77.
Jonathan verließ das Flugzeug und ging mit langen, zügigen Schritten über die Verbindungsbrücke in den Terminal des JFK International Airport in New York City. Die letzten Stunden des Fluges waren wie im Schneckentempo dahingekrochen. Das untätige Herumsitzen und Warten hatte ihn fast verrückt gemacht. Wieder und wieder hatte er sich gefragt, welche Schritte er unternehmen konnte, um Sultan Haq ausfindig zu machen, aber ihm war nichts Gescheites eingefallen. Tatsache war, dass er kaum etwas tun konnte. Er reiste unter falschem Namen mit einem gefälschten Pass. Der amerikanische Geheimdienst suchte nach ihm, um ihn über seinen Einsatz in Pakistan zu verhören. Darum konnte er sich wohl kaum mit den Worten: »Entschuldigen Sie, ich bin Agent und arbeite für Division. Soweit ich weiß, versucht ein afghanischer Terrorist in diesem Moment eine Atombombe in die USA einzuschmuggeln«, an den erstbesten Polizeibeamten wenden. Ohne die Unterstützung von Frank Connor würde jeder Versuch, die Behörden zu warnen, mit seiner Festnahme und Inhaftierung enden.
Neben ihm überprüfte Danni gerade die Mailbox auf ihrem Handy. Während sie aufmerksam einer Nachricht lauschte, hielt sie Jonathan am Ellenbogen zurück und flüsterte ihm wortlos zu, dass er einen Moment warten solle. Jonathan sah, wie sich ihre Augen zu Schlitzen verengten und Danni die Schulter anspannte. »Hier«, sagte sie nach einer gefühlten Ewigkeit und reichte ihm das Handy. »Es ist Frank.«
»Frank Connor? Was sagt er denn?«
»Am besten hörst du dir die Nachricht selbst an.«
Jonathan hielt sich das Handy ans Ohr und lauschte. »Hallo, Danni. Ich bin’s.« Connors Stimme klang kraftlos und unsicher. Der Mann litt offensichtlich unter starken Schmerzen. »Haq ist entkommen. Er befindet sich bereits im Land oder wird in Kürze hier eintreffen. Ich vermute, dass er es auf irgendein Ziel an der Ostküste, also wahrscheinlich in Washington oder New York, abgesehen hat. Ich habe mit Benny gesprochen. Er wird alle notwendigen Schritte in die Wege leiten. Mehr kann ich dir im Moment leider auch nicht sagen. Ich habe im Moment mit ein paar persönlichen Problemen zu kämpfen. Ach ja, nehmt euch in Acht, ihr beiden. Emma ist hier, und sie hat es ebenfalls auf Haq abgesehen.«
»Wer ist Benny?«, erkundigte sich Jonathan, als er Danni das Handy zurückgab.
»Mein Frank.«
Gemeinsam gingen sie bis zum Ende des langen, eintönigen Gangs und liefen über eine Treppe nach unten. Auf einem großen Schild an der Wand stand »Willkommen in den Vereinigten Staaten«. Am Ende eines weiteren Flurs gelangten sie links zur Passkontrolle und stellten sich in der Schlange für »Andere Nationalitäten« an. Die Schlange schob sich nur langsam voran.
»Entschuldigen Sie bitte. Sind Sie Dr. Ransom? Mein Name ist Bob. Ich bin vom Department of Homeland Security, dem Ministerium für Innere Sicherheit. Würden Sie mir bitte folgen?«
Bob war um die fünfzig, hatte schütteres Haar und wirkte wie der nette Onkel von nebenan. Er trug eine Jeans mit Rollkragenpullover und eine schwarze Lederjacke. Neben Bob stand ein zweiter Mann, ebenfalls in Jeans und Lederjacke. Doch er war größer und schlanker als Bob und hatte eingefallene Wangen und tiefliegende, schwarze Augen.
Unvermittelt trat Danni zu dem zweiten Mann und küsste ihn auf beide Wangen. »Hallo, Benny«, begrüßte sie ihn.
»Wie es aussieht, steckst du bis zum Hals in Schwierigkeiten«, sagte Benny tadelnd.
Danni ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Ich habe getan, was ich tun musste.«
»Sie haben also nicht vor, mich zu verhaften?«, fragte Jonathan.
»Noch nicht«, sagte Bob. »Folgen Sie mir bitte.«
Er führte Jonathan und Danni durch etliche Türen und Flure bis zu einem wenig einladenden, fensterlosen Büro. An den Wänden hingen Poster und Plakate, auf denen Besucher über die öffentlichen Verkehrsmittel in New York informiert wurden. Sie setzten sich an einen Tisch, der mit leeren Styroporbechern übersät war.
