51.

Jonathan passierte die Kontrollen am Flughafen ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Beim Abgleich von Jonathans Schweizer Pass, den von Daeniken ihm besorgt hatte, und Revys pakistanischem Visum gab es keinerlei Probleme. Als Jonathan gefragt wurde, ob er etwas zu verzollen hätte, schüttelte er nur den Kopf und konnte passieren. Ein hünenhafter Mann mit schwarzem Turban wartete in einem Meer von Menschen hinter der Absperrung. Beim Anblick von Jonathan hob er eine Hand und rief: »Dr. Revy?«

»Ja«, sagte Jonathan. »Guten Morgen.«

»Mein Name ist Singh. Ich möchte Sie im Namen von Mr. Armitraj herzlichst begrüßen. Er freut sich schon sehr darauf, Sie in Blenheim willkommen zu heißen. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Singh griff nach Jonathans Vuitton-Koffer, als wäre er eine Feder, und bahnte sich mit energischen Schritten einen Weg durch die Menschenmassen. Jonathan folgte ihm dicht auf den Fersen. Singhs erste Frage, nachdem er den großen, blonden Mann aus dem Westen entdeckt hatte, ließ darauf schließen, dass er nicht genau wusste, wie der Schweizer Chirurg aussah, den Balfour erwartete. Das war für den Augenblick schon mal beruhigend. Doch der eigentliche Test stand Jonathan beim Zusammentreffen mit Balfour erst noch bevor.

Vier Männer in identischen braunen Anzügen begleiteten Singh in einer lockeren Phalanxformation zum Ausgang des Flughafengebäudes. Sie gehörten nicht zu den unrasierten Schlägertypen, die in Südasien für gewöhnlich auf den Straßen herumlungerten und nichts als Ärger bedeuteten. Mr. Singhs Begleiter waren jung, fit und glatt rasiert. Als bei einem der Männer das Jackett ein Stück verrutschte, sah Jonathan kurz die handliche Pistole, die der Mann bei sich trug.

Vor dem Ausgang wurden sie von zwei weißen Range Rovern mit einer Ehrengarde der Flughafenpolizei erwartet. Mr. Singh öffnete Jonathan die Wagentür, und er stieg ein. Kaum hatte er sich hingesetzt, nahm auch der Sikh auf dem Rücksitz Platz. Seine hünenhafte Gestalt schien die gesamte Rückbank auszufüllen, und sein tadellos gewickelter Turban berührte die Decke. Einer der Bodyguards stieg vorne ein und reichte Jonathan ein warmes Handtuch und eine Flasche Wasser.

Sie verließen den Flughafen und fuhren auf einer Schnellstraße durch ein dunkelbraunes Areal mit heruntergekommenen Hütten und einzelnen bewirtschafteten Äckern. Von zahllosen kleinen Feuern stiegen Rauchschwaden in den Himmel, wie eine Legion von Geistern, die aus ihren Flaschen schlüpften. Am Straßenrand kämpfte sich das Fußvolk voran: Bauern, die ihre Ziegen hinter sich herzogen, Händler mit Körben voller Waren auf dem Kopf und Kinder, die den mit hundert Stundenkilometern vorbeirasenden Autofahrern alkoholfreie Getränke zum Kauf anboten. Nach einiger Zeit wurde das Brachland von mehr und mehr Betonbauten abgelöst. Sie näherten sich der Stadt, und ehe Jonathan es sich versah, erreichten sie das hektische Zentrum, in dem neben Häusern aus der Kolonialzeit auch moderne Bauten das Stadtbild prägten. Aber was alles zu überlagern schien, war die allgegenwärtige extreme Armut.

Im Wagen lief ohne Unterlass die Klimaanlage. Jonathan öffnete das Seitenfenster einen Spalt, und der Gestank von Auspuffgasen, offenen Abwasserkanälen, gegrilltem Fleisch und Holzfeuern drang ins Wageninnere. Diese Gerüche waren Jonathan von seinen zahllosen Einsätzen in Ländern der Dritten Welt nur allzu vertraut, und er hatte das Gefühl, mit seiner Umgebung und den Menschen dort draußen zu verschmelzen. Je länger die Fahrt dauerte, desto mehr fühlte er sich zu Hause.

