23.

Das Bergungsteam bestand aus acht Leuten. Einer von ihnen war ein hochgewachsener Hubschrauberpilot aus Pakistan, der seit vierzig Jahren Rettungseinsätze im Hindukusch flog. Der Bergführer, der den Marschflugkörper gefunden hatte, war ein Bauer aus der Gegend und kannte die Route in- und auswendig. Außerdem gehörten noch zwei Atomphysiker und Veteranen des Netzwerks A.Q. Khans, drei Träger für die Ausrüstung und Emma mit zum Team.

Emma war die Teamleiterin oder, wie Balfour ihr eingeschärft hatte, »seine rechte Hand, um die anderen im Zaum zu halten und dafür zu sorgen, dass sie das Ziel nicht aus den Augen verlieren«. Doch Emma dachte nicht daran, sich allein auf ihre von Balfour zugewiesene Sonderstellung zu verlassen. Für alle Fälle hatte sie in ihrem Rucksack eine Uzi verstaut.

Punkt elf Uhr vormittags stand Emma auf einem zweitausendsechshundert Meter hoch gelegenen Landeplatz in Chitral, vierhundert Kilometer nordöstlich von Islamabad und einen Steinwurf von der afghanischen Grenze entfernt, wenn man denn einen Stein über die hoch aufragenden Berggipfel rund um das ärmliche Dorf hätte werfen können. Mit dem Rücken zum eisigen Nordwind studierte Emma zusammen mit dem Piloten und dem Bergführer eine Wanderkarte für die Region.

»Bombe sein hier.« Der Bergführer deutete auf einen roten Punkt in der Nähe des Tirich-Mir-Gipfels.

»Das ist aber verdammt hoch«, stellte Emma beim Blick auf die Höhenangabe fest. »Siebentausend Meter.«

»Keine Sorge, Madam«, beruhigte sie der Bergführer in seinem abgehackten, gebrochenen Englisch. »Bombe nicht sein siebentausend Meter hoch. Schneelawine im Frühling. Vielleicht Bombe rutschen runter am Berg. Jetzt vielleicht sein sechstausend Meter hoch. Nicht mehr.«

Emma ließ sich die Informationen durch den Kopf gehen. Sechstausend Meter waren immer noch sehr hoch. Ohne ausreichend Zeit, sich zu akklimatisieren, würde das Team Sauerstoff brauchen. »Sind Sie sicher, dass Sie die Stelle wiederfinden?«

»Mein Bruder dort oben. Lord Balfour zahlen.«

Emma wandte sich an den Piloten. »Wie hoch kommen Sie mit dem Hubschrauber?«

»Fünftausend Meter.«

»Nicht höher? Mehr ist wirklich nicht drin?«

»Bei meinem Heli nicht. In dieser Höhe ist die Luft ziemlich dünn, sodass es schwierig wird mit dem Auftrieb. Um noch höher auf den Berg zu kommen, brauchen Sie einen Militärhubschrauber. Tut mir leid.«

»Gibt es wenigstens einen Platz in der Nähe, wo wir runtergehen können?«

»Keinen offiziellen Landeplatz, falls es das ist, was Sie wissen wollten. Dort oben lebt kein Mensch. Sogar die Vorstellung, bis in alle Ewigkeit in der Hölle zu schmoren, wäre verlockender. Ich schlage vor, wir sehen uns dort oben mal um. Wenn wir Glück haben, finden wir einen geeigneten Platz zum Landen.« Der Pilot warf Emma einen Blick zu. »Kann ich Sie mal unter vier Augen sprechen?«

»Natürlich«, erwiderte Emma und bat den Bergführer, sie für einen Moment allein zu lassen. Widerwillig zog sich der Bergführer ein paar Schritte von ihnen zurück. Der Pilot richtete den Blick zum Himmel, an dem gerade Quellwolken aufzogen. »Da oben braut sich ganz schön was zusammen. Wenn Sie den Wind hier unten schon unangenehm finden, dann werden Sie oben auf dem Berg Ihr blaues Wunder erleben. Rechnen Sie mit Orkanböen. Wahrscheinlich wäre es besser, die Expedition zu verschieben.«

Eine Schlechtwetterfront zu dieser fortgeschrittenen Jahreszeit bedeutete Neuschnee auf dem Berg. Im schlimmsten Fall würde die Bombe wieder unter den Schneemassen begraben werden, bis im Mai oder Juni Tauwetter einsetzte. Das konnte Emma auf keinen Fall riskieren. »Wir werden es schon schaffen«, sagte sie in entschiedenem Ton. »Tanken Sie fertig auf, damit wir so schnell wie möglich aufbrechen können.«

»Wir also gehen?«, erkundigte sich der Bergführer, der jedes Wort mit angehört hatte. Wenn die Expedition stattfand, würde er viel Geld bekommen und seinen Knochenjob für immer an den Nagel hängen können.

»Ja, wir gehen«, sagte Emma.

