40.

Die beiden CH-47-Chinooks kämpften sich wie zwei verirrte Brüder im heftigen Schneetreiben und durch dichte Wolken durch das enge Hochtal. Die Sichtweite betrug gerade mal dreißig Meter und war teilweise durch den blendend weißen Schnee sogar gleich null. Bei einer Geschwindigkeit von hundertachtzig Knoten flogen die Piloten deshalb mehr oder weniger blind. Auch ihre Nachtsichtbrillen verbesserten die Lage nicht wirklich. Den Piloten blieb nichts anderes übrig, als sich auf ihre Erfahrung und die Instrumente zu verlassen und zu hoffen, dass der liebe Gott an einen Schutzengel für sie gedacht hatte.

Captain Kyle Crockett saß neben dem Crewchef, den Blick fest auf einen der Bildschirme geheftet, der die Bodenaufnahmen der Infrarotkamera an der Unterseite der Helinase zeigte. Auf einem zweiten Monitor direkt daneben war eine detaillierte Karte der Gegend mit einem roten Punkt zu sehen, der ihre augenblickliche Position markierte.

Über Crocketts Kopfhörer meldete sich der Pilot. »Wir überfliegen gerade die Stelle, an der die bösen Jungs heute Morgen zuletzt gesichtet worden sind. Irgendeinen Sichtkontakt?«

»Negativ«, antwortete Crockett und starrte auf den schwarzen Bildschirm.

Der Hubschrauber geriet in ein Luftloch und sackte innerhalb von einer Millisekunde zehn Meter in die Tiefe. Die auf ihren Rucksäcken hockenden Marines wurden kräftig durchgerüttelt, und Crockett spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.

»Das Wetter verschlechtert sich dramatisch«, sagte der Pilot. »Ich kann Ihnen zwanzig Minuten geben, dann müssen wir von hier verschwinden. Eine Landung ist vollkommen unmöglich. Sie informieren uns, wenn Sie den Feind sichten, und dann erledigen wir die Sache aus der Luft.«

Crockett warf einen Blick auf die Karte. Das Tal unter ihnen erstreckte sich über weitere zehn Kartenfelder in nördliche Richtung und gabelte sich dann nach Osten und Westen. In östlicher Richtung reichte das Tal zur afghanischen Grenze und im Westen bis nach Pakistan. »Halten Sie den Kurs, und folgen Sie dann dem Tal in östliche Richtung«, instruierte er den Piloten. »Wenn sie nach Afghanistan wollen, ist das die sicherste Route.«

Als der Hubschrauber nach links abdrehte, klammerte sich Crockett am Frachtnetz fest und starrte weitere zehn Minuten unbeirrt auf den schwarzen Bildschirm. Beim geringsten Anzeichen einer Farbveränderung auf dem Schirm setzte sein Herz eine Sekunde lang aus. Doch nichts deutete dort unten im Tal auch nur im Entferntesten auf Menschen oder überhaupt ein lebendes Wesen hin. Eine absolute Einöde auf dem Dach der Welt.

»Weiter geht’s nicht«, meldete sich der Pilot auf dem Kopfhörer. »Direkt vor uns türmen sich Monstergipfel auf und versperren uns den Weg. Sollen wir ins Camp zurückfliegen?«

»Negativ«, erwiderte Crockett. »Versuchen Sie es mal mit dem anderen Tal. Bei diesem Sturm können sie noch nicht weit gekommen sein.«

»In zehn Minuten brechen wir ab, Captain.«

»Verstanden.«

Der Pilot riss das Steuer herum und wendete den Hubschrauber um hundertachtzig Grad. Genau in diesem Moment wurde der Helikopter von kräftigem Seitenwind erfasst und aufs Heftigste durchgeschüttelt. Crockett presste sich die Hände fest auf den Magen. Er fühlte sich wie eine Fliege im Marmeladenglas. Aber noch schlimmer als die Turbulenzen waren die unguten Geräusche. Die Motoren heulten, und der Rumpf ächzte und knirschte, als der Pilot alles daransetzte, in der dünnen Luft den Auftrieb nicht zu verlieren. Ein Helm kullerte durch die Kabine. Crocketts Männer waren allesamt kampferprobt und flugerfahren, doch mit so einem Höllenritt hatte keiner von ihnen gerechnet. Überall roch es nach Angstschweiß und Erbrochenem. Mit einem Heli abzustürzen war der schlimmste Albtraum eines Marine. Crockett sah, wie sich sein Richtschütze vornüberbeugte und sich in die Kotztüte erbrach.

»Alles in Ordnung, Kumpel?«

»Könnte nicht besser sein. Das hier übertrifft wirklich jede Achterbahnfahrt.«

»Hooyah«, erwiderte Crockett. »Sobald wir gelandet sind, will ich unbedingt noch mal.«

»Ich bin dabei, Captain. Kann gar nicht genug davon kriegen. Verfluchte Scheiße.«

Dem Piloten gelang es, den CH-47 wieder zu stabilisieren, und sie konnten ihren Flug zum benachbarten Tal fortsetzen. Crockett beugte sich näher zum Bildschirm, als könne er durch bloße Willenskraft ein Wärmesignal erzwingen. Auf der Landkarte sah er, dass sie gerade einen Gletscherbruch überflogen, an den sich eine Hochebene anschloss.