Dann ließen sie die Stadt hinter sich und fuhren in die Margalla-Hügel hoch, vorbei an einem lang gestreckten, braunen, wenig ansehnlichen See zu ihrer Rechten. Jonathan erfuhr, dass es sich um den Rawal-See handelte, eine beliebte Gegend bei den Wohlhabenden und Berühmtheiten und natürlich auch den Berüchtigten des Landes. Sie kamen an einer Reihe stattlicher Villen vorbei, die direkt am Seeufer standen und alle im Mogul-Stil erbaut waren, dem etwas weniger pompösen und schmuddelig grau wirkenden Abklatsch des Taj Mahal. Die Straße führte sie weiter in Richtung Norden. Nach einer Weile verließen sie die Autobahn und kamen auf eine schnurgerade Straße. Im Vorbeifahren entdeckte Jonathan einen hohen Maschendrahtzaun mitten auf den grasbewachsenen Feldern. Die Wagen beschleunigten ihre Fahrt und rasten an einem Wachhäuschen vorbei. Jonathan erhaschte einen Blick auf die mit automatischen Waffen ausgerüsteten Wachposten, die rechts und links an der Straße neben MG-Nestern standen. Ein Stück weiter sah er einen schwarzen Jeep mit einem Maschinengewehr auf der Ladefläche, der querfeldein fuhr. Die Männer im Jeep trugen Safari-Schlapphüte auf dem Kopf. Die Rat Patrol hatte sich aus Nordafrika nach Pakistan zurückgezogen. Sie passierten einen zweiten Zaun, diesmal offensichtlich ein Elektrozaun mit entsprechenden Warnschildern und Stacheldraht. Das hier war kein privates Anwesen, das war ein bewaffnetes Feldlager.

Der Fahrer des Wagens drückte erneut aufs Gaspedal, und sie preschten über einen Bergkamm. Auf der anderen Seite führte die Straße bergab, und Jonathan hatte einen unverstellten Blick auf Blenheim. Connor hatte ihm Fotos von Balfours Anwesen gezeigt, aber dessen schiere Größe überwältigte Jonathan dennoch. Es war fast schon unheimlich, eine fast identische Kopie des berühmten Anwesens des Duke of Marlborough sechstausend Kilometer von England entfernt präsentiert zu bekommen. Die Wagen rumpelten über eine Holzbrücke und erreichten einen gekiesten Vorplatz. Vor dem Eingangsportal des Haupthauses wurden sie von einem kleinen, schlanken Mann erwartet, der ihnen zuwinkte. Er trug einen weißen Anzug mit einer weißen Krawatte und einer roten Nelke im Knopfloch und strahlte über das ganze Gesicht.

Lassen Sie sich nicht von seinem harmlosen Äußeren und seiner Freundlichkeit täuschen, hatte Connor ihn gewarnt. In einem Moment schließt er Sie in die Arme und schwört Ihnen Blutsbrüderschaft, und ehe Sie sich’s versehen, befiehlt er Singh, seinem Mann fürs Grobe, Ihnen das Khukuri-Messer an die Kehle zu setzen und sie mit einem einzigen Streich zu durchtrennen. Und dabei wird er Sie die ganze Zeit über anlächeln. Gute Manieren sind für ihn nichts weiter als ein Schutzpanzer. Auf diese Weise wiegt er seine Feinde in Sicherheit und täuscht seine Umwelt über die eigene Vergangenheit hinweg.

Der Range Rover hielt vor dem Haupteingang. Mr. Singh stieg aus und hielt Jonathan höflich die Tür auf. Balfour machte jedoch keinerlei Anstalten, ihn zu begrüßen. Er winkte nicht mehr, sondern starrte Jonathan unverwandt an. Nur das

Lächeln blieb wie festgefroren auf seinem Gesicht. Er kennt Revy von einem Foto, schoss es Jonathan durch den Kopf. Er weiß, dass ich nicht Revy bin. Gleich wird er es Singh sagen, und dann bin ich geliefert. Doch anstatt in Panik zu verfallen, wurde Jonathan ganz ruhig, so wie Emma es ihm acht Jahre lang vorgemacht hatte. Was sie konnte, konnte er auch.

Mit einem Lächeln, das dem seines Gastgebers um nichts nachstand, trat er auf Balfour zu. »Allo, Mr. Armitraj. Schön, Sie zu treffen«, sagte er mit seinem besten französisch-schweizerischen Akzent.

Doch Balfour bewegte sich noch immer nicht. Er musterte Jonathan mit ernstem Blick, winkte Mr. Singh zu sich und sagte zu diesem etwas in scharfem Ton. Der Sikh warf Jonathan einen Blick zu. Jonathan versuchte, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. Bei einer etwaigen Enttarnung wäre die gute Nachricht, hatte Connor gesagt, dass Jonathan nicht für viele Jahre in einem pakistanischen Gefängnis verschwinden würde. Die schlechte allerdings wäre, dass Balfour ihn auf der Stelle exekutieren würde. Aus dem Augenwinkel entdeckte Jonathan einen Scharfschützen auf dem Dach, der mit seinem Gewehr auf seine Brust zielte. Balfour rief seinen Bodyguards etwas zu, und die Männer näherten sich Jonathan wie Schakale, die ihre Beute wittern. Das Lächeln in Jonathans Gesicht wurde immer gequälter.

