69.

Eine Stunde später saßen Jonathan und Danni im hinteren Teil eines Humvees der pakistanischen Armee. Zwei Mann der Delta Force steuerten den Wagen durch die von der Sonne ausgebleichten Straßen Islamabads. Am Ohr trug Jonathan einen Verband, und auch der vom Opiummesser verursachte Schnitt unter dem Auge war fachmännisch genäht und verarztet worden.

»Was geht hier eigentlich vor?«, erkundigte sich Jonathan. »Connor wurde ›des Amtes enthoben‹. Was hat das zu bedeuten?«

»Es bedeutet, dass Connors Kollegen ihm auf die Schliche gekommen sind und alles andere als begeistert waren«, erwiderte Danni. »Frank gehört nicht zu der Sorte Menschen, die sich immer streng an die Regeln halten. Vielleicht hat ihm das jetzt das Genick gebrochen.«

»Der Zeitpunkt hätte kaum schlechter gewählt sein können.«

»Zerbrich dir über Connor nicht den Kopf. Haq ist unsere oberste Priorität. Wir müssen davon ausgehen, dass er noch lebt und entkommen konnte und dass er die Bombe bei sich hat. Alles andere spielt keine Rolle.«

Jonathan und Danni saßen auf zwei gegenüberliegenden Sitzbänken und steckten flüsternd die Köpfe zusammen. Auf Handschellen und dergleichen hatte Major Nichols verzichtet, weil Danni ihm glaubhaft versichert hatte, dass sie ihm keinen Ärger machen würden.

»Haq trägt die Haare jetzt kurz«, sagte Jonathan. »Den Bart hat er sich abrasiert und alle Nägel bis auf einen abgeschnitten. Er hat vor, an irgendeinen Ort in Europa oder Amerika zu reisen, wo er so aussehen muss wie wir, wenn er nicht sofort auffallen will.«

»Du meinst, wie jemand aus dem Westen«, entgegnete Danni. »Ja, vermutlich hast du recht. Weißt du sonst noch irgendetwas von ihm? Etwas, das uns helfen kann herauszufinden, was genau er vorhat?«

»Er hat längere Zeit in Gitmo eingesessen. Von Ärzten und Amerikanern hält er, glaube ich, nicht allzu viel. Ach ja, er mag Kinofilme. Das hilft uns nicht wirklich weiter, fürchte ich.«

»Aber es ist ein Anfang. Wie du gesagt hast, er hat sich die Haare bestimmt nicht ohne Grund abgeschnitten. Haq will die Bombe unbemerkt an sein Ziel bringen, und zwar genau in diesem Moment.«

»Wie viel Zeit bleibt uns noch im besten Fall?«

»Wir müssen davon ausgehen, dass er die Bombe entweder an einen Dritten weitergibt oder sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden selbst zünden wird.«

»Ich habe die Bombe gesehen«, sagte Jonathan. »Sie war ziemlich klein und unauffällig. Er könnte sie überall verstecken. Zumindest könnten wir das, was wir über die Bombe wissen, den Mitarbeitern in der Botschaft erzählen. Sie werden sich bestimmt darum kümmern.«

»Was denn für eine Bombe?«, fragte Danni ironisch. »Der Einzige, der außer dir und mir weiß, dass sie tatsächlich existiert, ist Frank Connor, und der steckt weiß Gott wo.«

»Was willst du damit sagen? Dass uns keiner glauben wird?«

»Würdest du das denn glauben? Versetz dich doch mal in ihre Lage. Du bist nichts weiter als ein Agent ohne Ausbildung und Erfahrung, der von einem in Ungnade gefallenen Geheimdienstchef angeheuert wurde.«

»Aber alles, was ich sage, ist wahr.«

»Das weiß ich. Und letztlich wirst du auch die Männer und Frauen in Washington davon überzeugen, die dich verhören werden. Schließlich sind sie nicht dumm. Sie werden sich anhören, was Connor zu sagen hat, und das, was du zu berichten hast. Danach werden sie zwei und zwei zusammenzählen, aber bis dahin sind mindestens vier Wochen ins Land gezogen, was meiner Ansicht nach ein bisschen spät sein dürfte.«

»Und was geschieht mit dir?«

»Was mit mir geschieht? Offiziell dürfte ich gar nicht hier sein. Meine Kollegen und Vorgesetzten denken, dass ich gerade Urlaub mache. Wenn sie herausfinden, dass ich an dem Fiasko hier beteiligt war, werden sie mich feuern.« Danni lächelte ihm grimmig zu. »Was hat Major Nichols noch mal über Connor gesagt? Dass Connor ›des Amtes enthoben‹ wurde. Genau das dürfte auch mir bevorstehen. Ich werde ›des Amtes enthoben‹.«

