5.
Emma Ransom, alias Lara Antonowa, raste in einem BMW M5 über die achtspurige Autobahn. Eine Kurierin allein in der Nacht. Die Wagenfenster waren heruntergelassen, und die warme Nachtluft trug den Geruch von Meer und sonnenverbrannter Erde zu ihr herein. Die Digitaluhr im Armaturenbrett zeigte genau 11.47 Uhr an. Unter dem schwarzen Nachthimmel funkelten unzählige gleißende Lichter in einem lang gezogenen Streifen am Horizont. Emma passierte ein Schild mit der Aufschrift »Sharjah-Freihandelszone 5 km«.
»Ein letzter Systemcheck«, sagte sie laut.
»Wir hören dich laut und deutlich«, antwortete eine schroffe Stimme mit amerikanischem Akzent in ihrem Ohr.
»Wie ist das Bild?« Eine Mikro-Digitalkamera im obersten Knopf ihrer Bluse war direkt mit ihrem Handy verbunden. Die aufs Handy übertragenen Bilder wurden in einen Bürokomplex auf dem Gelände von Fort Belvoir in Virginia weitergeleitet, das wie Washington, D.C., am Ufer des Potomac lag, nur auf der anderen Seite des Flusses.
»Wenn du tatsächlich gerade mit zweihundert Sachen über die Autobahn bretterst, funktioniert die Kamera einwandfrei. Und jetzt geh gefälligst vom Gas.«
»Ich will nur wissen, ob das Bild scharf und die Kamera gerade ausgerichtet ist.«
»Ja und ja. Und vergiss nicht, dass du nur die Lieferung übergeben, das Geld für General Iwanow in Empfang nehmen und danach so schnell wie möglich wieder verschwinden sollst. Verstanden?«
»Ja, Frank. Verstanden.«
»Egal, wie du es anstellst, du darfst auf keinen Fall in der Nähe sein, wenn er die Waffe ausprobiert.«
Mit der Waffe war ein großkalibriges Scharfschützengewehr vom Typ VSSK Vychlop gemeint, das zu den durchschlagskräftigsten der Welt zählte.
»Wie habt ihr die Waffe manipuliert?«
»Das geht dich nichts an.«
»Keine Informationen, kein Deal.«
»Auf drei speziell angefertigten Patronen haben wir Raschids Namen und sein königliches Familienwappen eingravieren lassen, bevor wir sie zu der Waffe gelegt haben. Zwei der Patronen sind harmlos. In der dritten befinden sich fünfzig Gramm C4. Sobald diese Patrone abgefeuert wird, ist Schluss mit lustig: Bang. Und mit bang meine ich eine echt fiese Schrapnellexplosion. Glaub mir, wenn die losgeht, möchtest du nicht in der Nähe sein.«
»Danke für die Auskunft«, sagte Emma. »Schön, dass du dich so um mich sorgst.«
»Ich mich sorgen? Um dich? Seit wann?«
Emma musste unwillkürlich lachen. Vielleicht, weil Connors Worte genau ins Schwarze trafen oder weil sie sich insgeheim wünschte, es wäre anders.
Trotzig drückte sie das Gaspedal noch weiter durch. Mit beiden Händen umklammerte sie das Steuer, während die Nadel auf dem Tacho höher und höher kletterte: 200 … 220 … 240. Der warme Wind peitschte ihr um die Ohren.
»Runter vom Gas«, sagte Connor.
Frank Connor war der Leiter von Division und Emmas Boss. Emma ignorierte seine Anweisung.
Sie hatte die Freihandelszone fast erreicht. Vor ihren Augen tat sich ein gigantischer Komplex aus Lagerhallen, Hangars, Kränen und eingezäunten Arealen auf. Die Autobahn wurde vierspurig. Ein Schild zeigte an, dass auf dieser Strecke höchstens achtzig Stundenkilometer erlaubt waren. Emma drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, der Tacho sprang auf 260. Den Blick unverwandt auf den durchgezogenen weißen Strich der Fahrbahn gerichtet, genoss sie das Dröhnen des starken V10-Motors mit fünf Liter Hubraum. Die Außenwelt verschwamm vor ihren Augen.