Nachdem Balfour einen letzten Befehl erteilt hatte, machte Mr. Singh auf dem Absatz kehrt und kam direkt auf Jonathan zu. Er blieb dicht vor ihm stehen und sagte: »Halten Sie bitte einen Augenblick still.«

Jonathan wappnete sich. Er lockerte die Schultern und spürte, wie seine Fingerspitzen zu zucken begannen.

Singhs Hand verschwand in einer Seitentasche seines Gewandes. Als er sie wieder herauszog, hielt er eine Nelke in den Fingern, die der an Balfours Anzug aufs Haar glich. Er befestigte sie am Revers von Jonathans Anzug. »Entschuldigen Sie bitte. Lord Balfour bat mich darum, Ihnen das hier gleich bei der Ankunft zu überreichen.«

»Eine Nelke«, fügte Balfour hinzu und kam mit großen Schritten auf Jonathan zu, wobei er Singh aus kalten Augen anblickte. »Das Symbol von Blenheim.« Er schüttelte Jonathan die Hand. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim, Dr. Revy, und nennen Sie mich bitte Ash. Vergessen Sie diesen Mr.-Armitraj-Blödsinn. Das ist der Name, der auf den Haftbefehlen der Polizei steht. Ich dachte, diesen formellen Quatsch hätten wir hinter uns.«

»Uns Schweizern fällt es schwer, auf Formalitäten zu verzichten«, erwiderte Jonathan und wunderte sich, dass er überhaupt noch ein Wort über die Lippen brachte.

»Noch ein Grund mehr, weshalb ich Ihr Land so verehre.« Balfour griff nach Jonathans Arm und geleitete ihn zum Eingang. »Hier entlang, bitte. Ich möchte Ihnen gerne den OP-Saal zeigen. Er ist genau nach Ihren Vorgaben eingerichtet worden. Es macht Ihnen doch sicher nichts aus, wenn wir sofort loslegen?«

»Natürlich nicht«, versicherte Jonathan. »Aber ich stehe Ihnen doch volle zwei Wochen zur Verfügung.«

»Der Zeitplan hat sich leider etwas geändert. Wir müssen die OP vorziehen.«

»Überhaupt kein Problem. In ein paar Tagen können wir anfangen.«

»Ein paar Tage sind noch zu lang, Dr. Revy. Ich möchte, dass Sie mich schon morgen Abend operieren.«

»Unmöglich«, widersprach Jonathan entschieden. »Ich operiere nur am Vormittag, weil ich dann frisch und ausgeruht bin. Außerdem müssen Sie bei der OP nüchtern sein. Zwölf Stunden bevor Sie anästhesiert werden, dürfen Sie nichts mehr zu sich nehmen.« Am liebsten hätte Jonathan mit dem Fuß aufgestampft, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, aber die Schottersteine eigneten sich nicht besonders gut für so eine Geste, und Jonathan wollte auch nicht zu melodramatisch werden. »Ferner«, fügte er ein wenig freundlicher hinzu, »brauchen wir etwas Zeit für ein Blutbild und die Voruntersuchungen.«

»Das Labor hat die Ergebnisse der Blutanalyse schon wieder zurückgeschickt«, informierte ihn Balfour. »Sie finden alles in Ihrem Zimmer.«

»Tatsächlich?« Jonathan wusste nichts von einem vorgezogenen Bluttest. In einer der letzten E-Mails, die Revy und Balfour ausgetauscht hatten, hatte er gelesen, dass Ersterer direkt nach seiner Ankunft in Blenheim ein Blutbild vom Hausherrn erstellen wollte. »Ausgezeichnet, ja, ja, ja«, sagte Jonathan und ahmte dabei Revys sprachliche Eigenheiten nach. »Schließlich können wir es uns nicht leisten, Zeit zu vertrödeln, nicht wahr?«

Jonathan ließ sich von Balfour durch den Portikus ins Foyer führen. Als die schwere Holztür hinter ihm ins Schloss fiel, blieb sein Blick an dem ersten bewaffneten Mann auf der großen Galerie hängen, und ihm wurde klar, dass er soeben ein Hochsicherheitsgefängnis betreten hatte.