10.
Frank Connor stand noch immer unter Schock.
»Was zum Teufel ist dort unten eigentlich los?«, fragte er fassungslos und breitete hilflos die Arme aus.
Vor nicht mal zwei Stunden hatte er tatenlos mitansehen müssen, wie seine beste Agentin verschleppt worden war, um an irgendeinem gottverlassenen Ort gefoltert und ermordet zu werden. Die Satellitenverbindung zu Emmas Kamera war ständig abgerissen, vielleicht wegen einer technischen Störung oder, was wahrscheinlicher war, wegen eines Störsenders. Auf dem letzten Bild, das er von Emma erhalten hatte, konnte er sehen, wie man ihr Handschellen anlegte und sie zwang, in Raschids Auto einzusteigen.
Frank Connor, der Chef von Division, kehrte dem schwarzen Bildschirm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Hier, in Falls Church im Staat Virginia, viele tausend Kilometer vom Wüstenstaat Sharjah entfernt, war der Himmel an diesem Nachmittag grau, verregnet und trostlos. Die ausgedehnten Wälder trugen seit einer Woche keine Blätter mehr. So weit das Auge reichte, sah man nur kahle Bäume. Der Winter stand bereits vor der Tür.
»Vielleicht sollten wir alles noch mal durchgehen«, schlug Peter Erskine, sein Stellvertreter, vor, der zusammen mit Connor im Büro saß. »Wir müssen wohl davon ausgehen, dass Emma von Raschid ins Gefängnis gesteckt wird.«
»Ins Gefängnis? Ich fürchte, wir müssen von weitaus Schlimmerem ausgehen.« Frustriert schüttelte Connor den Kopf. Für ihn stand zweifelsfrei fest, dass Emma Ransom, alias Lara Antonowa, Spitzenagentin des FSB, als Doppelagentin der Amerikaner enttarnt worden und sein so penibel geplanter Mordanschlag auf Prinz Raschid Emma im wahrsten Sinn des Wortes zum Verhängnis geworden war.
»Er wusste Bescheid, Peter. Jemand hat ihm gesteckt, was es mit unserem kleinen Geschenk auf sich hatte.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Schließlich hat Raschid selbst einen Schuss aus der Waffe abgefeuert.«
»Ihm blieb gar nichts anderes übrig. Sonst hätte er vor seinen Männern das Gesicht verloren.«
»Wer wusste denn über die Waffe Bescheid?«, hakte Erskine nach. »Sie, ich, Emma, ein paar der Männer, die für den Transport zuständig waren, und die Büchsenmacher in Quantico. Raschid ist wohl einfach nur paranoid. Das ist nach all den Anschlägen auf ihn in der letzten Zeit auch nicht weiter verwunderlich.«
Connor musterte Erskine skeptisch. »Der Tipp mit der manipulierten Waffe stammte also nicht von Ihnen?«
»Wussten Sie denn nicht, dass ich Raschids Nummer in der Kurzwahl gespeichert habe?«, konterte Erskine souverän.
Connor ließ sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen. »Ich hoffe, Sie haben recht und Raschid ist einfach nur übernervös.« Er fuhr sich mit seiner riesigen Pranke über das Gesicht. »Informieren Sie sofort den CIA-Residenten in Dubai über die Lage. Fragen Sie nach, ob er ein paar Männer bereitstellen kann, die sich dort unten in der Gegend auskennen. Ich will mein Mädchen wiederhaben.«
»Entschuldigen Sie, Sir, wenn ich Ihnen widerspreche«, warf Erskine ein, »aber jede Anstrengung unsererseits, Emma wiederzufinden, kommt dem Eingeständnis gleich, dass sie eine unserer Agentinnen ist. Dann könnten wir Prinz Raschid auch gleich selbst anrufen und ihm mitteilen, dass der Mordanschlag auf das Konto der US-Regierung geht.«
Erskine war ein großer, attraktiver, weltgewandter Mann, der auf eine lange Reihe bedeutender Vorfahren zurückblicken konnte. Wie sein Vater hatte er eine Schildpattbrille auf der Nase und dazu einen dunkelblauen Blazer an, wie ihn schon sein Großvater getragen hatte, und obendrein redete er mit dem singenden Beacon-Hill-Akzent seines Urgroßvaters. Mit seinen fünfunddreißig Jahren, in der Blüte seines Lebens, besaß er schon die Ausstrahlung und den Charme eines schrulligen alten Kauzes.
