der Prinz und ließ Emma nicht aus den Augen.

Sekunden später explodierte die Patrone im Lauf und zerriss die Waffe in den Händen des Polizisten.

Captain Hussein wand sich zuckend auf dem Boden. Von seinem Kopf war nicht mehr übrig als eine unförmige Masse aus zersplitterten Schädelknochen, versengtem Fleisch, Blut, Knorpeln und Zähnen, die einem zerquetschten Granatapfel glich. Die Polizisten rannten herbei und scharten sich um ihren furchtbar entstellten Chef. Balfour schrie aufgeregt ins Handy, dass sie sofort einen Krankenwagen brauchten. »Und zwar ein bisschen plötzlich!«, brüllte er.

Nur Prinz Raschid rührte sich nicht von der Stelle.

»Sie kommen mit mir«, sagte er zu Emma und umklammerte ihren Arm mit eisernem Griff.