24.

»Sie haben dreißig Sekunden, um in das Zimmer zu gehen und sich von den Dingen dort so viele wie möglich einzuprägen«, sagte Danni.

»Was denn zum Beispiel? Die Farbe der Vorhänge? Bettbezüge? Mir ist nicht ganz klar, wozu das gut sein soll.«

»Am besten beides. Aber auch das Zimmer an sich und alle Besonderheiten. Haben die Schubladen Schlösser und, wenn ja, was für welche? Wie gehen die Fenster auf? Gibt es eine Alarmanlage im Raum? Alles, was Ihnen instinktiv ins Auge sticht.«

Jonathan stand mit Danni auf den Eingangsstufen einer am Berghang gelegenen, heruntergekommenen Villa oberhalb von Herzliya. Es war kurz nach zwei Uhr nachmittags. Der strahlend blaue Himmel vom Vormittag war unter einer grauen Wolkendecke verschwunden, und das Thermometer war um zehn Grad gefallen. Die ersten Regentropfen landeten auf seinen Wangen. Mit geschlossenen Augen versuchte Jonathan, sich auf die anstehende Aufgabe vorzubereiten und seinen Kopf von allen störenden Gedanken zu befreien, damit er sich drinnen alles genau einprägen konnte. Er holte tief Luft und versuchte, ganz ruhig zu werden. Doch eine Stimme in seinem Kopf befahl ihm unaufhörlich, endlich zu zeigen, was in ihm steckte.

Die Morgenübung war ein totales Desaster gewesen. Fünf Mal hatte Danni ihn losgeschickt, um seine Wahrnehmung für das zu schärfen, was um ihn herum geschah. Die Strecke war jedes Mal eine andere gewesen, aber die Aufgabe war immer die gleiche geblieben: Er sollte herausfinden, welche vier Leute ihm folgten. Doch wie sehr er sich auch anstrengte, es war ihm einfach nicht gelungen. Seine Instinkte waren mehr als abgestumpft. Sie waren vollkommen nutzlos.

Danni schloss die Eingangstür auf und ging voran in ein Foyer mit nacktem Betonboden, einer hohen Decke und Wänden, an denen die Farbe abblätterte. Über eine Treppe gelangten sie ins Obergeschoss, wo Danni vor der ersten Tür auf der rechten Seite stehen blieb. »Dreißig Sekunden.«

Jonathan öffnete die Tür und trat ins Zimmer.

Drinnen war es stockfinster.

Erschrocken tastete Jonathan die Wand nach einem Lichtschalter ab. Als er ihn gefunden hatte, überlegte er kurz, ob er ihn benutzen sollte oder besser nicht. Aber wie sollte er sonst irgendetwas im Zimmer erkennen? Er drückte auf den Schalter, und eine nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte, tauchte das Zimmer in schummriges Licht. Was nun? Sollte er im Zimmer umhergehen oder sich nicht vom Fleck rühren? Unsicher machte er einen Schritt. Die Diele unter seinem Fuß knarrte so laut, dass man es wahrscheinlich bis Syrien hören konnte. Im Zimmer stand ein Kingsize-Bett mit einer zerschlissenen Decke und vier fleckigen Kissen. Daneben befanden sich zwei Nachttische mit jeweils einem Bücherstapel. In einer Ecke stand ein Chintz-Sofa und in einer anderen ein Standspiegel. Jonathan wagte sich noch einen Schritt vor, und die verflixte Diele knarrte sogar noch lauter. Wenn es bei dieser Aufgabe darum ging, unbemerkt zu bleiben, hatte er bereits völlig versagt. Aus irgendeinem Grund musste er ständig auf die lilafarbenen Vorhänge mit den grünen Punkten starren. An der hinteren Wand des Zimmers stand ein imposanter Schreibtisch, dessen kunstvoll geschnitzte Beine wie Löwentatzen aussahen. Angestrengt kniff Jonathan die Augen zusammen, doch das Licht war zu schlecht, um etwaige Schlösser zu erkennen, und die knarrenden Dielen hielten ihn davon ab, noch näher an den Schreibtisch heranzugehen. Bis jetzt hatte er nichts entdecken können, was für einen Geheimagenten irgendwie von Interesse war.