»Davon dürfte der Prinz doch ohnehin schon ausgehen«, entgegnete Connor.
»Zugegeben, aber zwischen Wissen und Wissen besteht ein nicht ganz unerheblicher Unterschied. Schließlich müssen unsere Regierungen auch weiterhin miteinander sprechen. Außerdem dürfen wir die Interessen der Russen nicht völlig aus dem Blick verlieren. Igor Iwanow wäre über unsere Einmischung sicher alles andere als erfreut.«
»Zum Teufel mit Iwanow«, wetterte Connor über den Chef des russischen Geheimdiensts. »Ich versuche seine Agenten abzuwerben, und er versucht dasselbe mit meinen, so funktioniert das Spiel nun mal. Ich wette zehn Dollar gegen fünf von Ihnen, dass Raschid in diesem Moment am Telefon hängt und Iwanow über alle Vorkommnisse genauestens informiert. Mich interessiert im Augenblick nur, wie wir Emma finden können.«
»Raschid würde es nicht wagen, eine amerikanische Agentin umzubringen«, sagte Erskine. »Dazu hat er nicht den Mumm.«
»Glauben Sie? Er ist ein skrupelloser Mistkerl, so viel steht fest. Und genau genommen ist Emma auch gar keine amerikanische Agentin. Sie ist in Russland geboren und aufgewachsen und wurde an der Akademie des FSB in Jasenewo ausgebildet. Nur ihr Ehemann ist Amerikaner, sonst gibt es nicht einen einzigen offiziellen Hinweis darauf, dass sie für die US-Regierung arbeitet.«
Erskine nickte und schob seine Brille hoch. »Und was ist mit ihrer Zeit bei Division?«
»Darüber dürfte wohl kaum etwas in ihrem offiziellen Lebenslauf stehen, nicht wahr?«
Erskine zog ein langes Gesicht. »Mit anderen Worten, sie ist auf sich allein gestellt.«
Connor wandte den Kopf ab. Manchmal hasste er den Zynismus seines Stellvertreters. Für ihn waren die Dinge bei Weitem nicht so klar wie für Erskine, denn er stand tief in Emmas Schuld. Damals, als Russland bis zum Hals in der Krise steckte und der bankrotte FSB sich gezwungen sah, fast all seine Agenten auf die Straße zu setzen, war er es gewesen, der Emma angeworben hatte. Division steckte noch in den Kinderschuhen und war kaum mehr als ein hinter verschlossenen Türen entwickelter, vielversprechender Einfall aus der Ideenschmiede des Pentagons. Die Agenten von Division sollten sich um all jene Dinge kümmern, die das Weiße Haus nur allzu gern aus der Welt geschafft hätte, aber aus Angst vor den Konsequenzen nicht angehen konnte oder wollte.
Die ersten Jobs waren Rein-raus-Aktionen: Mordanschläge, Entführungen und Diebstahl von streng geheimen Informationen. Jobs, bei denen es mehr um die Ausführung selbst und weniger um Strategie ging. Die Agenten wurden bei der Delta Force, den Green Berets, den SEALs und bei Spezialeinheiten der CIA angeworben. Doch mit dem Erfolg wuchs auch Divisions Ehrgeiz. »Proaktiv handeln« lautete die neue Devise. Die Planungen wurden komplexer. Selbst die höchsten Sicherheitsvorkehrungen stellten für Division keinen Hinderungsgrund mehr dar. Die Agenten erhielten falsche Identitäten und lebten oft jahrelang an ihren Einsatzorten im Ausland. Selbst für die entlegensten Winkel der Welt benötigte Division nun Sprachtalente und öffnete deshalb seine Türen für ausländische Agenten. Freiberufler aus Großbritannien, Frankreich, Italien und nicht zuletzt Russland wurden angeworben.
Division war die Geheimwaffe des Präsidenten und nur ihm verantwortlich. Mit anderen Worten, er machte mit Division verdeckte Außenpolitik mit vorgehaltener Waffe ohne Wissen und Mitspracherecht des Kongresses.
