67.
»Sie sind spät dran«, sagte der Pilot, während er die Tür zuzog. »Suchen Sie sich einen Sitzplatz, und schnallen Sie sich an. Wir starten gleich.«
Blinzelnd durchquerte Sultan Haq den höhlenartigen schummrigen Flugzeugrumpf, vorbei an Jeeps, gepanzerten Fahrzeugen und zahllosen Kisten mit militärischer Ausrüstung. Die gesamte Fracht, die an Bord des Starlifters gebracht und fachmännisch für den Flug vertäut worden war, war Eigentum der US-Army.
Es war eine der größten Rückholaktionen in der Geschichte des US-Militärs.
Sieben Jahre lang hatte das amerikanische Militär Soldaten und Soldatinnen in den Irak geschickt, um die dort lebenden Menschen von ihrem tyrannischen Diktator zu befreien und dem Land zu einem demokratischen Neustart zu verhelfen. Zusammen mit den Soldaten wurden Unmengen an militärischer Ausrüstung dorthin gebracht. Tagein, tagaus landeten die Frachtmaschinen auf den über das Land verteilten Luftstützpunkten. In den C-141 Starliftern wurden Panzer, Geschütze und gepanzerte Humvees eingeflogen. C-19-Transportmaschinen lieferten Lkws, mobile Küchen und Kevlarwesten. Von großen Frachtschiffen wurden Jeeps, Munition und Verpflegung auf riesigen Paletten in den verschiedensten Häfen im Arabischen Meer gelöscht.
Doch inzwischen hatte sich die Lage im Irak geändert, und die Amerikaner zogen nach und nach ihre Truppen und die militärische Ausrüstung ab. 3,3 Millionen Waffen und Gerätschaften mussten zurück in die Vereinigten Staaten oder weiter nach Afghanistan verfrachtet werden, wo die Amerikaner noch immer in einen erbitterten Kampf mit den Taliban verwickelt waren. M1-Abrams-Panzer, Bradley-Schützenpanzer, Stryker-Truppentransporter, Howitzer-Kanonen – die Liste war schier endlos. Der Umfang der Ausrüstung war viel zu gewaltig, als dass die Army die Verlagerung alleine hätte bewältigen können. Deshalb sahen sich die Logistiker auch nach anderen Schiffen und Flugzeugen um. Eine der Firmen, die einsprangen, war East Pakistan Airways, deren Besitzer und Geschäftsführer Ashok Balfour Armitraj war.
Etwa in der Mitte des Flugzeugrumpfs fand Sultan Haq einen Notsitz, auf den er sich erschöpft fallen ließ. Keuchend lehnte er den Kopf gegen die Außenwand der Maschine. Eine Mischung aus Angst und Adrenalin ließ seine Hände zittern, und seine Kleidung war nach dem nervenaufreibenden Kampf und der knappen Flucht schweißnass und klebte ihm am Körper. Ungeduldig zerrte er an seinem Ärmel, um einen Blick auf seine Armbanduhr werfen zu können. Wie sehr er die westliche Kleidung hasste! Inzwischen war es kurz vor sieben. Reflexartig tastete Haq nach der Kiste, die er in einem Transportnetz neben sich verstaut hatte. Die Maschine sollte Punkt 19.00 Uhr abfliegen. Militärtransporter warteten nicht auf verspätete Passagiere oder Fracht.
Die Turbinen von Pratt and Whitney des Starlifters wurden angeworfen. Ein Zittern lief durch den Rumpf des Starlifters, und die Maschine setzte sich langsam in Bewegung. Nachdem sie ein Stück über die Startbahn gerollt waren, spürte Haq, wie seine Anspannung ein wenig nachließ. Erst jetzt bemerkte er den heftigen Schmerz in seinem Bein. Vorsichtig zog er das Hosenbein hoch und starrte auf den großen Metallsplitter in seiner Wade. Das Blut aus der Wunde hatte sich in seinem Schuh gesammelt. Vor Haqs innerem Auge kam das Bild seines geliebten Bruders Massoud wieder hoch, der mit zerfetztem Gesicht tot auf dem Boden des Hangars lag. Dann erinnerte er sich mit deutlich weniger Zorn und Schmerz an Ashok Balfour Armitraj, dessen Körper von seiner eigenen Munition durchsiebt worden war.