»Wie ich von Benny erfahren habe, besteht der begründete Verdacht, dass eine Atombombe in die Vereinigten Staaten eingeschmuggelt werden soll. Ist das korrekt?«
»Soweit wir wissen, ja«, erwiderte Jonathan. »Leider haben wir keine Ahnung, wo genau.«
»Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen. Wenn Sie mir ein paar Details liefern können, werde ich mein Bestes tun, um die zuständigen Behörden zu warnen. Ich nehme das, was Benny mir erzählt hat, sehr ernst.«
Jonathan erläuterte ihm in Kurzform, was er in den letzten paar Tagen auf dem Anwesen von Balfour gesehen und erfahren hatte. Dann fertigte er eine Skizze von dem verkleinerten Sprengkopf an und lieferte eine detaillierte Personenbeschreibung von Sultan Haq. »Frank Connor geht davon aus, dass die Bombe vermutlich nach Washington oder New York gebracht werden soll«, sagte er abschließend.
»Das hilft uns leider nicht viel weiter«, entgegnete Bob.
Danni beugte sich vor. »Er vermutet außerdem, dass Prinz Raschid aus den Vereinigten Arabischen Emiraten in die Sache verwickelt ist.«
»Wir versuchen herauszufinden, wo Prinz Raschid sich derzeit aufhält«, meldete sich Benny zu Wort. »Ich setze mich mit dem Secret Service in Verbindung und frage nach, ob Prinz Raschid in der nächsten Zeit zu einem Besuch bei uns angemeldet ist.«
»Ein Porträtzeichner ist bereits auf dem Weg hierher«, fügte Bob hinzu. »Dann können wir umgehend eine Zeichnung von Haq anfertigen und an alle Einreisestellen schicken. Möchten Sie vielleicht in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken?«
Jonathan sprang von seinem Stuhl auf. Der Raum kam ihm plötzlich viel zu eng und die Beleuchtung viel zu grell vor. »Mehr können wir nicht tun?«, fragte er. »Sollen wir etwa nur rumsitzen und warten, bis die Bombe hochgeht?«
Bob drehte die Handflächen nach oben. »Sie liefern uns nicht gerade viele Anhaltspunkte.«
»Haq ist hier«, fuhr Jonathan fort, er hatte Mühe, sich seinen Frust nicht anmerken zu lassen. »Wenn selbst Emma schon hier ist, um nach ihm zu suchen, bleibt uns nicht mehr viel Zeit.«
»Wer zum Teufel ist Emma?«, wollte Bob wissen und blickte die Anwesenden der Reihe nach fragend an.
Danni wechselte leise ein paar Worte mit Benny, und dieser sagte: »Keine Sorge. Emma lassen wir aus dem Spiel.«
Jonathan blieb abrupt stehen. Sein Blick war auf einen Stapel Prospekte in einer Plastikhalterung unter einem Plakat der Metropolitan Transportation Association gefallen. Auf den Prospekten war am oberen Rand eine blaue Linie abgebildet, und etwas an dem aufgedruckten Logo kam Jonathan sehr bekannt vor.
»Jonathan? Ist alles in Ordnung?« Danni hatte sich ebenfalls erhoben und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ja«, antwortete Jonathan. Er nahm einen der Prospekte in die Hand. Darin waren die Fahrpläne für White Plains, Chappaqua und Mount Kisco abgedruckt. »Haben Sie noch mehr davon?«, erkundigte er sich bei Bob.
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über irgendwelche Zugfahrpläne«, entgegnete Bob mit gereizter Stimme. »Wir haben beim DHS auch Dienstwagen.«
Jonathan zog alle Prospekte aus dem Plastikhalter und blätterte sie durch. Plötzlich entdeckte er, wonach er gesucht hatte. Auf einem der Prospekte stand oben auf der blauen Linie »Metro-North Railroad«. M-E-T-R-O-N. »So einen Prospekt habe ich bei Haqs Unterlagen gesehen«, sagte Jonathan. »Kein Original, sondern einen Internetausdruck. Gibt es eine Linie mit dem Kürzel H-A-R?«
»Die Harlem Line«, erwiderte Bob.
»Und eine mit dem Kürzel N-E-W-H?«
»Die New Haven Line.«
»Wohin fahren die Züge dieser beiden Linien?«
Bob blickte in die fragenden Gesichter der anderen. Dann zuckte er mit den Schultern, als wäre das die dümmste Frage der Welt. »Zur Grand Central Station.«