43.

Die Entführung von Dr. Michel Revy fand am gleichen traumhaft sonnigen Tag um zwei Uhr nachmittags statt und wurde von Markus von Daeniken persönlich geleitet und ausgeführt. Unterstützt wurde er dabei von seinen Mitarbeitern beim Dienst für Analyse und Prävention, dem Schweizer Inlandsnachrichtendienst, dessen oberste Aufgabe es ist, das Land vor Terroristen, Extremisten und feindlichen Agenten zu schützen.

Die gesamte Operation war überstürzt geplant worden, aber das war im Grunde nichts Außergewöhnliches. Polizeibeamte standen fast immer unter Zeitdruck, und von Daeniken hatte sich schon vor langer Zeit mit solchen übers Knie gebrochenen Operationen abgefunden. In seinem Wortschatz kam das Wort »Perfektion« nicht vor. Ganze zwölf Stunden hatten ihm zur Verfügung gestanden, um einen Plan auszuarbeiten, das Team zusammenzustellen und jedem seine Aufgabe zuzuweisen. Natürlich hätte er gerne noch einen Tag mehr gehabt, um wenigstens einen Probedurchlauf zu starten, aber Dr. Revys enger Zeitplan hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. In von Daenikens Job musste man sich notgedrungen mit dem zufriedengeben, was man hatte. Wünsche waren purer Luxus.

»Wagen eins, Verfolgung abbrechen. Wagen zwei, fertig machen zum Übernehmen.«

Von seinem schattigen Parkplatz aus in den dicht bewaldeten Hügeln am Stadtrand von Bern koordinierte von Daeniken die Aktion. Ein kräftiger Wind aus nördlicher Richtung wirbelte den Schnee von den Berghängen, sodass die Flocken im gleißenden Sonnenlicht tanzten und funkelten. Auf von Daenikens Schoß lag ein mobiles GPS-Tracking-Gerät, und mit den Augen verfolgte er den blinkenden roten Punkt auf dem Display, der sich in diesem Moment auf der A1 auf ihn zu bewegte. Das Signal kam von einem Peilsender, den von Daeniken eigenhändig an der Stoßstange von Revys Porsche Panamera angebracht hatte, der unverschämt teuren und beneidenswert schönen Limousine, bei der der Chirurg bereits seit drei Monaten mit den Leasingraten im Rückstand war. Dem roten folgten drei blaue Punkte. Das waren die Wagen, in denen von Daenikens Männer saßen. Alle sieben Minuten wechselten sie sich bei der Verfolgung von Revy ab – eine gängige Praxis, um von der Zielperson nicht sofort entdeckt zu werden.

»Er verlässt jetzt die Autobahn«, meldete sich Wagen eins.

»Bis zum Ortsausgang bleibt ihr auf Abstand. Sobald er auf die Dorfstraße abbiegt, baut ihr die Straßensperren auf und sorgt dafür, dass nach Revy niemand mehr durchkommt.«

Bei der Verfolgung handelte es sich im Grunde nur um eine reine Vorsichtsmaßnahme. Das Remora-Spionageprogramm hatte am Abend zuvor eine E-Mail von Revy weitergeleitet, in der er seiner Mutter einen kurzen Besuch an diesem Nachmittag angekündigt hatte, bevor er am Abend seinen Flug nach Pakistan antreten wollte. Über den genauen Zeitpunkt und den Ort der Entführung war im Vorfeld heftig diskutiert worden: Sollten sie Revy vor dem Haus seiner Mutter schnappen, ihn im Hotel abfangen, bevor er dort auscheckte, oder ihn besser irgendwo auf der Strecke zwischen dem Hotel und dem Haus seiner Mutter kidnappen? Ein paar Männer aus von Daenikens Team hatten vorgeschlagen, Revy zu betäuben und ihn für die Dauer der Operation in ein künstliches Koma zu versetzen. Andere wollten ihn in einem sicheren Haus in der Nähe von Gornergrat festhalten, wo ihn höchstens ein paar Krähen zu Gesicht bekämen. Auf zwei Dinge mussten sie bei ihren Überlegungen besonderes Augenmerk legen: Erstens durfte es keine Zeugen für die Entführung geben, und zweitens durfte Revy auf keinen Fall herausfinden, wer ihn entführt hatte und wo man ihn gefangen hielt.

Schließlich einigten sie sich darauf, sich Revy auf dem Weg zu seiner Mutter zu schnappen, nachdem sie auf der Strecke einen nicht ganz so stark befahrenen Straßenabschnitt gefunden hatten, der für ihre Pläne geradezu ideal war. Anschließend wollten sie Revy in einem aufgelassenen Luftschutzbunker im Engadin oberhalb von Pontresina gefangen halten, bewacht von einem sich abwechselnden Team aus je zwei Personen. Das künstliche Koma erschien ihnen zu riskant.