»Verdammt noch mal, Emma! Runter vom Gas!«
Stur hielt Emma ihren Fuß fest aufs Gaspedal gedrückt. 280 … 290 … 300.
Dann nahm sie unvermittelt den Fuß vom Gas und trat auf die Bremse. Der Wagen wurde abrupt langsamer. Emma wurde nach vorn in den Gurt gedrückt. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, und ihr Herz raste. Mit einem tiefen Atemzug gelang es ihr, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch verschwanden, und ihr Herz schlug wieder normal. Sie war nicht mehr Emma oder Lara. Nur noch Agentin. Namen spielten keine Rolle. Die Operation bestimmte, wer sie war, und gab sowohl Sinn als auch Ziel vor.
Emma verließ die Autobahn und bog auf die östliche Zufahrt zur Freihandelszone ab. Vor einer Kontrollstelle hielt sie an. Ein hoher Zaun mit Stacheldraht versperrte ihr die Durchfahrt. Ein Wachmann in Uniform musterte sie prüfend, erkundigte sich aber weder nach ihrem Namen noch nach einem Ausweis. Ihr Besuch war schon im Vorfeld angekündigt worden. »Fahren Sie geradeaus«, sagte der Wachmann. »Nach zwei Kilometern erreichen Sie Lagerhalle 7. Dort werden Sie bereits erwartet.«
Ratternd öffnete sich der Zaun, und Emma lenkte den Wagen auf das Gelände. Sie kam an einer Reihe Lagerhallen vorbei. Jede war fünf Stockwerke hoch und zwei Blocks lang. Selbst zu dieser späten Stunde herrschte überall auf dem Gelände noch reger Betrieb: Lkws luden oder löschten ihre Ladung, Gabelstapler fuhren hin und her, und Kräne hievten Container von Güterzügen auf Tieflader.
Schließlich tauchte Lagerhalle 7 vor Emma auf. Wieder versperrte ihr ein Sicherheitszaun den Weg zur Halle. Als sie jedoch darauf zufuhr, öffnete sich das Tor wie von Zauberhand. Einige Meter dahinter parkte ein Streifenwagen mit blinkenden Lichtern am Straßenrand. Der Fahrer streckte eine Hand aus dem Fenster und gab Emma zu verstehen, dass sie ihm folgen solle.
Über eine Strecke von zwei Kilometern folgte Emma dem Streifenwagen über einen weitläufigen asphaltierten Platz bis zu einem kleineren Hangar am äußersten Ende der Freihandelszone. Die gewaltigen Tore des Hangars standen offen, und an der Decke brannten helle Lampen. Mit den Augen suchte Emma das Gebäude ab. Einen Moment lang glaubte sie, eine dunkle Gestalt auf dem Dach zu erkennen, aber als sie genauer hinsah, war sie schon wieder verschwunden.
Sie entdeckte Balfour, der allein neben seinem Bentley Mulsanne Turbo stand. Seine Entourage war auf einen einzigen Mann geschrumpft, einen knapp zwei Meter großen Sikh, den Emma unter dem Namen Mr. Singh kannte.
Auf dem Gelände waren aber außer ihnen noch etwa ein Dutzend Polizisten anwesend, die über Balfours Wohlergehen wachten. Sie befanden sich im Hoheitsgebiet des Prinzen, der für die Sicherheit seiner Gäste garantierte.
Emma stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Ein Polizist durchsuchte sie und ließ sie danach passieren.
»Ah, Miss Antonowa«, begrüßte Balfour Emma wie ein Gastgeber auf einer Cocktail-Party. »Sie haben also hergefunden.«
»Wo ist der Prinz?«, frage Emma.