Doch diese Zeiten waren lange vorbei. Der kollektive Aufschrei nach den schrecklichen Ereignissen des 11. September war verstummt. Weitere Anschläge auf amerikanischem Boden waren ausgeblieben, obwohl Connor wusste, dass es etliche Pläne gegeben hatte, die aber rechtzeitig durchkreuzt worden waren. Die Amerikaner hatten vielleicht ein kurzes Gedächtnis, doch das war Connor ganz recht. Im Grunde hieß das, dass sein Land sicher war.
Connor betrachtete Erskine stirnrunzelnd und fasste schließlich einen Entschluss.
»Sie haben recht«, sagte er. »Das war vorschnell. Wir können nicht herumrennen wie kopflose Hühner.«
»Ich bin froh, dass Sie es so sehen«, erwiderte Erskine. »Das Letzte, was Division jetzt gebrauchen kann, ist diese Art von Aufmerksamkeit. Schließlich gehen außer uns alle davon aus, dass Emma Ransom unter dem Namen Lara Antonowa für die Russen arbeitet.«
»Ganz recht, Pete. Das hier ist wohl kaum der richtige Augenblick für Sentimentalitäten.«
Erskine setzte ein ernstes Gesicht auf, um Connor zu zeigen, dass auch er sich Sorgen um Emmas Wohlergehen machte. »Sehen Sie es mal so: Wenn jemand sich aus so einem Schlamassel selbst herausziehen kann, dann Emma Ransom. Sie ist eine echt harte Nuss.«
»Wohl wahr.«
»Über diese Operation darf kein Wort nach draußen gelangen. Eine andere Wahl haben wir nicht. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen, Frank. Emma wusste genau, auf was sie sich da eingelassen hat.«
»Wirklich, Pete? Glauben Sie das im Ernst?« Connor schüttelte reumütig den Kopf. »Und was ist mit Ihrer Frau? Wusste sie vor der Hochzeit, dass sie vielleicht irgendwann die Witwe eines Geheimdienstlers sein würde, oder haben Sie mit der guten Nachricht bis nach der Hochzeitsnacht gewartet?«
Erskine war seit gerade mal sechs Monaten mit einer Anwältin verheiratet, die einem Job mit geregelten Arbeitszeiten im Justizministerium nachging. Er befand sich zurzeit in dem Stadium, wo er jeden Abend daheim anrief und seiner Frau mitteilte, dass er es leider nicht schaffen würde, um sieben zu Hause zu sein.
»Manchmal, mein Junge«, fuhr Connor fort, »frage ich mich ernsthaft, ob überhaupt einer von uns weiß, auf was er sich da eingelassen hat.«
Mit seinen neunundfünfzig Jahren, einer Körpergröße von eins dreiundsiebzig und einem Gewicht von knapp hundertzwanzig Kilo stand Frank Connor ganz oben auf der Liste der besonders gefährdeten Patienten für Herzinfarkt, Diabetes, Schlaganfall und andere Leiden, die ein ausschweifender Lebenswandel mit ungesunder Ernährung, Alkoholmissbrauch und zu viel Arbeit und Stress zwangsläufig mit sich brachte. Sein Doppelkinn hing ihm schlaff bis auf die Brust, von seinen rötlichen Haaren waren nur noch ein paar dünne Strähnen übrig geblieben, und auf seinen Wangen zeigten sich fast so viele Äderchen wie auf einer Straßenkarte der USA. Nur seine blauen Augen blitzten noch so aufgeweckt und herausfordernd wie eh und je.
Während seiner dreißigjährigen Dienstzeit in Washington hatte er im Finanzministerium, im Pentagon und seit nunmehr zehn Jahren bei Division gearbeitet. Alle, die ihn kannten, waren sich einig, dass Frank Connor in Ausübung seines Jobs den Löffel abgeben würde. Auch Connor war fest davon überzeugt und hätte es auch gar nicht anders haben wollen.
»Nun denn«, sagte er. »Wie sagt man so schön, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist? Wir sollten versuchen, das Beste aus diesem Fiasko zu machen.«
»Absolut«, pflichtete ihm Erskine mit übertriebenem Nachdruck bei.
»Wir sollten Raschids Kumpel mal genauer unter die Lupe nehmen. Kennen Sie ihn?«
Von seinem riesigen Schreibtisch aus starrte Connor auf das Bild von Prinz Raschids Begleiter auf dem Computerbildschirm.