Von Daeniken öffnete das Seitenfenster und rief dem Fahrer des neben ihm parkenden Transporters mit der Aufschrift »Swisscom« zu: »Fünf Minuten.«

Der Fahrer klopfte die Asche von seinem Zigarillo ab, startete den Motor und fuhr die Straße hinauf.

Nervös rutschte von Daeniken auf seinem Sitz hin und her. Wie schon so oft vor einer solchen Aktion spielten seine Nerven verrückt. Er war für so etwas einfach nicht geschaffen. Bevor er Leiter des DAP geworden war, hatte er in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität Karriere gemacht. Doch obwohl er Waffen und Gewalt wie überhaupt alles Martialische aus tiefstem Herzen verabscheute, hatte er festgestellt, dass er für den Job hervorragend geeignet war. Im Grunde war er ein ziemlich hinterhältiger Mistkerl, der mit seinem scharfen Verstand sogar die erfahrensten Agenten alt aussehen lassen konnte. Aber Denken und Handeln waren zwei verschiedene Paar Schuhe, und in diesem Moment hätte von Daeniken alles darum gegeben, mit seiner zweiten Tasse Espresso am Schreibtisch zu sitzen und sich von den Abteilungsleitern über die Ergebnisse und Entwicklungen des Tages informieren zu lassen.

Der rote Punkt erreichte die Weggabelung und bog von der Lindenstraße auf die Dorfstraße, die sich 3,8 Kilometer weit über bewaldete Hügel bis zur nächsten Kreuzung schlängelte.

»Wagen eins, wie weit seid ihr mit der Straßensperre?«

»Die Straße ist abgeriegelt«, meldete sich Wagen eins über Funk.

»Wagen vier«, wandte sich von Daeniken an den Fahrer des Swisscom-Transporters. »Was macht der Verkehr bei euch?« Wagen vier sollte das andere Ende der Dorfstraße absperren, und eine Hand voll Mitarbeiter vom Störungsdienst sollten auf diesem Teilstück Reparaturarbeiten vortäuschen. Auf diese Weise wollten sie Revy zum Anhalten zwingen, ohne dass er misstrauisch wurde.

»Weit und breit kein Wagen in Sicht.«

»Riegelt die Straße ab.«

Soeben wanderte der rote Punkt durch eine Kurve. Von Daenikens Männer folgten ihm in einiger Entfernung. Als von Daeniken den Kopf aus dem Seitenfenster streckte und die Ohren spitzte, konnte er bereits das leise Brummen des starken Porschemotors hören.

»Hängt euch an ihn dran«, wies er seine Männer an. »Er soll gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen, wenn er merkt, was los ist.«

Von seinem Beobachtungspunkt aus konnte von Daeniken die kurvige Straße inmitten der Bäume gut überblicken. Für einen Moment sah er zwischen den Bäumen etwas Silbernes aufblitzen. Das musste Revy sein.

»Wagen vier, sind alle Männer auf Position?«

»Die Straße ist abgesperrt. Außer uns ist niemand zu sehen.«

Von Daeniken umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Jetzt hing alles davon ab, wie gut Revy mitspielte.

Der Porsche bog um die nächste Kurve, und von Daeniken hatte zum ersten Mal freie Sicht auf die Zielperson. Erleichtert beobachtete er, wie wenige Sekunden später Wagen eins hinter Revy auftauchte. Mit einer Hand ließ von Daeniken den Motor an und lenkte den Wagen in Richtung Straße. Im nächsten Moment raste Revy an ihm vorbei, dicht gefolgt von Wagen eins. Von Daeniken war überrascht, wie schnell Revy fuhr, doch dann fiel ihm ein, dass der Chirurg den Weg zum Haus seiner Mutter in- und auswendig kennen musste. Entschlossen drückte er den Fuß aufs Gaspedal und schoss mit einem Satz auf die Straße.

»Noch dreißig Sekunden«, informierte er seine Männer über Funk.

»Dreißig Sekunden. Verstanden«, meldete sich Wagen vier.

Vor von Daenikens erstauntem Blick raste der Panamera an den ersten orangefarbigen Leitkegeln auf dem Mittelstreifen vorbei. Vergeblich wartete er darauf, dass die Bremslichter des Porsches aufleuchteten und der Wagen langsamer wurde. Wenn überhaupt, schien Revy nur noch mehr zu beschleunigen, als er mit dem Wagen in die nächste scharfe Kurve fuhr. Glatteis, schoss es von Daeniken durch den Kopf. Sekunden später war Revy aus seinem Blickfeld verschwunden.

