75.
Flug 333 der Pakistan International Airlines von Islamabad über Karachi nach New York City überflog soeben mit einer Geschwindigkeit von 590 Knoten in 11 887 Meter Höhe die schneebedeckten Ebenen Mitteleuropas. Die Maschine sollte voraussichtlich um sieben Uhr morgens EST, also fünfzehn Minuten früher als geplant, landen. Die Temperaturen in New York lagen um den Gefrierpunkt, mit Schneefällen war zu rechnen.
Auf seinem Sitz in Reihe 22 entspannte sich Jonathan gerade mit einer Dr Pepper in der Hand. Die PIA war eine muslimische Fluglinie und servierte keinen Alkohol an Bord.
»Wohin, glaubst du, wollte Haq mit der Bombe?«, wandte sich Jonathan fragend an Danni und lehnte seinen Kopf an die Kopfstütze seines Sitzes.
»Haq? Nach New York City, so wie alle. Jeder Terrorist, der etwas auf sich hält, versucht, den 11. September noch zu übertrumpfen. Hast du eine Ahnung, was sein Zielobjekt gewesen sein könnte?«
»Nein.« Jonathan nippte an seinem lauwarmen Getränk. Nicht nur, dass es an Bord keinen Alkohol gab, mit Eis konnten sie auch nicht dienen. »Wohin werden sie ihn wohl bringen?«
»Immerhin ist es euer Marschflugkörper, aus dem die gestohlene Bombe stammt. Ich vermute, dass sie ihn ins Militärgefängnis gebracht haben. Hoffentlich stecken sie ihn in das finsterste Loch und lassen ihn dort verrecken.«
»Amen«, sagte Jonathan und erschrak ein wenig über die Intensität seines Hasses. »Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, mich aus der Politik herauszuhalten. Mein Vater war ein Erbsenzähler beim obersten Rechnungshof. Das sind die Typen, die kontrollieren, wie viel Geld tatsächlich in Washington ausgegeben wird. Solange ich denken kann, hat er sich immer über die Regierung aufgeregt, aber im Grunde hat er nur gemeckert und selbst nie etwas unternommen, um die Dinge zu ändern. Sein Lieblingsspruch war, dass man ohnehin nichts gegen die in Washington und ihre Politik ausrichten könne. Genau deshalb habe ich mich entschlossen, Medizin zu studieren. Ich wollte mir und allen anderen beweisen, dass es auch anders geht und dass ich im Kleinen durchaus etwas bewirken und ändern kann. Lange Zeit war ich glücklich damit. Vielleicht hat es mir auch das Gefühl vermittelt, wichtig zu sein. Aber nachdem ich mit dir und Connor zusammengearbeitet habe, hat sich für mich alles geändert. Jetzt kommt es mir so vor, als hätte ich mich mein Leben lang vor meiner Verantwortung gedrückt.« Nachdenklich runzelte Jonathan die Stirn und schüttelte sich bei dem Gedanken an die Tragödie, die der Welt im letzten Moment noch einmal erspart geblieben war. »Die Vorstellung, was ein einzelner, zu allem entschlossener Mann anrichten kann, ist wirklich beängstigend.«
Danni nickte zustimmend. »Ich kenne weder Haq noch seine Beweggründe. Dass er den Westen hasst, kann ich ihm aber nicht verübeln. Immerhin ist es sein Land, und ihr sollt von dort verschwinden. Genauso wie die Palästinenser wollen, dass wir aus ihrem Land verschwinden. Mit der Zeit lernt man, beide Seiten ein wenig besser zu verstehen.«
»Aber das rechtfertigt noch lange keinen Bombenanschlag«, warf Jonathan ein.
Danni lächelte bitter. »Jetzt hörst du dich aber durch und durch politisch an.«
»Dann habe ich mich wohl geändert. Oder aber die Welt hat sich geändert.«
Jonathan schaute vor zum Cockpit, aus dem der Pilot gerade mit großen Schritten durch den Gang auf sie zukam. Als er Reihe 22 erreicht hatte, blieb er stehen.
»Sind Sie Mrs. Pine?«, erkundigte er sich mit leiser, eindringlicher Stimme und beugte sich verschwörerisch zu Danni hinunter.
Danni stellte die Rückenlehne ihres Sitzes in die aufrechte Position zurück. »Ja.«
»Ich soll Ihnen eine vertrauliche Nachricht überbringen.« Fragend blickte der Pilot von Danni zu Jonathan und wieder zurück. »Möchten Sie mir vielleicht in den hinteren Teil der Kabine folgen?«
»Das ist nicht nötig. Sie können vor diesem Mann ganz offen sprechen.«
Der Pilot beugte sich noch tiefer zu Danni herunter. »Ein Oberst Yaz vom Direktorat der ISI meines Landes bat mich, Ihnen auszurichten, dass er ein persönlicher Freund von Benny ist.«
Mit einem Nicken gab Danni dem Piloten zu verstehen, dass er fortfahren solle.
»Er lässt Ihnen sagen, dass es offenbar ein Missverständnis gegeben hat. Die Person, mit der Sie in Deutschland verabredet waren, und ihr spezielles Reisegepäck waren nicht an Bord des Flugzeugs. Er lässt fragen, ob Sie zufällig wissen, wohin Ihr Freund als Nächstes reisen wollte. Falls ja, soll ich die Information so schnell wie möglich an ihn weiterleiten.«
Fassungslos sahen sich Jonathan und Danni an, und Jonathan spürte, wie sich seine Muskeln vor Anspannung verkrampften. »Mein Gott«, stieß er hervor. »Das kann doch nicht wahr sein.«