65.

»Du lieber Himmel!«

Mit aufgerissenem Mund hockte Frank Connor auf der Ecke eines Schreibtischs in der Einsatzzentrale und kümmerte sich keinen Deut darum, was die anderen von seiner offen zur Schau gestellten Fassungslosigkeit hielten. Auf dem Bildschirm vor ihm war Hangar 18 soeben in einer gigantischen Explosion in die Luft geflogen, bevor die Verbindung zum Flughafen Islamabad abriss und der Monitor vor ihren Augen schwarz wurde.

»Verbinden Sie mich so schnell wie möglich mit dem Kommandanten vor Ort«, wies Connor den Fernmeldetechniker an.

»Die Funkverbindung steht noch, Sir. Nur die Bildübertragung ist zusammengebrochen.«

»Dann stellen Sie sie eben wieder her.«

Im Raum waren alle Führungskräfte von Division versammelt. Spektakuläre Erfolge waren selten genug, und einen solch fulminanten Abschluss einer Operation würde wohl keiner von ihnen, Connor eingeschlossen, je wieder erleben. Connor hatte die Operation dank der Kamera, die auf der Schulter des Kommandeurs des Eingreiftrupps angebracht war, von Anfang an verfolgen können. Auf diese Weise war er Augenzeuge der Stürmung des Hangars, der Ermordung von Lord Balfour und Massoud Haq und des schweren, nicht enden wollenden Feuergefechts geworden. Nach all dem fiel es ihm denkbar schwer, geduldig abzuwarten, bis die Jungs von der Delta Force ihm den Hauptgewinn präsentierten.

»Haben Sie das Paket sichergestellt?«, erkundigte sich Connor beim Kommandanten.

»Nein, Sir. Im Augenblick ist es unmöglich, auch nur in die Nähe des Hangars zu kommen. Es können immer noch Munitionskisten hochgehen. Das ganze Gebiet sieht aus wie ein Schlachtfeld, und ich muss mich zuerst um meine Männer kümmern. Zwei von ihnen sind bei dem Einsatz schwer verletzt und ein weiterer ist getötet worden.«

Betretenes Schweigen breitete sich unter den Personen im Raum aus.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Connor.

Alle Anwesenden hatten einen langen Tag hinter sich. Nachdem Balfours Dateien auf Connors Computer gelandet waren, hatte dieser sie mithilfe einer Stichwortsuche nach den entscheidenden Informationen durchforstet. Doch außer einer Unmenge Daten über Balfours diverse Waffengeschäfte und über einhundert Artikeln zum Thema Marschflugkörper und amerikanische Atomwaffen war dabei herzlich wenig herausgekommen, was ihm bei seiner Suche nach dem Verbleib der Atombombe vom Tirich Mir weiterhalf.

Erst nach dreistündiger mühseliger Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen stieß Connor in all dem nutzlosen Müll eher zufällig auf eine Mail an Massoud Haq, in der sich Balfour und Haq auf eine Zeit und einen Ort zur Übergabe des Sprengkopfs verständigten. Natürlich war die Atombombe in der E-Mail mit keinem Wort erwähnt worden. Stattdessen ging es nur um einen angeblichen, harmlos wirkenden »Teppichverkauf«. Doch diese Mail zusammen mit den Anfragen bei einer Gruppe pakistanischer Atomphysiker, die nach Blenheim kommen sollten, um sich dort »ein Objekt« anzusehen, »das Ihre Expertise erfordert«, war alles, womit Connor arbeiten konnte. Zu seiner großen Enttäuschung hatte er in Balfours Unterlagen keinerlei Fotos oder andere konkrete Beweise für die Existenz der Bombe gefunden.

Connor musterte Peter Erskine, der mit vor der Brust verschränkten Armen und finsterem Gesichtsausdruck, was seine jugendlichen Gesichtszüge unvorteilhaft alt aussehen ließ, neben ihm stand. »Sehen Sie, Pete, wir haben es geschafft. Das hohe Risiko, das wir eingegangen sind, hat sich am Ende bezahlt gemacht. Wenn wir uns an den Dienstweg gehalten hätten, wäre die Atombombe schon längst am Times Square gelandet, und ganz New York City hätte sich in ein verkohltes Schlachtfeld verwandelt.«

»Das muss man Ihnen lassen, Frank«, stimmte Erskine zu. »Ihr Spielchen scheint tatsächlich aufzugehen.«

»Von wegen Spielchen. Die ganze Operation war von Anfang bis Ende durchorganisiert und bis ins kleinste Detail geplant. Niemand außer uns hätte das hier fertiggebracht.«