»Wird jede Minute hier eintreffen. Wo ist das Flugzeug mit der Lieferung?«
»Es wird pünktlich landen.«
»Dann warten wir also«, sagte Balfour.
»Etwas anderes dürfte uns wohl auch kaum übrig bleiben«, konterte Emma. »Ich habe Sie noch nie ohne Ihr Wolfsrudel getroffen. Fühlen Sie sich nicht ziemlich nackt und schutzlos?«
»Ich habe doch Mr. Singh bei mir. Außerdem haben der Prinz und ich seit Langem ein sehr vertrauensvolles Verhältnis.«
Emma zog eine Augenbraue hoch. Von solchen vertrauensvollen Beziehungen hielt sie nicht viel.
»Dazu kommt noch«, sagte Balfour, »dass ich etwas habe, woran der Prinz sehr interessiert ist.«
»Ich war davon ausgegangen, dass ich für die Ware zuständig bin.«
»Nicht Ihre Ware«, sagte Balfour. »Das sind nur Waffen. Spielzeug. Ich spreche von etwas ganz anderem. Etwas viel Interessanterem.«
»Natürlich tun Sie das«, erwiderte Emma. Doch anstatt weiter nachzubohren und sich ihre berufsbedingte Neugier anmerken zu lassen, verließ sie den Hangar und blickte hinauf in den schwarzen Nachthimmel. Zahllose startende Flugzeuge sorgten noch immer für regen Betrieb.
»Alles meine«, bemerkte Balfour, der ihr gefolgt war. »Frachtmaschinen auf dem Weg in den Irak. Acht Jahre lang haben die Amis alle erdenklichen Güter dorthin verfrachtet. Jetzt wollen sie alles in nur achtzehn Monaten wieder ausfliegen lassen. Ich bin natürlich gerne bereit, ihnen dabei behilflich zu sein.«
Aus östlicher Richtung näherte sich ein Flugzeug im Landeanflug. Emma warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war genau 11.58 Uhr. Die Tupolew aus Teheran war pünktlich.
»Ist das unsere Lieferung?«, fragte Balfour.
»Die Zeitvorgabe des Prinzen war Mitternacht. Nicht nur die Schweizer sind pünktlich.«
»Man kann sich also auf Sie verlassen?«, fragte Balfour mit verschwörerischem Unterton.
»Habe ich Sie schon einmal enttäuscht?«
Balfour setzte ein verschlagenes Grinsen auf. »Bislang nicht. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass ich Ihnen auch trauen kann.« Er baute sich dicht vor ihr auf und zündete sich eine Zigarette an. »Wie weit reichen Ihre Kontakte in die Spitze in Moskau?«
»So weit wie nötig.«
»Bis zum Direktor? General Iwanow?«
Emma blickte Balfour direkt in die Augen. Sie hielt sich zurück, denn sie wusste, dass Balfour auf etwas Bestimmtes hinauswollte.
