19.

Holpernd kam der Toyota-Pick-up auf dem schlammverkrusteten Weg zum Stehen.

Sultan Haq stützte sich mit beiden Händen am Armaturenbrett ab und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Verfluchter Mist«, schimpfte er laut und starrte auf das dichte Laub, das ihnen von allen Seiten den Weg versperrte. »Vor zwei Tagen war sie doch noch hier, genau an dieser Stelle. Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!«

Verärgert stieß Haq die Wagentür auf und stieg aus. Verbissen bahnte er sich einen Weg durch das Gewirr von Ästen, die mit gierigen Fingern nach dem Pick-up zu greifen schienen. Nach ein paar Schritten hob Haq den Kopf und schnupperte. Ein beißender Gestank von Ammoniak und brennendem Holz lag in der Luft und trieb ihm die Tränen in die Augen. Sie musste also tatsächlich ganz in der Nähe sein. Haq lief zurück zum Wagen und starrte prüfend auf den zugewachsenen Pfad vor ihnen. Nur ein paar Meter weiter führte der Weg rechts um eine Kurve und verschwand dann im Dickicht. Wenn er den Angaben seines GPS-Geräts trauen konnte, waren sie genau an der richtigen Stelle. Aber sosehr er sich auch anstrengte, er konnte nirgends eine Spur von dem Sicherheitszaun und dem lang gezogenen Holzhaus mit dem Wellblechdach und den rauchenden Schornsteinen, aus denen der giftige Qualm aufstieg, entdecken.

Haq kämpfte sich durch das Gestrüpp bis zum heruntergekurbelten Fenster an der Fahrerseite durch und drückte dreimal auf die Hupe. Keine zehn Meter von ihnen entfernt raschelte es plötzlich, und ein mit Blättern und Ästen perfekt getarntes Tor öffnete sich wie durch Zauberhand. Zwei mit Kalaschnikows bewaffnete Männer winkten sie durch. Dahinter konnten sie den Sicherheitszaun, die Wachhunde und das ehemalige Sägewerk sehen, in dem jetzt eine Raffinerie zur Herstellung von Morphinpaste untergebracht war. Haq gab dem Fahrer mit einer Geste zu verstehen, dass er vorfahren solle, und folgte dem Pick-up dann zu Fuß auf die Lichtung.

Hinter Haq wurde das Tor sofort wieder geschlossen und getarnt, um die Raffinerie vor den neugierigen Blicken unerwünschter Besucher zu verbergen.

Ein ausgemergelter schwarzgekleideter Mann empfing sie mit einer Opiumpfeife im Mund an einer durchhängenden Laderampe. »Wie viel?«, erkundigte er sich aus einem zahnlosen Mund.

»Fünfhundert«, entgegnete Haq. Er meinte die Lieferung Rohopium in Kilogramm, die er zum Verkauf anbot.

»Immer rein damit.«

Sultan Haq erteilte seinen Männern den Befehl, die Ware vom Pick-up abzuladen, und sah ihnen an den Wagen gelehnt dabei zu. Normalerweise packte er selbst mit an, doch dieses Mal konnte er wegen seiner Verletzungen nur zuschauen. Die Verbände an Hals, Schultern und Oberarmen bedeckten Verbrennungen dritten Grades, die er den Amerikanern zu verdanken hatte.

Seit der Ermordung seines Vaters in Tora Bora war eine Woche ins Land gezogen. Sieben qualvolle Tage, in denen er wegen der schweren Verbrennungen furchtbare Schmerzen erduldet hatte. In dieser Zeit hatte er auch um seinen Vater getrauert, der obendrein sein engster Freund und Vertrauter gewesen war, und unentwegt an Ransom, den amerikanischen Arzt, und dessen Verrat gedacht. Tag für Tag hatte er sich gefragt, wie er es anstellen sollte, Ransom aufzuspüren und zu töten. Er wusste, dass ihm wohl kaum vergönnt sein würde, Rache an Ransom zu üben. Aber das spielte keine Rolle. Er würde sich an all denen rächen, die Ransom zu ihm geschickt hatten. Amerika würde teuer dafür bezahlen.