»Wenn Sie meinen.«

»Genau das meine ich, Peter. Und nicht nur das.«

Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, stand Connor auf. Er hätte Erskine nur zu gerne mit seinem falschen Spiel konfrontiert, genau hier, vor all seinen Kollegen, doch leider hatte er nach wie vor keine eindeutigen Beweise gegen ihn in der Hand. Die Aufstellungen der NSA hatten außer Erskines Hang zu stündlichen Anrufen bei seiner Frau zu Hause und im Verteidigungsministerium nichts ergeben. Nicht eine einzige verdächtige Telefonnummer. Keine Anrufe ins Ausland bei unbekannten Personen oder Organisationen. Die Rückmeldung vom FinCEN über Erskines finanzielle Transaktionen stand allerdings noch aus. Obwohl Connor felsenfest davon überzeugt war, dass Erskine der Verräter war, stand er nach wie vor ohne Beweise da, mit denen er seine Anschuldigungen hätte untermauern können.

Plötzlich kam Bewegung in eine kleine Gruppe, die an der Tür der Einsatzzentrale stand. Connors Assistentin, Lorena, redete aufgeregt mit drei Männern. Zwei der Männer hatte Connor noch nie zuvor gesehen. Der dritte war Thomas Sharp, Nationaler Sicherheitsberater und der ehemalige stellvertretende Direktor von Division.

Sharp drängte sich an Lorena vorbei und bahnte sich einen Weg durch die gaffende Menge bis zu Connor. »Dieses Mal sind Sie zu weit gegangen«, fuhr er ihn mit lauter Stimme an, sodass alle Umstehenden es hören konnten. »Seit einer Stunde habe ich das CENTCOM am Hals, das verflucht gerne wissen möchte, weshalb Sie mich bei dieser Operation außen vor gelassen haben. Dachten Sie ernsthaft, dass das CENTCOM mich nicht über Ihren Alleingang informieren würde?«

»Um ehrlich zu sein, Tom, das interessiert mich einen feuchten Dreck. Wenn ich Wert auf Ihre Meinung gelegt hätte, hätte ich mich bei Ihnen gemeldet.«

Sharp überging die Beleidigung, wie es von einem Vollprofi wie ihm nicht anders zu erwarten war. Groß, schlank und gewieft, brachte er sowohl äußerlich als auch charakterlich alle Eigenschaften mit, die ein Mann in seiner Position idealerweise haben sollte. »Glücklicherweise«, fuhr er mit kühler, siegessicherer Gelassenheit fort, »handelt Mr. Erskine sehr viel umsichtiger.«

»Mr. Erskine?« Connor warf Erskine einen ungläubigen Blick zu, doch der vermied es, ihm in die Augen zu schauen. »Peter hat Sie angerufen?«

Sharp baute sich direkt vor ihm auf und holte zum Vernichtungsschlag aus. »Sie hatten Grund zu der Annahme, dass Ashok Balfour Armitraj im Besitz einer Atombombe ist, und dazu noch einer amerikanischen, und hielten es nicht für nötig, mich oder irgendjemand anderen davon in Kenntnis zu setzen? Sind Sie noch ganz bei Verstand?«

»Es war eine Situation, die sofortiges Handeln erforderte. Ich habe weder Sie noch die Kollegen im Pentagon informiert, weil ich genau wusste, dass Sie die Sache in den Sand setzen würden.«

»Seit wann wussten Sie darüber Bescheid?«

»Ein paar Tage. Höchstens eine Woche.«

»Laut Mr. Erskine wohl eher seit zwei Wochen.«

»Vor zwei Wochen haben wir angefangen, den ersten Hinweisen nachzugehen. Wenn Sie es ganz genau wissen wollen, wir haben erst vor ein paar Stunden die endgültige Bestätigung erhalten, dass sich die Bombe tatsächlich in Balfours Besitz befindet.«

»Sie können also beweisen, dass diese Bombe tatsächlich existiert?«, hakte Sharp nach.

»Der Beweis ist noch im Hangar.«

»Zwei Wochen. Und Sie schicken einen Amateur los, der noch nicht einmal die offizielle Genehmigung hat, im Auftrag der Vereinigten Staaten zu handeln?«

»Immerhin haben wir es diesem Amateur zu verdanken, dass wir überhaupt wissen, wo und wann die Übergabe stattfinden sollte.«

»Wer ist dieser Ransom denn überhaupt?«

»Ein Arzt, der uns schon in der Vergangenheit bei verschiedenen Operationen geholfen hat, wenn auch nicht ganz freiwillig.«

»Ein Arzt? Gut zu wissen, dass er wenigstens irgendeine Qualifikation vorweisen kann. Nur leider hat die auch nicht das Geringste mit dem Job eines Geheimdienstagenten zu tun. Wo ist dieser Mann jetzt? Ich würde gerne persönlich mit ihm sprechen.«

