79.

Das war ihre Lebensversicherung.

Mit ihrer Vergangenheit war sie fertig. Ein Leben ständig auf der Hut war auf Dauer für sie undenkbar. Doch ein Zurück gab es für sie nicht. Weder zu den Amerikanern noch zu den Russen. Sie hatte mit Division und dem FSB endgültig gebrochen. Aber ihr war klar, dass beide Geheimdienste sie für den Rest ihres Lebens gnadenlos jagen würden.

Emma legte die Hand auf ihren Bauch. Seit Kurzem konnte sie hin und wieder spüren, wie das Baby trat. Es würde ein Mädchen werden, davon war sie überzeugt. Es gab nur noch eine Sache, die sie erledigen musste, danach war sie frei. Mit der Bombe konnte sie ihre Verfolger auf Abstand halten, damit sie sich voll und ganz auf ihr Baby konzentrieren konnte. Niemand würde es riskieren, ihr zu nahe zu kommen, wenn sie im Besitz einer solchen Abschreckungswaffe war.

Emma Ransom überquerte die Gleise und bezog Stellung an der Wand eines bestimmten Bahnsteigs. Dieser war Teil eines schier endlos erscheinenden Labyrinths mit zahllosen Tunneln, die im Minutentakt Züge ausspuckten und wieder verschlangen. Die Luft war erfüllt vom Summen der Stromleitungen, das nur vom ohrenbetäubenden Dröhnen der ankommenden und abfahrenden Züge unterbrochen wurde. Ein schneller Blick auf die Uhr verriet Emma, dass Raschids Zug in Kürze eintreffen sollte. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie in Richtung des Tunnelausgangs.

Seit einer Woche hatte sie Prinz Raschids Telefonate mit Balfour und Massoud Haq abgehört. Dafür hatte sie Balfours SIM-Karte kopiert und sich bei einem Tagesausflug nach Islamabad eine Abhöranlage gekauft, mit der sie sich anschließend in Balfours imposantes Telekommunikationsnetz einklinkte. Auf diese Weise hatte sie alles über die Pläne der drei in Erfahrung gebracht und wusste, dass Raschid Sultan Haq in Deutschland an Bord seines Jets geholt hatte und in diesem Moment im Zug auf dem Weg zur Grand Central Station saß. Außerdem wusste sie, dass Raschid vorhatte, für seine ganz persönlichen Ziele sein Leben zu opfern, aber nicht zur Huldigung des Islams oder in einem Vernichtungsschlag gegen den Westen, sondern um mit seiner Tat postum zu einer Legende und Gottheit aufzusteigen. Raschid strebte nach keinem geringeren Ziel, als den Propheten von seinem Thron zu stoßen und dessen Platz einzunehmen.

Der Boden unter Emmas Füßen fing an zu vibrieren. Im Tunneleingang tauchten die Scheinwerfer eines einfahrenden Zugs auf. Emma zückte ihre Pistole und kontrollierte das Magazin. Dann vergewisserte sie sich, dass ihre Handschuhe tadellos saßen, und zog sich die Wollmütze über das Gesicht, sodass es bis auf die Augen verdeckt war. Zum Schluss lockerte sie noch ihre Nackenmuskulatur und atmete tief durch.

Der Zug kam mit quietschenden Bremsen näher. Die Lok zog an Emma vorbei, danach folgten der Güterwagen und die Passagierwaggons. In den hellerleuchteten Wagen konnte Emma Raschid und Haq gut erkennen. Die Türen wurden von zwei Bodyguards bewacht.

Emma rannte hinter dem letzten Waggon her, griff mit der freien Hand nach dem Geländer und kletterte auf die schmale Plattform des Wagens. Die Tür ließ sich mühelos öffnen, und Emma jagte den völlig überrumpelten Bodyguards sofort zwei Kugeln in die Brust. Mit vorgehaltener Pistole ging sie auf Raschid zu. Plötzlich verpasste ihr jemand einen Schlag auf den Arm, und aus ihrer Pistole löste sich ein Schuss. Völlig verdattert sprang Raschid von seinem Sessel auf. Blut sickerte aus einer Streifwunde an seiner Stirn.

Emma fuhr herum und sah Haq, der erneut zum Schlag ausholte. Er schlug Emma die Pistole aus der Hand. Die Waffe rutschte über den Boden und blieb schließlich außer Reichweite von Emma liegen.

Der Zug kam quietschend zum Stehen. Durch die Bremsbewegung kippte Emma leicht vornüber. Sie nutzte die Fliehkraft und trat Haq mit dem rechten Fuß gezielt vor die Brust, doch dieser schien von der Aktion nicht sonderlich beeindruckt. Er stürzte sich auf Emma, die erneut zutrat und seinen Angriff so für einen kurzen Moment abwehren konnte. Mit geballter Faust versetzte Emma Haq einen Hieb auf den Kopf. Haq schüttelte den Kopf und ging zum Gegenangriff über. Schnell wie der Blitz traf seine Faust Emma am Unterkiefer. Sie taumelte zu Boden. Vor ihren Augen drehte sich alles, und in ihrem Mund schmeckte sie Blut. Dann stellte sie ihm ein Bein und bekam ihn kurz am Knöchel zu fassen. Haq landete krachend in einem der Fenster. Emma hörte, wie die Scheibe zersplitterte. Doch das machte Haq nur noch wütender. Er stellte sich vor Emma in Positur und ging, wegen seines klaren Größenvorteils siegesgewiss, erneut auf Emma los. Emma versuchte, ihn sich mit Tritten vom Leib zu halten, doch er wich geschickt aus. Mit geballten Fäusten hämmerte sie auf ihn ein. Den ersten Hieb parierte Hag gekonnt, doch der zweite traf ihn mit voller Wucht im Gesicht. Benommen schüttelte er sich, und dann packte er Emma mit seinen kräftigen Armen und schleuderte sie quer durch das Abteil. Emma prallte mit dem Rücken gegen einen niedrigen Tisch. Porzellan fiel laut scheppernd zu Boden und zerbrach in tausend Stücke. Mit dem Kopf stieß Emma gegen etwas Hartes und Spitzes, und ihr wurde für einen kurzen Moment schwarz vor Augen.

Langsam lichtete sich der Nebel, und die Dinge in ihrem Blickfeld erhielten wieder eine klare Kontur. Benommen setzte Emma sich auf. Ganz in der Nähe lag Prinz Raschid wehrlos und mit blinzelnden Augen in einer Blutlache. Aus der Wunde an seiner Schläfe sickerte unaufhörlich Blut. Plötzlich hörte Emma, wie eine Tür aufgerissen wurde. Alarmiert blickte sie sich um.

Die hintere Waggontür schwang sacht hin und her.

Haq war entkommen und mit ihm die schwarze Ledertasche.

Emmas Blick wanderte zurück zu dem am Boden liegenden Raschid. »Ich werde niemals vergessen, was Sie mir angetan haben«, sagte sie, stand auf und verschwand.