57.
Das war die Gelegenheit.
Mit dem Rücken an die Tür gelehnt, lauschte Jonathan den schnellen Schritten in den Fluren. Die Motoren der auf dem Parkplatz abgestellten Jeeps heulten auf, und die Geräusche der davonrasenden Autos vermischten sich mit dem anhaltenden MG-Feuer der Scharfschützen auf dem Dach. Jonathan eilte zum Fenster und blickte gerade noch rechtzeitig hinaus, um Balfour und Mr. Singh zu sehen, die mit Maschinengewehren bewaffnet in einen der Range Rover stiegen und davonfuhren. Balfour war alles andere als ein Feigling, das musste Jonathan ihm lassen.
Als die Wagen außer Sichtweite waren, öffnete Jonathan das Fenster und steckte den Kopf hinaus. Das gesamte Anwesen war in Dunkelheit gehüllt. Weder im Haupthaus noch in der Werkstatt brannte Licht, und selbst wenn die Überwachungsanlage noch funktionieren sollte, gab es im Moment wichtigere Dinge zu tun, als jede Bewegung des ausländischen Arztes zu kontrollieren.
Von jetzt an zählte jede Minute. Jonathan zog sich das Jackett und die Schuhe aus. Dann holte er den als Rasierklinge getarnten USB-Stick und steckte ihn in die Hosentasche. Hände und Finger rieb er sorgfältig mit Talkumpuder ein. Dreißig Sekunden später stand er draußen auf dem Fenstersims. Der Parkplatz unter ihm lag wie ausgestorben da. In den Ställen wieherten die Pferde in Panik, sobald die nächtliche Stille von neuen Gewehrsalven unterbrochen wurde.
Vorsichtig zwängte Jonathan die Zehen des rechten Fußes in die Fugen zwischen den Mauersteinen der Fassade. Ein kurzer Test bestätigte ihm, dass seine Zehen und Finger ausreichend Halt in den Spalten fanden, um an der Außenwand nach oben zu klettern. Dann hob er das linke Bein und stützte sich mit dem Fußballen auf dem Fenstersturz ab. Bei einer Breite von zehn Zentimetern war der Sturz für einen geübten Kletterer wie ihn fast so etwas wie eine Treppenstufe. Hoch aufgerichtet gelang es ihm, mit den Fingern bis zum Fenstersims von Balfours Bürofenster zu gelangen. Mit den Zehen tastete er nach der nächsthöheren Fuge und zog sich auf diese Weise langsam Stück für Stück nach oben.
Nach einer kurzen Prüfung stellte er fest, dass das Fenster von Balfours Büro verriegelt war. Vergeblich suchte er nach einer Möglichkeit, es zu öffnen. Auf dem Parkplatz war noch immer kein Mensch zu sehen, doch Jonathan musste damit rechnen, dass Balfour und Singh in Kürze zurückkommen würden. Die Entfernung zum nächsten Fenster betrug etwa drei Meter. Jonathan hangelte sich vorsichtig hinüber. Dieses Mal hatte er Glück. Das Fenster ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen.
Erleichtert stieg er durch das Fenster. Einen Moment lang verharrte er mucksmäuschenstill auf der Stelle. Sein Hemd klebte ihm schweißnass am Rücken. Die Tür zum Flur war verschlossen, und er spürte, dass er allein im Zimmer war. Mit einer Stiftlampe, die er aus der Hosentasche zog, sah er sich im Zimmer um.
Das Fenster gehörte nicht zu Balfours Büro, sondern zu einem Schlafzimmer, das ähnlich geschnitten und eingerichtet war wie seines. Auf der Ablage neben dem Kleiderschrank lag ein geöffneter Koffer mit Männerkleidung: Hemden, Unterwäsche, Socken. Darunter standen ein Paar Slipper. Sie waren auffallend groß. Bei genauerem Hinsehen stellte Jonathan fest, dass die Kleidung von ausländischen Herstellern angefertigt worden war, deren Namen er nicht kannte.
Auf dem Schreibtisch entdeckte er einen Koran auf einer dicken Aktenmappe voller Papiere. Daneben lag ein Ticketumschlag von Ariana Airlines mit einer Flugreservierung von Kabul nach Islamabad. Jonathan befand sich im Schlafzimmer von Sultan Haq.
Hastig blätterte Jonathan die Mappe durch. Sie enthielt Computerausdrucke von islamischen Internetseiten, einige davon in Paschto, eine Karte vom Flughafen in Islamabad mit einigen handschriftlich notierten Nummern und Buchstaben am oberen Rand und einen hellblauen Brief, den offensichtlich ein Kind geschrieben hatte. Jonathan versuchte den Brief zu lesen. Obwohl er in Paschto abgefasst war, konnte Jonathan einige der Wörter entziffern: »Geliebter Vater, ich vermisse Dich jetzt schon … ich bin sehr traurig, dass Du nicht miterleben wirst, wie ich zum Mann werde … ich werde versuchen, Dich immer stolz zu machen … Dein Dich liebender Sohn, Khaled.«
Unter dem Brief lugte ein Dokument mit einem Logo hervor: METRON und darunter HAR und NEWHA.