»Ich wusste gar nicht, dass man Leute wie dich einfach feuern kann.«

Danni schwieg einen Moment. »Genau genommen hast du recht. Ich werde nicht einfach gefeuert. Was mich erwartet, dürfte schlimmer sein. Wahrscheinlich werde ich auf einen Wachtposten irgendwo auf der Westbank versetzt. Mir wäre lieber, sie würden mich vor die Tür setzen.«

Der Humvee holperte über ein Schlagloch, und Jonathan machte unfreiwillig einen kleinen Satz. Aus einem Reflex heraus griff er nach Dannis Knie, um sich festzuhalten. Ihre Blicke trafen sich, und die Intensität ihrer tiefblauen Augen brachte Jonathan erneut etwas aus der Fassung. Sosehr er es auch wollte, er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ihre Wangen waren rußgeschwärzt, und auf ihrer Oberlippe hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Weste und Gurtband hatte sie abgelegt und die Ärmel ihrer schwarzen Uniform hochgeschoben. Mit ihrer lässig aufgeknöpften Jacke und den ins Gesicht fallenden Haarsträhnen hatte sie keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem knallharten Mitglied des Sturmtrupps, das Mr. Singh mit vier Schüssen niedergestreckt hatte.

»Danni, warum bist du hier?«

»Weil du noch nicht so weit warst. Weil ich dich ausgebildet und Verantwortung für dich übernommen habe. Weil ich niemanden, den ich mag, in einen Einsatz schicke, den er auf gar keinen Fall überleben kann.«

»Danke.«

Danni drehte peinlich berührt den Kopf zur Seite. »Ich rede mit meinen Leuten«, versprach sie. »Sie werden eine Warnung an Interpol und die IAEO schicken. Dort gibt es jede Menge Fachleute, die wissen, wie man eine heimlich eingeschleuste Atombombe aufspüren kann.«

»Und was passiert dann?«

»An allen Einreisepunkten in Europa, Kanada und Amerika werden die Sicherheitsvorkehrungen erhöht – an Flughäfen, Häfen und Grenzübergängen. Alle zuständigen Behörden erhalten eine Personenbeschreibung von Haq.«

»Und das soll helfen?«

»Nein. Aber mehr können wir nicht tun, solange wir nicht genau wissen, wohin Haq mit der Bombe will.« Unvermittelt richtete Danni sich auf und drückte den Rücken gegen die Sitzlehne. »Jonathan, darf ich dich etwas fragen? Wenn du es nicht warst, der die Dateien von Balfours Computer an Connor geschickt hat, wer war es dann?«

»Emma.«

Der Schock über die Nachricht stand Danni deutlich ins Gesicht geschrieben. »Emma war dort?«

Jonathan nickte. »Sie wollte, dass ich verschwinde. Sie sagte, sie könne mich aus Blenheim rausbringen und mitnehmen, wenn sie sich am nächsten Morgen davonmachen würde.«

»Weshalb? Wusste sie, dass du in Gefahr warst?«

»Sie dachte, dass die ganze Sache eine Nummer zu groß für mich sei.«

»Was hat sie dort gemacht?«

»Sie hat Balfour einen Crashkurs gegeben, wie er mit einer neuen Identität unerkannt leben kann. Vermutlich hat sie ihm beigebracht, sich wie ein Spion zu verhalten.«

Danni runzelte beunruhigt die Stirn. »Aber weshalb hat sie dann Connor die Informationen zugespielt? Wenn sie Balfour geholfen hat, die Bombe zu verkaufen, warum sollte sie dann noch riskieren, dass die Übergabe scheitert? Balfour hat sie doch sicher für ihre Dienste bezahlt, oder?«

»Wahrscheinlich schon.«

»Hat Emma auch Haq geholfen?«

»Das glaube ich nicht. Ich hatte eher den Eindruck, dass Balfour ein Zusammentreffen der beiden verhindern wollte. Gestern Abend hat er für seine Gäste ein festliches Dinner gegeben – für mich, Haq und die Atomphysiker, die den Sprengkopf umgebaut haben. Emma war nicht dabei.«

»Das Ganze gefällt mir nicht«, sagte Danni.

Jonathan seufzte. »Wenn du meine Meinung hören willst: Ich glaube, sie hat etwas vor. Ich wünschte nur, ich wüsste, was.«

»Wir sollten uns besser auf das konzentrieren, was du weißt«, sagte Danni. »Was genau hast du in Balfours Büro entdeckt?«

»Ich habe ein paar Dokumente gelesen mit Telefonnummern, Bankauszügen und Notizen in einer Art Notizheft.«

»Was für Notizen?«

»Einige Namen. Eine Reihe Wörter in Urdu oder Dari, die ich nicht entziffern konnte. Ich habe alles, an das ich mich noch erinnern konnte, aufgeschrieben, sobald ich wieder in meinem Zimmer war.«

»Hast du den Zettel noch?«

»Nein. Als Haq mich enttarnt hat, haben sie mir alles abgenommen.«

»Kannst du dich noch an die Dinge erinnern, die auf dem Zettel standen?«

»An ein paar vielleicht, aber nicht mehr an alles.«

»Das muss reichen.«

Jonathan warf einen Blick durch die Frontscheibe. Sie hatten gerade das Diplomatenviertel erreicht. Zwischen den Fahrbahnen hatte man breite Grünstreifen mit Büschen angelegt. Die großen, mit Ornamenten verzierten Residenzen waren von hohen Mauern umgeben. Vor den Toren schoben private Sicherheitsleute Wache.