Der Bergführer setzte ein zufriedenes Grinsen auf und befahl den Trägern und Ingenieuren in herrischem Ton, dass sie sofort in den Hubschrauber steigen sollten. Emma verzog keine Miene, obwohl sie ähnlich gute Gründe hatte, ohne weitere Verzögerung auf den Berg zu kommen. Ihr Leben und ihre Zukunft hingen vom Erfolg dieser Expedition ab. Über Handy informierte sie Balfour, dass das Auftanken des Hubschraubers abgeschlossen sei und sie in wenigen Minuten aufbrechen würden. Von jetzt an würden sie nur noch über Funk in Kontakt bleiben.

Emma kletterte auf den Sitz des Copiloten und zog die Tür hinter sich zu. Als der Helikopter Sekunden später abhob, wurde er sofort von den starken Windböen kräftig durchgeschüttelt. Sie überflogen Chitral, das aus der Luft wie ein Labyrinth aus Lehmwänden und heruntergekommenen Gebäuden mit zahllosen bunten Gebetsfahnen aussah. Der Pilot drückte den Steuerknüppel nach links und drehte ab. Kurze Zeit später hatten sie das Hochplateau hinter sich gelassen und nahmen Kurs auf die bedrohlich aufragenden Berggipfel direkt vor ihnen.

Hinter Emma hockten der Bergführer und die Ingenieure zusammengepfercht auf den Sitzen und sahen alles andere als begeistert aus. Die Träger hatten sich mit der Ausrüstung in den Gepäckraum gequetscht. Emma lehnte sich in ihrem Sitz zurück und blickte aus dem Plexiglas-Fenster. Vor ihnen lag eine vollkommen unberührte Landschaft mit schroffen Berggipfeln und zahllosen Schluchten. Der Wind ließ ein wenig nach, und Emma hatte das Gefühl, sie würden einem riesigen weißen Ungeheuer in den Schlund fliegen. Der Höhenmesser zeigte viertausend Meter an, aber schon jetzt waren sie von den aufragenden Berggipfeln fast eingekesselt. Die gewaltigen schneebedeckten Felswände kamen den Rotorblättern bedrohlich nahe. Es kam Emma so vor, als müsse sie nur den Arm aus dem Fenster strecken, um die scharfen Felsvorsprünge mit der Hand berühren zu können.

Energisch verbannte sie alle Tagträumereien aus ihrem Kopf und versuchte, sich nur noch auf die alles entscheidende Mission zu konzentrieren. Für gewöhnlich war ihre Fähigkeit, sich voll und ganz einer anstehenden Aufgabe zu widmen, eine ihrer herausragenden Stärken. Doch seit geraumer Zeit verlor sie sich immer öfter in Tagträumen. Seit Tagen, wenn nicht gar Wochen, ertappte sie sich dabei, und stets wanderten ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit. Hier, beim Blick auf das gewaltige Gebirgsmassiv, das sie zu verschlingen schien, merkte Emma, dass sie geradezu magisch von der Vergangenheit angezogen wurde.

Sie kannte nur einen einzigen Menschen, der die Berge noch leidenschaftlicher liebte als sie selbst.

»Sein Name ist Ransom. Er ist Chirurg. Wir glauben, dass er die ideale Tarnung für dich ist.«

Der Mann auf dem Foto war groß, schlank und trug Jeans, Parka und einen Rucksack. Das dunkle Haar über dem Gesicht mit der markanten Nase und den vollen Lippen war von ein paar grauen Strähnen durchzogen. Aber das Auffälligste an ihm waren seine pechschwarzen, ausdrucksstarken Augen.

»Nicht gerade ein Partyhengst, oder?«, sagte Emma, während sie das Foto zurück über den Tisch schob. »Für mich sieht er eher aus wie ein Student und nicht wie ein Chirurg.«

»Er beendet gerade ein Fellowship für plastische Chirurgie in Oxford. Anscheinend ist er als Arzt sehr gesucht. In England und Amerika wurde er mit Stellenangeboten geradezu überschüttet.«

»Ist er einer von uns?«

»Gott bewahre«, wiegelte der Zwei-Sterne-General John Austen, der unumstrittene Held der Air Force und Gründer von Division, ab. »Alles, nur das nicht. Nur einer, der sich bei Ärzte ohne Grenzen beworben hat.«

Emma zog das Foto noch einmal zu sich herüber. »Ein Weltverbesserer?«, fragte sie skeptisch.

»Sind wir das nicht alle?« Austen schlug eine Akte auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Dein nächster Einsatzort ist Nigeria. Der Stellvertreter des Premierministers stellt sich quer und versucht, sich als der große Macker aufzuspielen. Er hat gedroht, Verträge mit unseren Freunden in Houston platzen zu lassen. Der Idiot glaubt doch tatsächlich, dass sein Land ohne uns in der Lage ist, Öl zu fördern und auf den Markt zu bringen.«

»Und ich soll ihn vom Gegenteil überzeugen?«

»Entweder das oder ihn am besten gleich ganz aus dem Weg räumen«, erwiderte Austen.