Auf dem schwarzen Monitor leuchtete plötzlich ein roter Fleck auf.

Crockett spürte, wie sein Herz vor Erregung schneller schlug.

»Kurs Nordnordwest«, wies er den Piloten mit beherrschter Stimme per Funk an. »Geben Sie alles.«

»Schneller geht nicht«, sagte der Pilot, nachdem er die Geschwindigkeit auf zweihundertzwanzig Knoten erhöht hatte. »Haben Sie den Feind entdeckt?«

»Schwer zu sagen.«

Crockett beobachtete, wie der Punkt langsam die Größe einer Erdnuss annahm. Der rote Fleck bewegte sich vorwärts, aber es war noch nicht zu erkennen, ob es sich um ein Tier oder einen Menschen handelte. Je näher sie kamen, desto größer wurde der Fleck, und Crockett war sich ziemlich sicher, dass es sich um einen der gesuchten Kämpfer handelte. Nicht einmal ein Tier würde sich bei diesem Wetter freiwillig nach draußen wagen.

Und dann war der Fleck auf einmal verschwunden.

»Was zum Teufel …?« Crockett wandte sich an den Crewchef. »Was halten Sie davon?«

Dieser zuckte ratlos mit den Schultern. »Wie vom Erdboden verschluckt.«

»Wie weit ist es noch bis zu der Stelle?«

»Zwei Felder.«

Crockett gab dem Piloten über Funk die Koordinaten der Stelle durch, an der der rote Punkt spurlos verschwunden war. »Gehen Sie dort runter.«

Sechzig Sekunden später schwebte der Chinook über der gewünschten Position.

»Keinerlei Lebenszeichen«, sagte der Crewchef, der den schwarzen Bildschirm überwachte.

»Schalten Sie die Scheinwerfer an«, befahl Crockett.

»Ist das nicht zu riskant?« Die Bedenken des Piloten waren durchaus berechtigt. Sobald sie den fünftausend Watt starken Suchscheinwerfer anschalteten, wären sie für den Feind eine leicht zu treffende Zielscheibe. Selbst die einfachste Boden-Luft-Rakete könnte problemlos die Hubschrauber abschießen, die nur dreißig Meter über dem Boden gut sichtbar an der Stelle verharrten. Sie hätten nicht mal den Hauch einer Chance, sich noch rechtzeitig aus dem Staub zu machen.

»Wir haben uns nicht bis hierher durch den Sturm gekämpft, um mit leeren Händen wieder zurückzufliegen.«

»Wie Sie meinen.« Der Pilot informierte seinen Kollegen im anderen Heli über seine Absichten und wartete dann, bis der zweite Chinook auf sichere dreihundert Meter gestiegen war. »Licht, Kamera, Action«, befahl er dann.

Grelles Scheinwerferlicht leuchtete auf, doch wegen der sich drehenden Rotorblätter und der stürmischen Windböen war außer aufgewirbelten Schneemassen absolut nichts zu sehen. Sogar aus dieser geringen Höhe hatte Crockett große Mühe, durch das blendend weiße Schneetreiben hindurch den Boden zu erkennen.

»Gehen Sie ein Stück weiter rauf.«

Der Helikopter stieg ein paar Meter in die Höhe, und der aufgewirbelte Schnee legte sich, sodass die Sicht nur noch vom Schneetreiben behindert wurde. Da entdeckte Crockett ein helles Stück Stoff, dass wild im Wind flatterte. Auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich um ein großes, rechteckiges Zelt handelte.

»Irgendein Lebenszeichen da drin?«, erkundigte er sich beim Crewchef.

»Negativ. Wenn überhaupt jemand da unten ist, dann ist er wahrscheinlich tot.«

»Geben Sie mir eine Abseilleine.«

Der Crewchef deutete auf das Außenthermometer. »Minus zwanzig Grad ohne die Windböen. Wollen Sie wirklich da runter?«

Crockett nickte.

»Das dürfte mehr als ungemütlich werden.« Der Crewchef zog die Schiebetür auf, und ein eisiger Windstoß fegte in die Kabine. Er schob die Abseilwinde nach draußen und befestigte das Seil daran. »Alles klar zum Abseilen, Sir.«

Crockett schulterte sein M4, schlang die Füße um das Seil, packte es mit den behandschuhten Händen und glitt daran zu Boden. Mit zehn langen Schritten erreichte er das Zelt und schob die schützende Plane am Eingang mit dem Gewehrlauf zur Seite. Vorsichtig blickte er sich um und musterte die Scheinwerfer, die Eisgeräte, den Graben und den Marschflugkörper. Den Scheinwerfer in seiner Nähe berührte er mit der Hand und stellte fest, dass er noch warm war. Ihm war sofort klar, was hier vor sich gegangen war.