Frustriert entschloss er sich, die knarrenden Dielen einfach zu ignorieren, und drehte eine Runde durch das Zimmer. Zuerst nahm er sich den Schreibtisch vor und versuchte, die Schubladen herauszuziehen. Aber alle hatten altmodische Schlösser und waren abgesperrt. Auf dem Schreibtisch standen ein Fernseher mit ein paar Papierblättern und direkt daneben ein elektrischer Tischventilator. Jonathan ging weiter bis zu einem Kleiderschrank, dessen Tür offen stand. Im Inneren befand sich ein Safe, auf dem noch ein zweiter Dokumentenstapel lag. Gerade als er die Hand ausstrecken wollte, um sich die Blätter genauer anzusehen, gab ihm jemand von hinten einen kräftigen Schubs, und er landete unsanft auf dem Boden des Schranks. Verdutzt schaute er sich um und sah, wie Danni die Tür schloss.

»Ich sagte anschauen, nicht anfassen.«

»Wie sind Sie so lautlos über die knarrenden Dielen gekommen?«

»Keine Zeit für Fragen. Erzählen Sie mir lieber, an welche Details Sie sich erinnern können.«

Im Kleiderschrank war es stockduster. Jonathan zog die Knie an die Brust und versuchte sich das Zimmer noch einmal vorzustellen. »Ein Kingsize-Bett mit fleckigen Kissen, ein Schreibtisch, dessen Schubladen abgeschlossen sind, und ein Stapel Papiere auf einem Safe.«

»Was ist mit den Diamanten?«

»Was für Diamanten?«

»Und die Kalaschnikow?«

»Wollen Sie mich verarschen?«

»Ist Ihnen etwa der Terrorist hinter den grauenhaften Vorhängen entgangen?«

»Danni, lassen Sie mich endlich hier raus.«

»Okay, ich geb’s zu, alles erstunken und erlogen. Aber ist Ihnen wenigstens aufgefallen, was neben dem Bett stand?«

Jonathan erinnerte sich an die Nachttische neben dem Bett. Auf jedem von ihnen hatte ein Bücherstapel gelegen. Drei Bücher auf der einen, vier auf der anderen Seite. Und noch ein paar andere Dinge. Eine Brille und eine Packung Kaugummi. Eingehüllt in die undurchdringliche Dunkelheit, sah er die Dinge so klar vor seinem inneren Auge, als würde er ein Foto betrachten. »Ja«, sagte er. »Auf dem rechten Nachttisch stand ein kleiner Kasten mit einem schwarzen Knopf.«

»Das ist ein Alarmknopf. Balfour hat einen ähnlichen gleich neben seinem Bett stehen. Er ist hochgradig paranoid. Erinnern Sie sich an den Fernseher?«

In Gedanken wanderte Jonathan erneut durch das Zimmer. Ein alter Röhrenfernseher mit 20-Zoll-Diagonale stand auf einer Seite des Schreibtisches. »Ja, ziemlich genau.«

»Ist Ihnen dort etwas Besonderes aufgefallen?«

»Auf dem Fernseher lag ein Papierstapel.«

»Konnten Sie lesen, was auf den Papieren stand?«

»Nein … Augenblick. Ich glaube doch.« Vor seinem inneren Auge sah Jonathan ganz deutlich, was in Druckschrift am Kopfende des obersten Blatts stand. »Waffen und Rüstungsgüter. Sofort lieferbar«, zitierte er zu seiner Überraschung aus dem Gedächtnis. »Darunter sind alle möglichen Dinge aufgelistet, aber an Einzelheiten erinnere ich mich nicht mehr.«

»Versuchen Sie’s.«

»M4-Maschinengewehre. Handgranaten … Munition … Der Rest ist mir entfallen.«

Die Schranktür ging auf, und Danni half Jonathan auf die Beine. »Sind die Papiere von ihm?«, erkundigte sich Jonathan. »Balfour, meine ich.«

»Sie sind schon längst nicht mehr aktuell. Davon abgesehen sind es tatsächlich seine.«

Jonathan ging schnurstracks zum Fernseher und nahm das oberste Blatt in die Hand. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen. Seine Augen hefteten sich erwartungsvoll auf Dannis Gesicht. »Und, wie habe ich mich geschlagen?«

»Nicht übel.«