»Noch nie gesehen«, entgegnete Erskine. »Wer, glauben Sie, ist der Mann? Ein entfernter Cousin? Ein Warlord aus Afghanistan?«
»Zu aufgetakelt. Der hier hat Klasse.«
»Vielleicht einer von Raschids Wahhabiten-Freunden aus Riad?«
»Von denen würde sich wohl kaum einer an Raschid wenden, wenn er Waffen kaufen will. Dort unten sind doch genug durchgeknallte Fundamentalisten zur Hand, die so etwas direkt vor Ort erledigen können. Außerdem, wenn der Mann tatsächlich einer von den Saudis wäre, wären wir schon längst über ihn im Bilde. Bei all den Augen und Ohren, die wir im königlichen Palast bestochen haben, hätten wir in kürzester Zeit alles über den Mann auf dem Tisch liegen – angefangen von seinem Namen über die Blutgruppe bis hin zu seinem Lieblingsscotch.«
»Vielleicht ein Freund von Balfour?«, überlegte Erskine.
Connor stieß ein verächtliches Grunzen aus. »Der Typ weicht Raschid nicht von der Seite. Haben Sie gesehen, wie der Prinz sich vor ihm ins Zeug legt? Er respektiert den Mann. Wer auch immer unser Freund hier ist, das ist ein einflussreicher Macher. Entweder hat er mal etwas getan, was den Prinzen tief beeindruckt hat – dann müsste er bereits irgendwo in unseren Akten auftauchen –, oder er wird bald etwas Derartiges tun, und dann könnten wir richtig in der Scheiße stecken. Besorgen Sie uns ein vergrößertes Foto von ihm, und lassen Sie es von den Jungs der Technikabteilung bearbeiten. Anschließend schicken Sie je einen Abzug zu unseren Freunden in Langley, beim MI6 und in Jerusalem. Vielleicht kann jemand von ihnen den Mann identifizieren.«
»Wird sofort erledigt.« Erskine machte sich ein paar Notizen auf seinem PDA und verstaute es anschließend in seinem Jackett. Danach wandte er sich zur Tür, doch anstatt hinauszugehen, überprüfte er nur, ob sie fest verschlossen war, kam dann quer durch das Zimmer zurück und setzte sich auf eine Ecke von Connors Schreibtisch. »Wissen Sie, was mir wirklich Sorgen macht, Frank?«
Connor lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Schießen Sie los.«
»Die Waffe, die Balfour gefunden hat.«
»Die Waffe? Das ist wahrscheinlich eine 500-Pfund-Bombe von der Sorte, mit denen wir damals die Mudschaheddin ausgerüstet haben.«
Erskine kniff die Augen zusammen und schüttelte zweifelnd den Kopf. »Er hätte wohl kaum von Emma wissen wollen, ob sie einen direkten Draht zu Igor Iwanow hat, wenn es sich um eine konventionelle Bombe handelt. Können wir uns den Film von Emmas Kamera noch mal genauer ansehen?«
Connor spielte die Aufnahme ein weiteres Mal von Anfang an ab, und beide beobachteten konzentriert, wie Balfour Emma das Foto von der Bombe reichte. Die Bilder waren gestochen scharf. Connor hätte Emma am liebsten an sich gepresst und ihr zum Dank für diese hervorragende Leistung einen Kuss auf die Wange gedrückt. Erskine erhob sich von seinem Platz und trat ganz nah an den 50-Zoll-Monitor heran. »Was, wenn das nicht nur eine 500-Pfund-Bombe ist?«
Connor stützte sich auf die Ellenbogen und beugte sich näher an den Bildschirm heran. »Was wollen Sie damit andeuten?«
»Wenn es sich nun um eine weitaus größere Bombe handelt?«
»Was für eine Bombe? Einen Bunkerknacker?«
»Ich meine nicht die Größe im eigentlichen Sinn«, erwiderte Erskine unheilvoll.
Connor lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich glaube, Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch«, sagte er. »Von so einer Bombe hätten wir doch erfahren.«
Erskine verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Connor nachdenklich über den Rand seiner Brille hinweg. »Sind Sie da wirklich so sicher?«