Balfour warf verstohlen einen Blick auf die Polizisten, die einsatzbereit neben ihren Wagen standen. Dann packte er Emma am Arm und führte sie zu einer etwas abseitsgelegenen Böschung am Rande der Rollbahn. »Ich bin da auf etwas gestoßen«, sagte er. »In den Bergen. Es handelt sich um eine Art Kapsel. Ich habe vor, sie freizulegen und irgendwie vom Berg herunterzuholen.«
Emma ließ sich ihre Neugier noch immer nicht anmerken. »Das ist nicht ganz unsere Kragenweite«, sagte sie. »Tut mir leid.«
»Es handelt sich um eine Bombe«, fuhr Balfour fort. »Amerikanisches Fabrikat.«
»Tatsächlich? Was denn für eine Bombe?«
»Keine Ahnung. Alles, was ich habe, ist ein Foto von der Bombe. Für meinen Geschmack liegt der Fundort zu weit oben in den Bergen. Ich leide unter Asthma. Deshalb kann ich Ihnen nur sagen, dass es eine ziemlich große und schwere Bombe ist.«
»Ich bin Agentin, keine Bergführerin. Welche Art Hilfe erwarten Sie denn von mir?«
»Ausrüstung. Experten. Am besten ein ganzes Team.«
Trotz ihrer zur Schau gestellten Gleichgültigkeit war Emma begierig darauf, mehr zu erfahren. Die Worte »groß«, »Bombe« und »amerikanisches Fabrikat« klangen natürlich hochinteressant. »Haben Sie das Foto zufällig dabei?«
Balfour blickte sich noch einmal nach den im Hintergrund wartenden Polizisten um. »Wir müssen schnell machen, bevor der Prinz kommt.« Mit diesen Worten zog er ein Foto aus der Innentasche seines cremefarbenen Sportjacketts und reichte es Emma. »Also, was halten Sie davon?«
Emma betrachtete das Foto. Darauf war ein im Schnee steckender, länglicher Metallzylinder zu sehen. Auf der silbern glänzenden Ummantelung waren in Schwarz die Buchstaben »USAF« aufgemalt. Ein Stück weiter ragte eine Art Flügel aus dem Schnee. Emma hielt sich das Foto dicht vors Gesicht. Die genaue Größe des Objekts war unmöglich zu bestimmen. Es konnte einen oder auch zehn Meter lang sein. »Ich würde auf eine Bombe oder einen Marschflugkörper tippen.«
»Ja, aber was für eine Art Bombe?«
»Haben Sie kein Foto von dem Ding ohne diese Unmengen von Schnee?«
Balfour zögerte einen Moment. »Leider nein.«
Emma starrte noch immer unverwandt auf das Foto. Ihr war klar, dass Balfour sie anlog und mehr wusste, als er zugeben wollte. »Wo genau, sagten Sie, haben Sie das Ding gefunden?«, fragte sie.
»Über den Fundort habe ich noch kein Wort verloren. Dazu war bislang noch keine Gelegenheit.« Plötzlich drangen Motorengeräusche zu ihnen herüber. Balfour schnappte Emma das Foto aus der Hand und verstaute es wieder in der Jackentasche. »Die Sache bleibt unser kleines Geheimnis.«
»Versteht sich von selbst.«
Als Emma sich umwandte, sah sie einen Konvoi aus sieben schwarzen Mercedes-SUVs über die Rollbahn auf sie zufahren. An den Antennen flatterten kleine VAE-Banner. Balfour lief zurück zum Hangar. Emma folgte ihm mit etwas Abstand. Dabei suchte sie mit den Augen das Dach des Hangars ab. Die dunkle Gestalt von vorhin war wieder da. Diesmal zeigte sie sich sogar ganz offen. Außer ihr entdeckte Emma noch drei weitere Scharfschützen auf dem Dach. Entweder war der Prinz außerordentlich besorgt um ihre Sicherheit, oder etwas an der Sache stank gewaltig.
»Kannst du das sehen, Frank?«, flüsterte sie. »Sie haben Scharfschützen auf dem Dach postiert. Irgendwas ist faul. So vorsichtig war er bislang noch nie.«
Emma wartete auf eine Reaktion, aber niemand antwortete.
»Frank?«, fragte sie leise.
Ein leiser Pfeifton drang aus dem Lautsprecher im Ohr. Emma wusste, dass irgendwo ein Störsender aktiviert worden war, um Funksignale in der Nähe des Prinzen zu blockieren. Connors Stimme konnte nicht mehr zu ihr durchdringen. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Stimme und die Bilder von der Kamera im Knopfloch noch bis zu Connor gelangten.
Völlig auf sich allein gestellt, beschleunigte Emma ihre Schritte. Die Wagenkolonne hielt an. Emma sah, wie sich die Fahrertür an einem der Wagen öffnete und ein Mann mit der braunen Uniform und den grünen Schulterstücken eines Generals der einheimischen Polizei ausstieg.
Der Prinz war eingetroffen.