52.

Vor der Besichtigung des OP-Saals gab es eine kurze Führung über das Anwesen.

Balfour lief ein paar Schritte voran durch die langen Flure des Haupthauses und ließ wie ein zerstreuter Professor hier und da ein paar Anmerkungen zu den Zimmern und

Einrichtungsgegenständen fallen. Da war die Bibliothek, deren Bücher angeblich alle vom Anwesen des Duke of Bedford in Woburn Abbey stammten. Da war das Wohnzimmer mit einem von Sargent gemalten Porträt und einem Landschaftsgemälde von Constable. Da war das Arbeitszimmer mit, wenn man Balfours Worten Glauben schenken konnte, dem Originalschreibtisch von Winston Churchill aus seinem Büro in Whitehall, an dem dieser seine »Nothing to offer but blood, toil, tears, and sweat«-Rede zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geschrieben hatte.

Balfour ist ein geradezu zwanghafter Lügner, hatte Connor Jonathan gewarnt, und die meisten seiner Lügenmärchen sind leicht zu durchschauen. Aber hüten Sie sich davor, ihn damit zu konfrontieren. Balfour hat sich eine Fantasiewelt zurechtgelegt, und er mag es ganz und gar nicht, wenn andere seine Illusionen zu zerstören versuchen.

Während der Führung durch das Haus wies Balfour Jonathan auf die Bereiche hin, die offen zugänglich waren, und auf jene, zu denen ihm der Zutritt verboten war. Das Medienzimmer gehörte zu den frei zugänglichen Räumen, und Balfour hielt sich darin etwas länger auf, um Jonathan sein Können in Call to Duty auf dem an der Wand montierten, 96 Zoll großen Plasma-Bildschirm zu demonstrieren und über den ohrenbetäubenden Sound der Dolby-Surround-Anlage zu schwadronieren.

Auch die hauseigene Disco stand Jonathan jederzeit offen. Obwohl es noch nicht einmal ein Uhr mittags war, dröhnte aus den Lautsprechern schon lauter House, und drei Blondinen in perlenbestickten Abendkleidern mit Champagnerflöten in den Händen ließen auf der Tanzfläche aus schwarzem Marmor lasziv ihre Hüften kreisen. Dabei versuchten sie angestrengt, nicht allzu gelangweilt auszusehen. Balfour stellte die drei als Kelly, Robin und Ochsana vor und ließ die Mädchen anschließend wissen, dass Jonathan ein hochgeschätzter Gast sei, um den sie sich besonders aufmerksam kümmern sollten. Die Frauen reichten ihm artig die Hand und musterten ihn mit unmissverständlichen Blicken. Jonathan sagte, er freue sich, ihre Bekanntschaft zu machen, und mutmaßte im Stillen, dass für die drei über hunderttausend Dollar in Schönheitsoperationen investiert worden waren.

Als sie die Treppe erreichten, die in den zweiten Stock führte, blieb Balfour plötzlich stehen und sagte alles andere als gastfreundlich: »Dort oben befindet sich mein Büro. Von dort aus regle ich Geschäftliches und Privates. Für Sie ist die gesamte Etage jedoch absolut tabu.«

Treten Sie in Gegenwart von Balfour immer selbstbewusst auf, hatte Connor ihm geraten. Sie sind das, was Balfour immer sein wollte: ein reicher, gebildeter Europäer. Er wird auf jede erdenkliche Art und Weise versuchen, Sie zu übertrumpfen. Lassen Sie nicht zu, dass ihm das gelingt, denn was Balfour mehr als alles andere hasst, ist Schwäche.

»Und wenn ich gerne noch mehr von Ihrer beeindruckenden Kunstsammlung sehen möchte?«, erkundigte sich Jonathan. »Noch einen Constable vielleicht?«

»Meine komplette Kunstsammlung befindet sich im Erdgeschoss.«

»Und wenn ich Sie sprechen muss?«, ließ Jonathan nicht locker, in dem Bewusstsein, dass er gerade eine Grenze austestete.

»Wenn nötig, werde ich Sie finden«, entgegnete Balfour. Er setzte wieder sein breites Lächeln auf, doch die Warnung in seinen Augen war nicht zu übersehen. »Falls ich Sie irgendwo dort oben antreffen sollte, werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass Mr. Singh kurzen Prozess mit Ihnen macht. Haben wir uns verstanden?«

Der feindselige Tonfall schockierte Jonathan, und es gelang ihm nicht, das vor Balfour zu verbergen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und er suchte fieberhaft nach einer passenden Antwort. Für einen kurzen Moment verschmolzen Revy und Jonathan zu ein und demselben Mann. Am liebsten hätte er Balfour an seinem gestärkten weißen Hemdkragen gepackt und ihm gesagt, dass er ihm sein Grinsen aus dem Gesicht prügeln würde, wenn er es noch einmal wage, so mit ihm zu reden. Denk an deine Tarnung, meldete sich Emmas warnende Stimme von irgendwo in seinem Hinterkopf. Dr. Revy ist nicht der Typ für eine handfeste Prügelei. Widerstrebend gab Jonathan nach. Der frischgebackene Agent hatte schon seit einer Weile das Gefühl, dass ihm jede Sekunde der Kragen platzen würde. Er entschied, auf Balfours Provokation mit Humor zu reagieren. Ein reicher, gebildeter Europäer ließ sich nicht auf das Niveau eines südasiatischen Drecksacks herab.

