58.
Sie standen sich in Balfours dunklem Büro gegenüber. Eine endlose Minute lang sprach keiner von ihnen ein Wort. Jonathan nutzte die Zeit, um Emma eingehend zu betrachten. Ihre Haare waren zu einem glatten Pferdeschwanz zusammengebunden, die Wangen braungebrannt und ihre Lippen rau und gesprungen. Am Kinn entdeckte er eine Narbe, die er an ihr noch nie gesehen hatte. Sie musste von einer tiefen Schnittwunde stammen, die genäht worden war. Emmas Kleidung bestand aus einer locker fallenden schwarzen Bluse und einer Jeans. Beide Kleidungsstücke gehörten nicht ihr, so viel stand fest. Als er ihrem Blick begegnete, traf ihn der Schock, sie ausgerechnet hier zu sehen, mit voller Wucht. Trotzdem hatte er nicht das Bedürfnis, sie in die Arme zu schließen, und war auch nicht überwältigt beim Anblick der verloren geglaubten Geliebten. Er hatte schon vor Monaten entschieden, Emma nicht mehr als seine Ehefrau zu betrachten, obwohl er sie zweifellos immer noch liebte und vielleicht sogar noch mehr als das. Sogar in diesem Moment fühlte er sich von ihrer ungezähmten, wilden Schönheit magisch angezogen. Kaum eine Armlänge von ihm entfernt, hörte er Emmas langsamen, flachen Atem und roch den warmen Duft von Sandelholz auf ihrer Haut, und die animalische Anziehungskraft ihrer ganzen Persönlichkeit erregte und faszinierte ihn noch genauso wie am ersten Tag.
»Was in drei Teufels Namen tust du hier?«, fragte Emma mit gedämpfter Stimme, die vor Zorn bebte.
»Das könnte ich genauso gut dich fragen«, erwiderte Jonathan.
Emma schleuderte den USB-Stick zurück auf den Tisch. »Connor hat also auch dich rumgekriegt. Er muss verdammt stolz auf sich sein. Was hat er dir denn erzählt?«
»Dass du Balfour geholfen hast, den atomaren Sprengkopf vom Berg zu holen. Mehr brauchte er gar nicht zu sagen.«
»Das muss eine ziemliche Überraschung für ihn gewesen sein.«
»Warum, Emma?«
»Hat Frank etwa vergessen, das zu erwähnen? Er hat ein falsches Spiel mit mir getrieben, Jonathan. Er wollte mich aus dem Weg räumen.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Was, bitte schön, weißt du denn?«
»Dass du einem halbirren Waffenhändler hilfst, der im Begriff steht, einem überaus fähigen, taktisch planenden Terroristen eine Atombombe zu verkaufen. Der Mann wird keine Sekunde zögern, sie gegen die USA einzusetzen.«
»Du hast absolut keine Ahnung!«
»Ich weiß, dass Prinz Raschid dich gefoltert hat.«
»War das der Köder, mit dem Frank dich angeworben hat? ›Nur Sie können Ihre arme Frau retten.‹«
Jonathan tastete nach ihrer Hand. »Bist du in Ordnung?«
»Ich bin am Leben. Nur ein paar Narben. Nichts weiter als Schönheitspflästerchen unseres Jobs, Liebling. Also warum kümmerst du dich nicht einfach um deine eigenen Angelegenheiten?«
»Weil du immer noch ein Teil davon bist, Emma.«
»Ich war noch nie Teil deiner Angelegenheiten, Jonathan«, fuhr sie ihn zornig an. »Es war von Anfang an genau andersherum. Kapier das endlich!«
»Das glaub ich nicht.«
»Glaub doch, was du willst«, sagte sie, als ob sie es leid wäre, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Dann verlagerte sie ihr Gewicht auf den anderen Fuß, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht wirkte wie ausgewechselt. Innerhalb von Sekunden war alle Passivität von ihr abgefallen, und vor Jonathan stand wieder die eiskalte Agentin. »Mich würde interessieren, wie du es geschafft hast, in Balfours hochgerüstete Festung zu kommen.«
»Die pakistanische Regierung will Balfour ausweisen. Er hat einen Schweizer Chirurgen angeheuert, um sein Aussehen zu verändern. Auf diese Weise hofft er, unbemerkt untertauchen zu können, nachdem er die Bombe verkauft hat.«
»Und Connor hat dich anstelle des Chirurgen eingeschleust?«
»So ungefähr.«
»Jetzt weißt du also, wie es ist, in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Und, gefällt es dir?«
»Nicht besonders.«
»Dann verstehst du vielleicht, wie ich mich gefühlt habe.« Emma drückte das Kinn an die Brust und imitierte Connors ernsten Tonfall. »Kopf hoch, Augen zu und durch, Dr. Ransom.«
»Lass das.« Jonathan packte Emma an den Schultern. »Wieso bist du noch hier?«
»Das war ein Teil der Abmachung. Balfour hat mir das Leben gerettet. Als Gegenleistung habe ich für ihn die Bombe vom Berg geholt, und jetzt zeige ich ihm, was es heißt, unter falschem Namen zu leben. Seit zehn Jahren tue ich schließlich nichts anderes. Eine bessere Lehrmeisterin als mich dürfte er wohl kaum finden.«
»Morgen will Balfour die Bombe übergeben. Das müssen wir unbedingt verhindern. Wo soll die Übergabe stattfinden?«
Emma lächelte kalt und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Dieser Sache hier bist du nicht gewachsen, Jonathan.«
»Du hast mir ja keine Wahl gelassen.«
»Du hättest doch einfach ablehnen können.«
»Nicht unter diesen Umständen, nein.«
Emma entzog sich seinem Griff. »Geh zurück in dein Zimmer, und leg dich schlafen. Und wenn du morgen früh aufwachst, solltest du dir einen überzeugenden Grund für deine sofortige Abreise überlegt haben. Oder vielleicht sollte ich dir besser auf die Sprünge helfen: Unter Beschuss zu stehen ist nichts für dich. Deine Nerven lassen dich im Stich. All die Aufregung von heute Nacht war einfach zu viel für dich.«
»Du weißt, dass ich das nicht tun kann, Em.«
»Du bedeutest Connor nicht das Geringste. Er weiß genau, dass du nie im Leben lebend hier rauskommen wirst. Glaubst du wirklich, dass Balfour dich ziehen lassen wird, nachdem du ihn operiert hast? Dich, einen Europäer? Schon allein wegen deiner Hautfarbe bist du eine ständige Bedrohung für ihn. Wenn du jetzt abhaust, hast du noch eine Chance.«
»In dem Gebäude dort drüben liegt ein Atomsprengkopf. Bevor ich diese Information nicht an Connor weitergegeben habe, gehe ich nirgendwo hin. Wo ist Hangar 18? Was bedeutet EPA?«
Emma hüllte sich in Schweigen.