»Ich weiß nicht, wo er ist«, erwiderte Connor wahrheitsgetreu. »Vor ein paar Stunden hat er versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen, aber die Verbindung wurde unterbrochen.«

Mit den Händen in den Seiten trat Sharp einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Gütiger Himmel, Frank. Sie leiden anscheinend nicht nur unter geistiger Umnachtung, sondern Sie sind komplett größenwahnsinnig geworden. Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie da angerichtet haben? Die Liste Ihrer Verfehlungen und Kompetenzüberschreitungen ist so lang, dass ich nicht einmal weiß, wo ich anfangen soll.«

»Dann lassen Sie’s doch einfach.« Connor drehte Sharp verächtlich den Rücken zu. »Halten Sie einfach den Mund, und warten Sie ab, was geschieht, so wie alle hier.«

Fünf Minuten verstrichen, dann versuchte Connor erneut sein Glück beim Kommandanten vor Ort. »Wie ist die Lage da unten? Kommen Sie jetzt an den Hangar heran?«

»Vollkommen unmöglich. Das ganze verfluchte Ding ist eingestürzt. Dort drin war genug Munition, um eine ganze Division auszurüsten, und alles ist bei der Explosion hochgegangen. Über dem gesamten Gelände regnet es Granat- und Metallsplitter. Solange sich die Lage nicht eindeutig beruhigt hat, schicke ich keinen meiner Leute auch nur in die Nähe des Hangars.«

»Was ist mit Sultan Haq?«

»Sir, außer meinen Männern ist niemand mehr lebend aus dem Hangar herausgekommen. Wenn Haq zum Zeitpunkt der Explosion noch drin war, kann er unmöglich überlebt haben.«

Connor warf Sharp einen Blick zu. »Die Bombe war im Hangar«, sagte er. »So viel steht fest.«

»Haben Sie die Bombe mit eigenen Augen gesehen?«

»Nur die Kiste, in der sie gelegen hat.«

»Die Kiste?«, wiederholte Sharp mit unüberhörbarer Skepsis in der Stimme.

»Ja. Was haben Sie denn gedacht? Dass Haq mit der Bombe unter dem Arm durch die Gegend marschiert?«

»Ich hoffe für Sie, dass Sie recht haben, Frank. Aber wie es aussieht, wird es eine Weile dauern, bis wir die Sache klären können. In der Zwischenzeit suspendiere ich Sie auf Anweisung des Präsidenten von Ihrem Amt. Meine beiden Herren hier sind Marshals. Sie haben den Auftrag, Sie nach Hause zu bringen, wo Sie bis auf Weiteres unter Arrest stehen.«

Fassungslos starrte Connor auf die beiden Männer hinter Sharp. »Hausarrest? Und was genau werfen Sie mir vor?«

»Grobe Pflichtverletzung im Amt, um nur einen der Anklagepunkte zu nennen«, erwiderte Sharp. »Außerdem wurde gestern Nacht ein Mann namens James Malloy ermordet in seinem Haus aufgefunden. Wie ich erfahren habe, waren Sie am Abend davor bei ihm. Ohne Zweifel werden wir noch eine ganze Reihe neuer Anklagepunkte gegen Sie finden, sobald wir jeden einzelnen Ihrer Schritte aus den letzten zwei Wochen kennen.«

Connor deutete auf den Bildschirm. »In dem Gebäude dort befindet sich eine Atombombe.«

»Wenn das tatsächlich wahr ist, werden wir sie finden.«

»Ich habe eine Kontaktperson vor Ort. Ihr Name ist Danni Pine. Ich möchte zuerst mit ihr sprechen.«

»Eine unserer Agentinnen?«

»Mossad.«

»Noch eine Agentin ohne Befugnisse? Gut zu wissen. Ich werde dafür sorgen, dass wir uns so schnell wie möglich mit ihr in Verbindung setzen.«

Einer der Marshals machte einen Schritt auf Connor zu, der sofort zurückwich. »Ich muss wissen, ob Ransom noch am Leben ist. Wir müssen ihn dort rausholen.«

»Wir werden uns bei Ihrer Kontaktperson nach Ransom erkundigen«, sagte Sharp. »Das war’s für Sie, Frank. Sie sind erledigt. Leben Sie wohl.«

Der Marshal packte Connor am Arm. »Hier entlang, Sir.«

Mit hoch erhobenem Kopf ließ sich Connor aus dem Gebäude führen.

»Tut mir leid«, sagte Peter Erskine. »Aber Sie haben mir keine andere Wahl gelassen.«