Haq erklomm die drei Stufen bis zur Eingangstür und betrat die Raffinerie. Im ersten Raum wurde die angelieferte Ware gelagert. Das in durchsichtige Plastiksäcke verpackte Rohopium stapelte sich an den Wänden fast bis an die Decke.

Im nächsten Raum wurde aus dem Rohopium Morphin extrahiert. Haq sah zu, wie die Männer die Plastiksäcke mit der zähen, teerartigen Opiummasse in rostige Ölfässer entleerten. In den Fässern brodelte kochendes Wasser, das in jedem Arbeitsschritt mit anderen Chemikalien versetzt wurde. Dazwischen wurde die Brühe immer wieder gefiltert.

Das Ergebnis war die sogenannte Morphinbase. Aus zehn Kilo Rohopium wurde auf diese Weise etwa ein Kilo Morphinbase gewonnen.

Im dritten Raum wurde die Morphinbase in ziegelsteingroße Blöcke gepresst und verpackt. In dieser Form wurde sie verkauft und an Heroin-Küchen auf der ganzen Welt geliefert.

Die Gewinne aus dem Opiumanbau waren ein Argument, dem man schlicht und einfach nichts entgegensetzen konnte, dachte Haq, als er die dunklen, feuchten und übelriechenden Räume durchquerte. Aus einer ein Hektar großen Mohnplantage ließen sich zwanzig Kilo Rohopium gewinnen. Der Marktpreis für ein Kilo belief sich auf zweihundertfünfzig bis dreihundert US-Dollar. Mit der Ernte eines Mohnfelds von gerade mal einem Hektar konnte ein Bauer bis zu sechstausend Dollar verdienen, eine stolze Summe für ein Land, in dem das durchschnittliche Jahreseinkommen gerade mal bei achthundert Dollar lag. Haq und sein Clan kontrollierten über zweitausend Hektar Land, auf dem Mohnpflanzen angebaut werden konnten. In diesem Jahr hatte die Ernte vierzigtausend Kilo Rohopium erbracht, also umgerechnet knapp viertausend Kilo Morphinbase.

Mit seinem langen gekrümmten Fingernagel schlitzte Haq einen der in Plastikfolie verpackten Morphinblöcke auf und entnahm daraus eine Prise der braunen Morphinbase. Er schnupfte sie und stellte befriedigt fest, dass die Qualität hervorragend war. Seine Schmerzen ließen fast augenblicklich nach, und ein tiefes Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Einen Augenblick lang kämpfte er gegen die Versuchung an, gleich noch eine Prise zu schnupfen, doch er riss sich zusammen. Eine Droge wie diese durfte er nur sehr sparsam nehmen, wenn er nicht wie der Produktionsleiter von ihr abhängig werden und seinem Vater Schande bereiten wollte.

Haq zerteilte den Block in vier etwa gleich große Stücke und ließ eines davon in seiner Jackentasche verschwinden. In den kommenden Tagen würde ihm das Morphin gute Dienste leisten und seine Schmerzen lindern, damit er sich auf wichtigere Dinge konzentrieren konnte.

In einer Ecke des Raums lief ein Fernseher auf voller Lautstärke. Drei Süchtige hockten auf dem Boden davor und starrten wie gebannt auf den Bildschirm. Haq ging zu ihnen hinüber. »Was schaut ihr da?«

»Gangster in Amerika«, erwiderte einer der Männer.