»Was hältst du davon, wenn wir die Biege machen?«, fragte Danni.

»Und wo sollen wir hin?«

»Ich hätte da eine Idee.«

Jonathan deutete mit dem Kopf auf die Soldaten auf den Vordersitzen. »Diese Typen sind keine Nationalgardisten. Es sind Soldaten der Delta Force. Mit anderen Worten, Scharfschützen.«

»Ich weiß«, entgegnete Danni und rutschte zur Hintertür.

Allen Instinkten zum Trotz folgte Jonathan ihrem Beispiel. »Was willst du damit sagen? Wenn du weißt, dass sie ausgebildete Scharfschützen sind, warum willst du dann abhauen?«

Danni gab ihm keine Antwort. Als der Humvee an der nächsten Ampel halten musste, riss Danni die Hintertür auf und sprang aus dem Wagen. Jonathan folgte ihr und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen.

»Hey, was zum Teufel … Stopp! Sofort anhalten, ihr beiden! Kommt sofort zurück!«

Jonathan hörte die Rufe der Soldaten, drehte sich aber nicht um. Er blieb dicht hinter Danni, schlug einen Haken, wenn sie einen schlug, und wich wie sie jedem Hindernis aus. Sie bahnten sich ihren Weg durch den Mittagsverkehr wie durch ein unübersichtliches, dunstverhangenes Labyrinth, wichen Autos und Fahrrädern aus und rannten an verdutzten Verkäufern vorbei, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Irgendwann verlor sich das Geräusch der schweren Stiefel ihrer Verfolger immer mehr, bis es schließlich gar nicht mehr zu hören war.

An der nächsten Kreuzung bog Danni scharf nach rechts in eine engere, nur teilweise gepflasterte Seitenstraße ab. Auf der einen Seite wurde die Straße von einem tiefen, weiten Graben gesäumt. Dieser Graben, oder Nullah, diente dem Zweck, während des Monsunregens das Regenwasser aufzunehmen und die Straßen der Stadt so vor Überflutung zu schützen. Mit einem Satz sprang Danni in den Graben und kletterte auf der anderen Seite wieder heraus. Hinter einer niedrigen Wand am Grabenrand befand sich ein Slum aus Wellblechhütten und heruntergekommenen Häusern. Danni kletterte über die Wand und winkte Jonathan mit der Hand, damit er ihr folgte.

Kreuz und quer rannten sie durch die Straßen des Elendsviertels, bogen mal nach links, mal nach rechts ab, bis Danni sich schließlich mit dem Rücken an einen Kiosk lehnte, in dem europäische Zeitschriften verkauft wurden, die bereits seit zwei Jahren nicht mehr aktuell waren.

»Siehst du?«, stieß sie atemlos hervor und warf einen Blick um die Ecke, um ganz sicherzugehen, dass ihnen niemand mehr folgte. »Ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht auf uns schießen werden.«

Jonathan stützte sich keuchend auf die Knie. »Wie konntest du das wissen?«

»Das hier ist Islamabad, die Hauptstadt von Pakistan. Wenn ein amerikanischer Soldat es wagen würde, hier herumzuballern, hätte er innerhalb von einer Minute die halbe Bevölkerung am Hals, und das Ganze würde sich in nur einer Stunde zu einem handfesten diplomatischen Skandal ausweiten. Offiziell dürften amerikanische Soldaten gar nicht mehr auf pakistanischem Hoheitsgebiet im Einsatz sein. Die Durchsuchung am Flughafen … daran waren offiziell gar keine Amerikaner beteiligt. Laut Bericht waren dort nur Soldaten der pakistanischen Armee.«

»Ruf Connor an. Sofort. Wir müssen ihm sagen, was passiert ist. Er muss wissen, dass Haq mit dem Sprengkopf entkommen ist.«

Danni presste die Lippen fest zusammen, nickte kurz und wählte Connors Nummer. Am anderen Ende meldete sich sofort die Mailbox, und Danni legte wieder auf. »Er geht nicht ans Telefon.«

Jonathan richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Hast du eine Ahnung, wo wir sind?«

»Was weiß ich«, erwiderte Danni. »Islamabad gehört nicht gerade zu meinen bevorzugten Urlaubszielen.«

»Na großartig. Dann haben wir uns also hoffnungslos verlaufen.«

Entschlossen setzte Danni sich wieder in Bewegung. »Aber ich weiß, wohin wir jetzt gehen.«