Unvermittelt stoppte das Flugzeug. Quälende Minuten verstrichen, ohne dass der Starlifter sich wieder in Bewegung gesetzt hätte. Nach fünf Minuten lähmender Ungewissheit blickte sich Haq suchend nach einem Fenster im Flugzeugrumpf um, fand aber keines. Besorgt humpelte er zum Cockpit. »Was ist los? Warum halten wir?«
Der Pilot warf ihm einen beunruhigten Blick zu. »Alle Flüge wurden gestoppt. Die Armee will vor dem Start die Maschinen durchsuchen.«
»Warum?«
»Das müsste ich wohl Sie fragen.« Der Pilot kletterte von seinem Sitz. »Gehen Sie zurück in den Frachtraum, und verstecken Sie sich in einem der Transporter.«
Haq ging zu einem Transporter im Heck der Maschine und stieg hinein. Das Warten war kaum auszuhalten. Die Minuten schienen zu schleichen. Eine Stunde verstrich. Schließlich spürte er, wie ein leichtes Zittern durch das Flugzeug lief, und hörte Stimmen im Frachtraum. Hinter dem Rücksitz kauernd wartete Haq darauf, dass die Tür des Transporters aufgerissen und das Licht einer Taschenlampe auf ihn gerichtet wurde. Doch die Stimmen verstummten so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Langsam richtete Haq sich auf und wagte einen Blick durch die Frontscheibe. Aus dem vorderen Teil des Flugzeugs kam der Pilot ohne Begleitung auf ihn zu.
Haq kletterte aus dem Transporter. »Und?«
»Wir transportieren ausschließlich amerikanische Militärausrüstung. Sie haben nur einen Blick in den Frachtraum geworfen und sind wieder gegangen.«
Haq atmete erleichtert auf. »Dürfen wir bald starten?«
»Sobald sie die Sperre aufheben. Wir dürfen als Siebter fliegen.«
»Wie lange dauert der Flug bis zu unserem ersten Zwischenstopp?«
»Sieben Stunden.«
Haq stöhnte leise und musterte sein verletztes Bein. »Besorgen Sie mir etwas Verbandszeug und eine Pinzette.«
»Sobald wir in der Luft sind, komme ich wieder zu Ihnen«, versprach der Pilot und kehrte ins Cockpit zurück.
Kurz darauf setzte sich das Flugzeug wieder in Bewegung. Nachdem es ein paarmal abgebogen war, stoppte es kurz auf der Startposition. Dann rollte es mit dröhnenden Turbinen los und wurde schneller und schneller. Die im Frachtraum vertäuten Jeeps, Transporter und Kisten wackelten gefährlich, als das Flugzeug über die Startbahn donnerte. Beim Abheben des Starlifters wurden die Vorderräder der Wagen in die Luft gerissen, und die Kisten schwankten wild hin und her.
Haq schloss die Augen und begann zu beten. Er bat Allah um die Weisheit seines Vaters und die Verschlagenheit seines Bruders. Er bat um den Respekt seines Sohnes und den Mut seiner Familie. Als er die Augen wieder öffnete, schwor er feierlich, seinen Clan nicht zu enttäuschen.
In seinem Kopf hörte er eine Melodie. Es war eine lustige, unbekümmerte Melodie, selbstgefällig, voller lächerlicher Versprechen und gesungen von Männern, die die Uniform ihres Landes übertrieben stolz vor sich hertrugen und sich dabei unbewusst über alle anderen Kulturen lustig machten. Männer mit schmalen, ehrlosen Nasen, die Menschen aus anderen Kulturen qua Definition als minderwertig betrachteten und sich anmaßten, sie einfach so auszulöschen. Männer, die es für ihr gottgegebenes Recht hielten, sich als Herrscher der Welt aufzuspielen. Amerikaner.
Gegen seinen Willen summte Haq ein paar Takte mit, und sein Hass stieg ins Unermessliche. In diesem Moment wurde ihm klar, dass sein Lebensweg ihn vom Tag seiner Geburt an genau bis hierhin geführt hatte.
Auf den Weg in Richtung Westen.
Immer der untergehenden Sonne nach.