So gut es eben ging, versuchte von Daeniken, Revys Porsche zu verfolgen. Er wusste nur zu gut, welches Hindernis ein paar hundert Meter weiter auf Revy wartete: drei Männer in Arbeitsmontur, dreckverkrusteten Hosen und orangefarbenen Sicherheitswesten, mitten auf der Fahrbahn, und ein vierter Mann, der den Verkehr regelte. Auf der Gegenfahrbahn parkte der Transporter der Swisscom. In einem Land, das wie kaum ein anderes darauf bedacht war, die Verkehrswege in tadellosem Zustand zu halten, gehörten Straßenbauarbeiter zum täglichen Bild.

Als von Daeniken aus der Kurve kam, sah er nur kurz die Rücklichter von Wagen eins. Revys Porsche war schon wieder hinter der nächsten Kurve verschwunden. Rasen Sie nicht so, beschwor er Revy in Gedanken, als würde der Arzt ihm mit Absicht einen Strich durch die Rechnung machen und ihnen auf diese Weise zu entwischen versuchen. Runter vom Gas, und zwar ein bisschen plötzlich!

Von Daeniken fuhr gerade noch rechtzeitig die nächste Kurve, um Zeuge des schrecklichen Unfalls zu werden. Manche Dinge im Leben ließen sich einfach nicht planen oder vorhersagen. Während der endlos erscheinenden Sekunden, in denen sich das Drama vor seinen Augen abspielte und sein sorgfältig ausgearbeiteter Plan im wahrsten Sinn des Wortes in Flammen aufging, wusste er genau, was ihn bei der Lagebesprechung in der Berner Zentrale später erwarten würde. Irgendein Klugscheißer würde ihm mit Sicherheit genüsslich unter die Nase reiben, dass es sich bei dieser Gegend bekanntermaßen um ein Naturschutzgebiet handelte, in dem Tiere wie diese nun mal unversehens auf die Fahrbahn laufen konnten.

Aber für den Augenblick konnte er nichts weiter tun, als fassungslos zuzuschauen.

Der Hirsch, der plötzlich aus dem Wald geprescht kam, war der größte, den von Daeniken seit seiner Kindheit in den Bergen um Zinal gesehen hatte. Keine zehn Meter vor Revys zweihunderttausend Franken teurem Sportwagen sprang das Tier vom Berghang kommend mitten auf die Straße und blieb beim Anblick des heranrasenden Autos mit stolz erhobenem Haupt wie angewurzelt stehen. Sein fantastisches Geweih (mindestens achtzehn Enden) zeichnete sich vor der tiefstehenden Nachmittagssonne deutlich ab. Es war allein Revys hervorragenden Reflexen zu verdanken, dass der Wagen nicht frontal in den Hirsch krachte. Der Porsche brach schlingernd nach links aus, und von Daeniken war sich sicher, dass die Bremsleuchten nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde aufleuchteten, als der Wagen von der Straße abkam und den Abhang hinunterstürzte. Einen Moment lang schien der Porsche schwerelos durch die Luft zu schweben, bevor er gegen den Stamm einer hundertjährigen Kiefer prallte und zwanzig Meter tiefer im Fluss aufschlug.

Revy hatte trotz der Airbags und Sicherheitsgurt nicht die geringste Chance. Der Porsche landete kopfüber im Fluss, wobei sein Dach eingedrückt wurde. Von Daeniken, der sofort angehalten hatte und aus dem Wagen gesprungen war, konnte hören, wie Teile der geplatzten Windschutzscheibe auf die Felsen prasselten. Dann bohrte sich die abgebrochene Spitze der Kiefer wie ein Speer in das Wrack. Sekunden später fing der Benzintank Feuer, und kurz darauf ging der Wagen mit einer ohrenbetäubenden Explosion in Flammen auf. Von Daeniken konnte nur hoffen, dass Revy sich bei dem Sturz das Genick gebrochen hatte.

Rund zehn Sekunden lang beobachtete von Daeniken, wie die Flammen aus dem Wageninneren schossen, und bedauerte Revys tragischen Tod. Vielleicht hatte er sogar ein wenig Mitleid mit ihm. Nach und nach versammelten sich seine Männer um ihn und starrten wie Trauergäste mit bleichen, reglosen Gesichtern in die Schlucht. In ein paar Minuten würde der erste Polizeiwagen die Unfallstelle erreichen, gefolgt von der Feuerwehr und schließlich einem Krankenwagen. Auch die Presse würde über kurz oder lang hier auftauchen. Der Unfall war spektakulär genug für einen halbseitigen Bericht mit Farbfotos im Blick, der Boulevardzeitung des Landes. Das durfte von Daeniken unter keinen Umständen zulassen.

»Sorgt dafür, dass niemand durch die Sperren kommt«, wies er seine Kollegen an. »Wir brauchen so schnell wie möglich einen Aufräumtrupp hier oben. Dieser Unfall hat nie stattgefunden.«