Auf dem Flur waren plötzlich Schritte zu hören. Hastig legte Jonathan die Mappe zurück an ihren Platz und schlich lautlos zur Tür. Die Schritte entfernten sich. Als nichts mehr zu hören war, öffnete Jonathan die Tür einen Spalt und lugte hinaus. Auf dem Flur war niemand zu sehen. Jonathan verließ das Zimmer, lief zu Balfours Büro, öffnete die Tür und trat ein.
Mit dem Rücken an die Tür gelehnt, leuchtete er mit seiner kleinen Taschenlampe den Raum ab. Ein riesiger Mahagonischreibtisch zog sich über die Breite einer ganzen Wand. Darüber hingen drei imposante Flachbildschirme. Auf der einen Seite des Tischs stand ein Rattankorb mit gebrauchten Handys, und in einem Regal direkt darüber waren etliche Kartons mit neuen Handys gestapelt, alle noch originalverpackt. An den anderen Wänden standen Aktenschränke, und überall im Raum waren Dokumente verteilt. Berge an Papieren, gebündelt, zusammengebunden und gestapelt. Balfours gesammelte Unterlagen, bereit für den Shredder.
Mit der Taschenlampe im Mund nahm Jonathan die ausgebreiteten Papiere auf Balfours Schreibtisch genauer unter die Lupe. Connor hatte ihm den Tipp gegeben, bei seiner Suche wie ein Journalist vorzugehen. Er musste nach dem Wo, Wann, Wer und Wie forschen, also Namen, Orte, Daten und Uhrzeiten finden. Connor ging davon aus, dass Balfour im Besitz der Atombombe war, und Jonathan wusste inzwischen, dass er mit der Annahme richtiglag. Irgendwo in diesem Büro musste es Hinweise auf den Käufer sowie den Ort und Zeitpunkt der Übergabe geben. War Sultan Haq das letzte Glied der Kette, oder war er nur der Mittelsmann für einen noch unbekannten Dritten? Sollte die Übergabe am Flughafen stattfinden?
Einer der Stapel auf Balfours Schreibtisch bestand aus Bankauszügen, ein anderer aus Telefonrechnungen und ein dritter aus Kreditkartenabrechnungen. Das Problem bei dieser Suche waren nicht zu wenig, sondern eher die gewaltigen Mengen an Informationen. Jonathan rief sich Dannis Ratschlag in Erinnerung, den Kopf freizumachen, um so viel wie möglich aufzunehmen, und dann darauf zu vertrauen, dass sein Verstand später praktisch von selbst die wichtigen Details herausfiltern würde. Während er Blatt für Blatt durchsah, prägte er sich die Informationen ein – Konten, Telefonnummern, Überweisungen – und versuchte, alles in einem separaten Bereich seines Gehirns abzuspeichern, von wo aus er die Informationen später wieder je nach Bedarf abrufen konnte.
Eine gewaltige Explosion erhellte den Nachthimmel und ließ Fenster und Möbel im Raum erbeben. Jonathan kauerte sich auf dem Boden zusammen und schützte den Kopf instinktiv mit beiden Armen. Als er wieder aufstehen wollte, fiel sein Blick auf ein dickes Notizheft auf einem Beistelltisch. Das Heft war voller Notizen, aber leider in Urdu und somit für Jonathan vollkommen unverständlich.
Jonathan ging zur Computertastatur und drückte auf Enter, doch der Bildschirm blieb schwarz. Die Stromzufuhr war nach wie vor unterbrochen, und das Computersystem schien nicht an das Notstromaggregat angeschlossen zu sein. Wenn er schon kein Glück hatte, sollte wenigstens Connor die Möglichkeit haben, es später noch einmal selbst zu versuchen. Jonathan zog den getarnten USB-Stick mit der installierten Remora-Spionagesoftware aus der Tasche. Die Anwendung war idiotensicher: den USB-Stick in die dafür vorgesehene Buchse am Computer stecken und nach zehn Sekunden wieder herausziehen. In dieser Zeit würde Remora die Festplatte des Computers kopieren und alles über die eingerichtete LAN-Verbindung an Division weiterleiten. Es gab jedoch ein Problem: Sosehr sich Jonathan auch anstrengte, er konnte den PC selbst einfach nicht finden. Die Kabel des Monitors verschwanden unter dem Teppich. Suchend leuchtete Jonathan die Wände ab, fand aber absolut nichts.