»Zusammen können wir es schaffen«, beschwor Jonathan seine Frau. »Wir können die Sache in Ordnung bringen.«
»Ich gehöre nicht zu deinem Team, Jonathan.«
In Emmas Augen lag ein Ausdruck, den Jonathan noch nie zuvor an ihr gesehen hatte und der ihm Angst einjagte. Sie musterte ihn mit der militanten Wut einer Fanatikerin. Vor gar nicht langer Zeit war diese Frau für ihn Geliebte, Ehefrau, Vertraute und engste Freundin gewesen. Jonathan begriff, dass Emma ihm fremd geworden war. Sie war eine Fremde. Wenn er aus dieser Sache lebend rauskommen wollte, musste er sie als seine Feindin betrachten.
»Ich lasse nicht zu, dass du ihm hilfst, Emma.«
Ihr Blick wanderte zu dem Messer in seiner Hand. »Sieh dich vor«, sagte sie. »Damit könntest du jemanden verletzen.«
»Wo findet die Übergabe statt?«
Blitzschnell wie eine Kobra umklammerte Emma Jonathans Handgelenk mit eisernem Griff und zog die Hand mit dem Messer an ihre Kehle. »Haben sie dir beigebracht, wo du zustechen musst, damit ich nicht mehr schreien kann? Genau hier. Direkt unter dem Schlüsselbein.« Jonathan versuchte, seine Hand aus ihrem Griff zu befreien, aber Emma war einfach zu kräftig für ihn. »Ein Stich mit nach unten gerichteter Klinge«, fuhr sie fort, »und du triffst genau ins Herz. Wenn du schnell genug zustichst, hat dein Gegner keine Zeit zu reagieren.« Sie ließ die Hände sinken und reckte das Kinn vor. Ungeschützt stand sie vor ihm. »Nur zu«, forderte sie ihn auf.
Jonathan zog die Hand mit dem Messer zurück. Im Dämmerlicht funkelten ihre Augen wie Smaragde. Er konnte den Duft ihrer Haare riechen und kleine Schweißperlen auf ihrer Wange sehen. Sie hob das Gesicht und küsste ihn. Ihre Lippen hingen an seinen. »Verschwinde von hier, oder ich verrate Balfour, wer du wirklich bist.«
»Das würdest du niemals tun.«
»Ich an deiner Stelle würde es nicht drauf ankommen lassen.«
»Und wenn ich Balfour erzähle, dass du meine Frau bist?«
Emma presste ihren Körper an seinen. »Dazu hast du nicht den Mumm.«
Jonathan trat einen Schritt zurück und musterte sie entsetzt. »Was ist mit dir passiert, Emma?«
Ihre Blicke trafen sich, und Jonathan sah, wie Emmas Augen weicher wurden. Sie ließ die Schultern sinken und seufzte. »Ich bin …«
Vom Parkplatz drang Balfours Stimme zu ihnen hinauf, und Emma brach mitten im Satz ab. »Dahinter kann unmöglich nur eine einzelne Person stecken«, hörten sie Balfour schimpfen. Schwere Stiefel stampften über den gepflasterten Hof. »Und obendrein ist sie uns auch noch entwischt! Ich sollte euch alle im Morgengrauen an die Wand stellen und erschießen. Ohne Augenbinde und eine letzte Zigarette. Nutzlose Taugenichtse seid ihr! Sind wenigstens meine Gäste wohlauf?«
Emma sah aus dem Fenster. »Er kommt jetzt rein. Geh zurück in dein Zimmer, und tu, was ich dir gesagt habe. Das ist deine einzige Chance.«
Jonathan warf einen prüfenden Blick auf den Parkplatz, der einsam und verlassen dalag. Dann drehte er sich wieder zu Emma um. »Was wolltest du eben sagen? Du bist was?«
Doch jedes Anzeichen von Schwäche war von Emma abgefallen, als hätte es nie existiert. »Nichts«, entgegnete sie. »Vergiss die Sache. Wenn du morgen nicht abreist, mache ich meine Drohung wahr. Hörst du?«
Jonathan schwang ein Bein über den Fenstersims und tastete mit den Zehen nach einer Spalte. Vorsichtig kletterte er Stück für Stück an der Wand entlang nach unten.
Erst als er wieder bei fest verschlossenem Fenster an seinem Schreibtisch saß und sich emsig notierte, was er im obersten Stockwerk entdeckt hatte, fiel ihm siedend heiß ein, dass er Connors USB-Stick auf Balfours Schreibtisch vergessen hatte.