»Immer mit der Ruhe, General, so weit müssen wir wahrscheinlich gar nicht gehen«, meldete sich der zweite Mann im Raum zu Wort. Er war fett, schwitzte ständig und trug fast immer und überall nur kurzärmelige Hemden. Emma erinnerte sich, dass sein Name Frank Connor war. »Seit geraumer Zeit bedient sich der Vizepremier großzügig aus der Staatskasse. Uns wäre sehr geholfen, wenn Sie Beweise für seine Unterschlagungen besorgen und den guten Mann daran erinnern könnten, wo seine wahren Interessen liegen.«

»Und wenn er sich dann immer noch querstellt, spiele ich die Beweise dem Premierminister zu«, fügte Emma hinzu. »Der würde dann unverzüglich veranlassen, dass man seinen Stellvertreter mit Klavierdraht gefesselt zu ihm führt, damit er dem Schurken mit einem rostigen Messer die Eier abschneiden kann.«

Connor runzelte die Stirn. »Das hört sich realistisch und äußerst überzeugend an.«

»Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir den Mistkerl ausschalten sollten«, widersprach John Austen. »Aber in diesem Fall überlasse ich Frank das letzte Wort, weil er für die Operation verantwortlich ist.«

Connor wandte sich erneut an Emma. »Sie werden einen Monat vor Ransom bei Ärzte ohne Grenzen einsteigen. Es war alles andere als einfach, aber wir haben Ihnen eine Stelle als Projektleiterin besorgt. Mit anderen Worten, Sie sind das Mädchen für alles und halten alle Fäden in der Hand. Keine Sorge, uns bleiben noch ein paar Wochen, um Sie für Ihren neuen Job fit zu machen. Versuchen Sie an Ransom ranzukommen, und wir werden dafür sorgen, dass man ihn nach Lagos schickt. Auf der Krankenstation in Lagos arbeiten vor allem Einheimische. Sie müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass Sie für Ransom unentbehrlich werden und er Sie überallhin mitnimmt. Niemand wird einem kompetenten Arzt und seiner engsten Mitarbeiterin misstrauen.«

Emma hasste Afrika. Dort war es einfach zu heiß und zu schwül, und außerdem gab es dort entschieden zu viele Krabbeltiere. »Wie lange wird der Einsatz dauern?«

»Insgesamt? Zwei Monate in Liberia. Danach hängt es von Ihnen ab, wie schnell Sie Ihre Aufgabe in Nigeria erledigen. Im besten Fall sechs Monate.«

»Und danach?«

»Das Übliche. Sie trennen sich von Ransom, und wir ziehen Sie ab. Danach machen Sie zwei Monate Urlaub und aalen sich an irgendeinem Strand in der Sonne.«

Emma warf einen letzten Blick auf das Foto und spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Ransom war attraktiv, so viel stand fest. Aber etwas an ihm machte sie nervös. Etwas an seinem Blick. Er wirkte wie ein Mann, der aus Überzeugung handelte. Genau wie sie selbst. Deshalb konnte er ihr gefährlich werden. Emma nahm sich fest vor, sich vor Ransom in Acht zu nehmen. Sechs Monate waren eine lange Zeit. »Wie sind Sie auf ihn gekommen?«

Austen nahm ihr das Bild aus der Hand und steckte es zurück in die Akte. »Das geht Sie nichts an.«

Der Hubschrauber landete auf einem Felsplateau in viereinhalbtausend Meter Höhe. Emma öffnete die Tür und sprang heraus. Die Kälte traf sie wie ein Hammerschlag. Von Osten her zogen dichte Quellwolken über dem Gipfel des Tirich Mir auf. Während des einstündigen Flugs war der Himmel zum größten Teil unter einer dichten grauen Wolkendecke verschwunden. Die Schlechtwetterfront kam näher.

In ihrem Rucksack kramte Emma nach dem GPS-Empfänger von Magellan. Den Angaben auf dem Gerät nach zu urteilen, befand sich der Fundort der Bombe rund zweiundzwanzig Kilometer von ihnen entfernt. Dabei nicht mit berücksichtigt war allerdings der Höhenunterschied von fünfzehnhundert Metern, dass eine markierte Kletterroute fehlte und, was ihnen wahrscheinlich die größten Probleme bereiten würde, dass die Luft hier oben sehr dünn war. Auf sich allein gestellt, könnte sie die Strecke mit etwas Glück in sechs Stunden bewältigen. Emma warf einen Blick über die Schulter auf die Träger, die die Ausrüstung aus dem Hubschrauber luden. Jeder würde eine Last von vierzig Kilo auf dem Rücken tragen, aber das sollte kein Problem sein. Ein Stück daneben standen die beiden Atomphysiker und versuchten unbeholfen, sich mit den Armen warm zu klopfen. Einer von ihnen stolperte ein paar Schritte vorwärts, bevor er sich nach vorn beugte und mit den Händen auf den Knien abstützte. Die beiden würden Probleme machen, das war nicht zu übersehen.

Emma gesellte sich zu dem Bergführer. »Die beiden Männer dort drüben brauchen Sauerstoff«, wies sie ihn an. »Und sagen Sie den Trägern, dass sie einen Zahn zulegen sollen. In zwanzig Minuten brechen wir auf.«

Mit eiligen Schritten entfernte sich der Bergführer. Emma wandte den Blick zum dunklen Himmel.

Probleme, wohin sie auch sah.