Schon wieder eine Sackgasse.
Auf dem Flur waren erneut Schritte zu hören. Schwere Stiefel, genau wie vorhin. Mindestens zwei Männer. Jonathan hielt den Atem an, und die Schritte entfernten sich wieder. Erleichtert atmete Jonathan aus.
Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Die oberste Schublade des Schreibtischs war abgesperrt, doch die darunter ließ sich leicht öffnen. Jonathan fand einen Prospekt von Revys Praxis, ein Streichholzheftchen aus Dubai, Stifte, einen Taschenrechner und noch andere, eher uninteressante Dinge darin. Er rüttelte noch einmal an der oberen Schublade, aber ohne Erfolg. Der Schreibtisch war ein antikes Modell mit konventionellen Schlössern. Wahrscheinlich hatte schon Mahatma Gandhi die Unabhängigkeitserklärung Indiens an diesem Schreibtisch unterzeichnet. Jonathan suchte nach dem Schlüssel für die Schublade, hatte aber wieder kein Glück. Er versuchte, das Schloss mit einem Brieföffner zu knacken, doch die Spitze war zu breit. Mit dem Licht der Taschenlampe leuchtete er den Schreibtisch ab. An einer Stelle blitzte etwas auf. Eine lange, spitze Schere. Jonathan steckte die Spitze der Schere ins Schloss und wagte einen neuen Versuch. Für das Aufbrechen von Schlössern hatte ihnen in Dannis Crashkurs am Ende die Zeit gefehlt. Hartnäckig stocherte Jonathan mit der Schere im Schloss herum. Als er auf einen Widerstand stieß, drückte er so fest es ging mit der Schere zu und spürte, wie das Schloss nachgab.
Behutsam zog er die Schublade auf. Auf einem Stapel Papier lag ein Kalender. Die Seite mit dem aktuellen Datum war mit einem Leseband markiert. Jonathan schlug die Seite auf und las die Einträge, die in Englisch geschrieben waren: »Mr. Revy – Emirates 12.00 Uhr.« In der nächsten Zeile stand: »Ankunft Haq. Vorbereitung Transport EPA. H18.« Er blätterte eine Seite weiter und las: »VAE 6171. 2000. PARDF Pascha.« Darunter waren eine Telefonnummer und die Initialen M. H. notiert. Jonathan erkannte in den ersten zwei Ziffern die internationale Vorwahl für Afghanistan.
Er blätterte noch eine Seite weiter und fand noch mehr Details, diesmal zu Flügen nach Paris und weiter nach St. Barts. Darunter standen Namen und Ortsangaben von Hotels und Banken, Regierungsbeamten und hohen Tieren von Unternehmen – alles für Balfours Start in ein neues Leben.
Sein geschulter Blick wurde von einem anderen Gegenstand in der Schublade in Bann gezogen: einem Messer. Matt und grau wie die Haut eines Hais. Jonathan nahm es in die Hand. Ein KA-BAR-Messer der Armee, auf einer Seite glatt geschliffen und auf der anderen gezackt.
Eine neue Explosion erschütterte die Fenster und erhellte für einen kurzen Moment das Zimmer. Lang genug jedoch für Jonathan, um den PC hinter einer Glastür in einem der Aktenschränke zu entdecken.
Er legte den Kalender zurück an seinen Platz. Als er die Schublade schloss, hörte er einen Wagen auf dem Parkplatz. Autotüren wurden geöffnet und kurz darauf wieder zugeschlagen. Jonathan warf einen Blick aus dem Fenster und sah, dass Balfour und Singh zurück waren.
»Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, hörte er Balfour sagen. »Irgendjemand schießt auf uns. Wenn es nicht der indische Geheimdienst war, ist es eben die ISI, die mir Angst einzujagen versucht. Niemand kann mir weismachen, dass dort draußen keiner ist. Ich will die Mistkerle haben, verstanden?«
Jonathan eilte zum Schrank mit dem Computer, kniete sich hin und tastete mit der Hand nach einem Slot für den USB-Stick. An der Rückseite wurde er schließlich fündig. Hastig versuchte er, den USB-Stick in die Buchse zu stecken, doch der Spalt hinter dem PC war zu eng. Jonathan legte den Stick auf der Tischplatte ab und zog den PC ein Stück vor.
Dann tastete er immer noch kniend nach dem USB-Stick auf der Tischplatte über sich. Vergeblich.
Der USB-Stick war weg.
»Suchst du zufällig das hier?«
Jonathan erstarrte.
Die Stimme.
Das konnte nur sie sein.
Langsam richtete er sich auf und wandte sich um, um seiner Frau ins Gesicht blicken zu können. »Hallo, Emma.«