59.

Balfour betrat Jonathans Zimmer, ohne anzuklopfen. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, erkundigte er sich. »Keine imaginären Eindringlinge, die Sie entführen wollten?«

Jonathan erhob sich von seinem Platz am Schreibtisch, wo er gerade damit beschäftigt gewesen war, Balfours medizinische Befunde zu studieren. »Mir geht es gut«, sagte er mit sorgenvoller Miene. »Ist alles vorbei? Was genau ist denn eigentlich passiert?«

Wie ein Gefängniswärter, der im Begriff steht, die Zelle zu durchsuchen, stolzierte Balfour durchs Zimmer. Mit einer Pistole in der Hand, zerzausten Haaren, aufgeknöpftem Jackett und undurchdringlicher Miene erwiderte er: »Das versuchen wir ja gerade herauszufinden.«

»Sie sagten doch, dass der Anschlag auf das Konto der Inder geht.«

»Das war zumindest mein erster Gedanke. Aber wie es scheint, habe ich mich getäuscht. Zu so einem breit angelegten Manöver wären die Inder gar nicht in der Lage. Aber über meine Probleme mit der indischen Regierung sollten Sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Das Anwesen ist sicher. Zwei meiner Männer sind getötet worden, aber mir ist nichts passiert. Kein Grund also für eine Änderung unserer Pläne.«

»Zwei von Ihren Leuten sind tot? Das ist ja schrecklich. Es war also tatsächlich ein feindlicher Angriff.«

»Ein Angriff schon«, erwiderte Balfour. »Ganz sicher sogar. Nur über das Ziel sind wir uns noch nicht im Klaren.«

»Und jetzt ist der Angriff vorbei?«

»Hören Sie noch irgendwo Schüsse?«, fuhr Balfour ihn unwirsch an.

»Nein.«

»Dann ist der Angriff wohl vorbei.«

»Und der OP-Saal wurde nicht beschädigt?«

»Alles intakt«, sagte Balfour, während er im Zimmer umherging und sich prüfend umsah.

Mr. Singh hatte kurz nach Balfour das Zimmer betreten und ließ Jonathan nicht aus den Augen.

Jonathan erkundigte sich nicht nach dem Grund für ihren Besuch. Stattdessen mimte er den verängstigten Gast, der sich nicht so leicht beruhigen ließ. »Und diese Explosionen? Ist das nicht ein Fall für die Polizei?«

»Die Explosionen stammten von ein paar Handgranaten und einer Panzerfaust, die meine Männer vom Dach geholt hat. Das meiste waren kleinkalibrige Waffen. Für so etwas ist die Polizei nicht zuständig. Das ist Aufgabe der Armee, aber die hat dieser Tage offen gestanden kein großes Interesse mehr daran, mich und mein Anwesen zu schützen.«

Balfour durchstöberte die Unterlagen auf dem Schreibtisch mit dem Lauf der Pistole. Er schob das oberste Blatt des medizinischen Befunds, den Jonathan bei seinem Eintreten gelesen hatte, etwas zur Seite und neigte den Kopf, um Jonathans Notizen auf dem darunterliegenden Blatt zu lesen. In Jonathans Ohr hallten noch Emmas Worte nach, dass er sich einen guten Grund einfallen lassen solle, um sofort von hier zu verschwinden. Wenn er ihren Rat beherzigen wollte, war jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür. Er konnte vorgeben, dass ihm der Angriff zugesetzt hätte und seine Nerven der ganzen Aufregung nicht gewachsen wären. Schließlich war er Arzt und kein Soldat. Er konnte Balfour sagen, dass er mit der nächsten Maschine nach Hause fliegen wolle. Doch dann fiel ihm ein, dass Revy einen tschetschenischen Warlord in Grosny und einen zum Tode verurteilten, international gesuchten korsischen Gangster operiert hatte. Der Schönheitschirurg aus der Schweiz hatte schon zu oft unter stressigen Bedingungen gearbeitet, um glaubhaft behaupten zu können, dass ein paar Handgranaten und eine Panzerfaust zu viel für seine Nerven wären. Doch einmal abgesehen von Revys Erfahrungen aus der Vergangenheit, hatte Jonathan Connor sein Wort gegeben, und Aussteigen kam für ihn nicht in Frage.

»Waren Sie die ganze Zeit in Ihrem Zimmer?«, erkundigte sich Balfour, während er den Kleiderschrank öffnete und Jonathans Anzüge bewunderte.

»Natürlich«, sagte Jonathan. »Genau so, wie Sie es mir geraten haben.«

Balfour murmelte: »Stimmt«, während Mr. Singh Jonathan weiter finster anstarrte.

»Es bleibt also bei dem OP-Termin übermorgen früh?«, wollte Jonathan wissen.

»Wie vereinbart.« Balfour war im Bad verschwunden und betrachtete scheinbar gleichgültig Jonathans Rasierzeug. »Ich wollte Ihnen noch sagen, dass Yulia von den Ereignissen des heutigen Abends ziemlich mitgenommen ist«, rief er Jonathan aus dem Bad zu. »Sie wird Ihnen heute leider nicht Gesellschaft leisten können. Soll ich Ihnen vielleicht eines der anderen Mädchen raufschicken?«

»Nein, vielen Dank«, erwiderte Jonathan. »Für heute Abend ist mein Bedarf an Aufregungen wirklich gedeckt.«

»Keine Kondome?«, fragte Balfour misstrauisch durch die geöffnete Badezimmertür.

»Wie bitte?«

»Man sollte meinen, dass ein Arzt umsichtig genug ist, genügend Kondome einzustecken.«

Doch Frank Connors Scharfsinn stand dem von Ashok Balfour Armitraj um nichts nach. Nach der Lektüre von Revys Mails hatte er in jeder Hinsicht vorgesorgt, um sicherzugehen, dass Jonathans Tarnung perfekt war. Connor war klar gewesen, dass Sex auf der Liste eines allein reisenden Mannes ganz oben stand.

»Falls Sie eines brauchen«, konterte Jonathan, »sollten Sie in der Schublade nachsehen. Nur zu, bedienen Sie sich.«

Balfour zog die Schublade der Badezimmerkommode auf und nahm ein silbernes Päckchen heraus.

»Nehmen Sie ruhig so viele, wie Sie brauchen«, forderte Jonathan ihn auf. »Vorausgesetzt natürlich, sie sind nicht zu groß.«

Darauf schien Balfour ausnahmsweise mal keine passende Antwort auf Lager zu haben.

»Gute Nacht, Ash«, sagte Jonathan. »Schön, dass Ihnen nichts passiert ist.«

Balfour ließ das Kondom zurück in die Schublade fallen und stapfte aus dem Zimmer.