»Aber wer soll dann dafür sorgen, dass Ihr Gesicht noch attraktiver wird, als es ohnehin schon ist?«, fragte er galant.

Balfour ließ sich die Frage durch den Kopf gehen und beschloss, auf Jonathans diplomatischen Ton einzugehen. In einer theatralischen Geste warf er den Kopf zurück und brach in viel zu lautes Gelächter aus.

Durch eine Hintertür gelangten sie vom Haupthaus ins Freie, und Balfour führte Jonathan über einen Pfad in einen Formschnittgarten, in dem die Sträucher die Gestalt von Bären, Wild und Füchsen hatten. Dahinter gabelte sich der Pfad. Links führte der Weg zu einem niedrigen fensterlosen Betonbunker mit Schindeldach. Auf einer der Karten, die Jonathan gesehen hatte, war dieses Gebäude als Werkstattschuppen bezeichnet worden, aber auf ihn wirkte es eher wie die Lagerhalle für eine Bombe. Neben dem Eingang standen zwei Männer mit Kalaschnikows vor der Brust. In der Nähe des Gebäudes parkte ein weiterer Range Rover mit weit offen stehenden Türen. Vier weitere Wachmänner warteten einsatzbereit mit den Waffen im Anschlag neben dem Wagen. Zwei Männer in weißen Kitteln waren gerade dabei, unter lautem Getöse ein Gerät in das Gebäude zu rollen.

»Was ist denn da drin?«, erkundigte sich Jonathan bei Balfour.

»Meine Zukunft«, entgegnete Balfour.

»Sieht gefährlich aus«, sagte Jonathan mit dem gleichen leicht ironischen Unterton, mit dem er bereits im Haus ganz gut gefahren war.

Balfour warf ihm über die Schulter einen Blick zu. »Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten.«

Von einem OP-Saal wie diesem hatte Jonathan schon immer geträumt. Jedes Mal, wenn mal wieder ein Ventilator den Geist aufgab oder ein Pulsoximeter versagte, wenn nicht genug Klammern vorhanden waren und es nicht einmal einen simplen Notfallwagen gab, fluchte er still in sich hinein, schloss für einen Moment die Augen und stellte sich vor, in einem OP-Saal wie diesem arbeiten zu können. Hier gab es einen OP-Tisch von Stryker und ein Dräger Anästhesiegerät von der Größe eines Wäschetrockners. Natürlich gab es auch einen nagelneuen Notfallwagen und einen Defibrillator, ein Absauggerät und Monitore, die Herzfunktion, Puls, Blutdruck und Sauerstoffgehalt im Blut überwachten. Ganz zu schweigen von den Instrumenten. Auf einem Tablett mit einem Ablagegestell lagen Schere, Nadelhalter, Klammern, Zange und Arterienklemmen bereit, allesamt auf Hochglanz poliert. Wohin er auch blickte, alles war perfekt.

»Adäquat«, bemerkte Jonathan so arrogant, wie es sich für einen verwöhnten Chirurgen, dessen Klientel die Reichen und Berüchtigten waren, gehörte. »Ich denke, damit ließe sich arbeiten. Ja, ja, ja.«

Balfour runzelte besorgt die Stirn. »Habe ich etwas vergessen? Ich habe alles genau nach Ihren Vorgaben geordert.«

Jonathan rief sich die Bestellliste aus Revys Computer ins Gedächtnis. »Haben Sie den Ventilator mit dem HEPA-Filter bekommen?«

Mit langen Schritten eilte Balfour in eine Ecke des Raums. »Ja, einen Guardian 400.«

»Ausgezeichnet«, sagte Jonathan anerkennend. »Und meine Assistenten? Konnten Sie einen examinierten Anästhesisten und eine OP-Schwester auftreiben?«

Balfour versicherte ihm, dass er den Leiter der Anästhesiologie vom National Institute of Health und dessen Tochter als OP-Schwester angeheuert habe. Und Jonathan versicherte ihm, dass er damit zufrieden sei. »Ich bin ein wenig müde«, sagte er. »Und ich brauche etwas Zeit, um die Befunde der Bluttests zu lesen. Sollen wir uns heute Nachmittag um drei zu einer ersten Untersuchung treffen?«

»Einverstanden«, stimmte Balfour zu. »Wenn Sie Lust haben, können wir danach ein wenig ausreiten. Ich habe meinen Stallburschen gesagt, dass sie meinen Lieblingshengst satteln sollen.«

Der herausfordernde Blick in seinen Augen entging Jonathan nicht. Er dachte an Connors Vorschläge für mögliche Ausreden und verwarf sie sofort wieder. »Sehr gerne«, erwiderte er. »Das regt den Appetit für das Abendessen an.«

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr schien es Balfour plötzlich sehr eilig zu haben. »Entschuldigen Sie mich«. sagte er zu Jonathan. »Ich habe noch eine Verabredung.«

Jonathan musste sich zusammenreißen, um ihm nicht zu dicht auf den Fersen zu folgen. Bislang hatte er noch keine Spur von Emma entdeckt, und bei dem Gedanken, dass sie vielleicht Balfours andere Verabredung sein könnte, platzte er fast vor Neugier.