Nachdem er seine Waffe abgelegt hatte, sprang er in den Graben und strich mit der Hand über den Marschflugkörper. Es dauerte nicht lange, bis er das gelb-schwarze Warnschild entdeckt hatte. Obwohl er nichts mit der Air Force zu tun hatte, wusste er genau, auf was er hier gestoßen war: eine gottverdammte Atombombe. Ohne zu zögern, zwängte er sich unter den Marschflugkörper und starrte in das breite Loch. Der Sprengkopf fehlte.

Crockett verließ das Zelt und suchte nach Spuren im Schnee. Nicht weit vom Zelteingang entfernt fand er einen eingesunkenen Stiefelabdruck und ein Stück weiter noch einen zweiten.

»Zeit zum Abflug«, meldete sich die Stimme des Piloten in seinem Ohr. »Unser Sprit wird langsam knapp.«

»Auf keinen Fall. Der Feind ist hier irgendwo ganz in der Nähe.«

»Noch zwei Minuten, dann verschwinden wir. Ihre Entscheidung.«

Crockett folgte den Spuren noch ein Stück, gab dann aber auf. Der Wind heulte ihm in den Ohren und fegte mit einer solchen Kraft über die Ebene, dass er kaum aufrecht gehen konnte. Der Landkarte nach zu urteilen, befand er sich irgendwo unten am Berg, aber die Sicht betrug in alle Himmelsrichtungen weniger als zehn Schritte und lieferte ihm keinerlei Anhaltspunkte. Crockett überlegte, ob er seine Männer zu sich runterholen und eine Suchaktion starten solle. Der Feind war ganz sicher noch nicht weit gekommen. Und wenn es ihm gelungen war, das an sich zu bringen, was er befürchtete, dann durfte er auf keinen Fall entkommen.

Doch andererseits sprachen viele Gründe gegen eine Suchaktion: der fehlende Sauerstoff und die knappen Spritreserven. Der zunehmende Sturm und die mangelnde Ortskenntnis. Und natürlich auch die Ungewissheit im Hinblick auf den Feind. Crockett hatte keine Ahnung, mit wie vielen Kämpfern er es zu tun hatte und wie schwer sie bewaffnet waren. Vielleicht würde er das Leben seiner Männer für nichts und wieder nichts aufs Spiel setzen, vielleicht würde er sie aber auch geradewegs in einen Hinterhalt führen.

Wie groß war die Chance, dass er und seine Leute dieser Gruppe von Terroristen die Atombombe wieder abnehmen konnten?

»Das war’s, Captain«, verkündete der Pilot. »Die Zeit ist um. Schlagen Sie zu, oder brechen Sie ab.«

Die Entscheidung fiel Crockett leichter als erwartet. Unterm Strich war die Sache einfach zu gefährlich. Er konnte nicht das Leben von vierzehn Männern oder den Absturz der zwei Chinooks riskieren.

»Ich komme hoch«, sagte er. »Vorher muss ich aber noch schnell ein paar Fotos für den Bericht schießen. Das wird die Jungs in D. C. bestimmt brennend interessieren. Markieren Sie die Koordinaten, und fordern Sie noch ein Team an.«

Eilig stapfte Crockett ins Zelt zurück und machte mit seiner Digitalkamera einige Aufnahmen. Er konzentrierte sich vor allem auf den Marschflugkörper und achtete darauf, dass er die Seriennummern an der Heckflosse und dem mittleren Teil gut lesbar fotografierte. Zum Schluss kroch er noch einmal unter den Marschflugkörper.

Als er durch die Öffnung ins Innere der Cruise Missile starrte, entdeckte er an einer Seitenwand ein quadratisches, in grüne Plastikfolie eingewickeltes Päckchen von der Größe einer Zigarettenschachtel. In dem Päckchen steckte ein schmaler Aluminiumstab mit Kabeln, die zu einem LCD-Timer führten. Crockett wusste sofort, was das zu bedeuten hatte und dass er in höchster Lebensgefahr schwebte. Als Soldat hatte er selbst schon mit ähnlichen Sprengsätzen gearbeitet. Er knipste die Lampe an seinem Helm an und drehte den Kopf zur Seite, um die Ziffern auf dem Display lesen zu können.

Auf der Anzeige der Zeitschaltuhr, die mit einem halben Kilo C4-Plastiksprengstoff verbunden war, stand: 0:00:06.

Sechs Sekunden.

»Sofort abdrehen«, befahl er dem Piloten über Funk und stellte erstaunt fest, wie ruhig und gefasst seine Stimme klang. »Ich stecke bis zum Hals in der Scheiße.«

Captain Kyle Crockett wusste, dass jeder Versuch, sich zu retten, zwecklos war. Mit offenen Augen beobachtete er, wie der Zähler rückwärtslief. 5-4-3-2-1-0. Das Letzte, was er sah, war ein greller Blitz. Dann wurde um ihn herum alles schwarz.

Von der Explosion spürte er nichts.