Auf dem Boden lag eine leere DVD-Hülle. Haq hob sie auf. »Scarface«, las er laut. »Guter Film?«

»Sehr gut. Die Amerikaner lieben Drogen.«

Haq starrte auf den Bildschirm, auf dem gerade ein Mann gezeigt wurde, der mit einer Kette an eine Duschvorhangstange gefesselt war. Ein zweiter Mann hantierte mit einer Kettensäge. Die Gewaltszenen und Schreie und das Morphin in seinem Blut weckten in Haq Erinnerungen an eine lange zurückliegende Zeit und einen Ort weit weg von seiner Heimat. Mit einem Mal war er wieder in Gitmo. Das heiße, stickige Zimmer in Camp X-Ray stank nach Schweiß und Erbrochenem. Wissbegierige, wohlgenährte Gesichter umringten ihn. Aus einem Fernseher in der Ecke plärrten ununterbrochen die Stimmen und die Musik des immer gleichen Films. Drei unbeschwerte Marinesoldaten in schneeweißen Uniformen sangen aus vollem Hals und tanzten dabei quer durch Manhattan. Die Lautstärke war bis zum Anschlag aufgedreht, um unschöne Geräusche im Raum zu übertönen.

Dann prasselten die Fragen auf ihn ein.

»Was hast du in der Zeit von Juli bis November 2001 in der Provinz Kunar gemacht?«

»Ich verkaufe Teppiche. Perser. Isfahan. Sehr gute Qualität.«

»Schwachsinn, Muhammad. Du könntest einen guten Teppich doch nicht mal von einem dreckigen Klovorleger unterscheiden.«

»Ja Teppiche, ich verkaufen in Kabul.«

»Warum haben wir dich dann dreihundert Kilometer nördlich von Kabul zusammen mit fünfhundert Soldaten von Abdul Haq aufgegriffen?«

»Abdul Haq? Ich nicht kennen den Mann. Ich reisen. Ich verkaufen Teppiche. Ich mit ihnen für Sicherheit. Ich nicht Krieger.«

»So ein kräftiger Brutalo wie du soll kein Krieger sein?«

»Ich verkaufen Teppiche.«

»Schwachsinn.«

»Ein Vögelchen hat uns geflüstert, dass du der Sohn von Abdul Haq bist. Also verarsch uns nicht.«

»Ich nicht Sohn von Abdul Haq. Ich nur verkaufen Teppiche.«

Dann zogen sie ihm die Kapuze über das Gesicht und kippten seinen Stuhl nach hinten. Im nächsten Moment spürte er das Wasser auf seinem Gesicht, das ihm die Luft zum Atmen raubte.

Jedes Mal, wenn sie ihm die Kapuze wieder abnahmen, fiel sein Blick auf den plärrenden Fernseher mit den ausgelassenen Seeleuten, die sich über ihn und seine Kultur lustig machten, während sie singend und tanzend durch New York zogen.

Siebenundvierzig Mal derselbe Film im selben Raum beim ewig gleichen Verhör.

Schließlich blieb den Männern von der CIA mit den vor Zorn geröteten Gesichtern nichts anderes übrig, als ihm zu glauben. Zu dem Zeitpunkt wusste Haq alles über New York, was er wissen musste. The Bronx was up and the Battery down. Was ihn mit New York verband, war nichts außer einer abgrundtiefen Verachtung.

Jemand berührte ihn an der Schulter, und die schrecklichen Erinnerungen aus der Vergangenheit zogen sich in die finsteren Winkel seines Gehirns zurück. Haq fuhr herum und blickte dem zahnlosen Produktionsleiter ins Gesicht. »Was gibt’s?«

»In zwei Tagen sind wir so weit«, sagte der Produktionsleiter.

Haq musterte die zu einer Stufenpyramide gestapelten Morphinblöcke in der Mitte des Raums. Grob geschätzt würden am Ende dort viertausend Kilo Morphin in exakt abgewogenen und sorgfältig verpackten Blöcken auf ihre Auslieferung warten. Wenn er geschickt verhandelte, konnte er wahrscheinlich rund zehntausend Dollar fürs Kilo herausschlagen. Vierzig Millionen Dollar waren nicht nur eine stolze, sondern geradezu eine fürstliche Summe. Er würde das Geld dazu verwenden, die Kreuzritter aus seinem Land zu vertreiben.

»Bis dahin muss alles fertig sein. Übermorgen komme ich wieder.«