56.
Das Dinner wurde im großen Saal serviert. In funkelnden Kristallgläsern steckten weiße Leinenservietten. Blankpoliertes Silberbesteck lag neben den großen Platztellern aus Zinn. Zwei mehrarmige Kerzenleuchter sorgten neben dem imposanten eisernen Kronleuchter an der Decke für eine angenehme Beleuchtung. Als Jonathan den Saal betrat, zählte er sechzehn Gedecke auf dem Tisch. Passend zum festlichen Anlass trug er einen blauen Anzug mit passender Krawatte. Sein blond gefärbtes Haar hatte er mit viel Pomade gescheitelt und nach hinten gekämmt. Auf seiner Nase thronte eine schwarze Hornbrille, die Dr. Revy für gewöhnlich zu formellen Anlässen trug.
Ein Kellner in einer weißen Weste empfing ihn mit einem Silbertablett voller Champagnergläser. Noch ehe er Jonathan etwas anbieten konnte, kam Balfour ihm zuvor, schnappte sich zwei Gläser vom Tablett und drückte Jonathan eines davon in die Hand. »Ich werde Ihren Rat befolgen«, sagte Balfour zu Jonathan, »und mich nicht morgen Abend, sondern erst übermorgen früh bei Ihnen unters Messer legen. Besser auf Nummer sicher gehen, als die Dinge zu überstürzen. Zum Wohl.«
»Zum Wohl«, entgegnete Jonathan und hob sein Glas. »Ich wusste gar nicht, dass der Termin noch zur Diskussion stand.«
»Man kann doch über alles diskutieren, finden Sie nicht?« Balfour kippte den Champagner hinunter und tauschte das leere Glas sofort gegen ein volles aus. »Was macht Ihre Schulter? Sie wird Ihnen bei der OP doch hoffentlich keine Probleme bereiten, oder?«
Jonathan bemerkte den leicht glasigen Blick in Balfours Augen und fragte sich, womit dieser sich wohl für den Abend in Stimmung gebracht hatte. Was es auch sein mochte, es war garantiert stärker als Champagner gewesen. »Keine Sorge. Nur eine leichte Prellung. Vergessen Sie nicht, dass Sie morgen nach achtzehn Uhr nichts mehr essen dürfen. Am besten sollten Sie sich am Tag vor der OP gründlich ausruhen. Ich hoffe doch, dass Sie morgen nichts Anstrengendes vorhaben.«
»Nur das Übliche«, sagte Balfour. »Ich fürchte, ich werde morgen die meiste Zeit unterwegs sein. Sie werden also ohne mich auskommen müssen.«
»Nichts Nervenaufreibendes, hoffentlich?«
»Sofern ein satter Scheck nicht unter diese Kategorie fällt, nein.«
Jonathan schmunzelte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich morgen einen Ausflug in die Stadt unternehme?«
»Sie bleiben hier«, sagte Balfour bestimmt. Mit einem zögerlichen Lächeln fügte er etwas freundlicher hinzu: »Aber machen Sie besser einen Bogen um Inferno. Schließlich dürfen wir nicht riskieren, dass Ihnen noch mal etwas zustößt.«
In diesem Moment betraten die anderen Gäste fast zeitgleich den Saal, so als wären sie alle mit demselben Bus eingetroffen. Balfour bestand darauf, dass Jonathan an seiner Seite blieb, um ihn nacheinander mit allen bekannt zu machen. Zu den Gästen gehörten Mr. Singh, der ein weißes Nehru-Jackett und einen farblich abgestimmten Turban trug, und drei Pakistani mit Namen Mr. Iqbal, Mr. Dutt und Mr. Bose, die nach Blenheim gekommen waren, um Balfour bei einem »speziellen Projekt« unter die Arme zu greifen. Danach folgten die Frauen: zunächst die drei Schönheiten, die Jonathan bereits in der Disco getroffen hatte, und noch vier andere, deren Namen er sofort wieder vergaß. Jonathan selbst wurde von Balfour als »Mr. Revy aus der Schweiz« vorgestellt, ohne Angabe seines Berufs.
Insgesamt waren vierzehn Gäste erschienen, doch Emma war nicht unter ihnen.
Einer der Kellner flüsterte dem Gastgeber etwas ins Ohr, und Balfour blickte sich suchend im Raum um, als ob er jemanden vermisste. Schließlich sagte er zu den anwesenden Gästen: »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Jonathan saß rechts von Balfour mit einer blonden Ukrainerin namens Yulia zwischen ihnen. (»Jung, blond, vollbusig«, genau wie Connor gesagt hatte. Herauszufinden, ob sie auch »anschmiegsam« war, wollte Jonathan lieber jemand anderem überlassen.) Nach und nach setzten sich alle Gäste auf die ihnen zugewiesenen Plätze, und Jonathan sah, dass zwei Stühle frei blieben: einer am Ende des Tischs und der andere direkt ihm gegenüber.
»Ah, da sind Sie ja«, rief Balfour plötzlich aus und eilte dem soeben erschienenen Gast sofort entgegen. »Ich habe mich schon gewundert, wo Sie bleiben.«
Sie ist hier, dachte Jonathan und fragte sich in einem Anflug von Panik, wie er sich verhalten solle. Doch als er sich nach dem verspäteten Gast umwandte, stellte er fest, dass es nicht Emma war. Bei Balfour stand ein großer Ausländer in einem grauen Anzug, der vermutlich Balfours Klient war. Der Mann nahm auf dem Stuhl links von Balfour Platz. »Michel, darf ich Ihnen meinen Freund Shah vorstellen? Shah, das ist Michel. Michel kommt aus der Schweiz.«
Jonathan begrüßte den Mann, der ihm kurz zunickte. Seinem Äußeren nach zu urteilen, konnte er kein Pakistani oder Inder sein, dafür waren seine Haut zu blass und seine Wangenknochen zu ausgeprägt. Der Mann starrte Jonathan an, und dieser erwiderte den Blick, doch nur für einen kurzen Augenblick. Irgendetwas an dem Mann kam ihm bekannt vor und sorgte für ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend.
Balfour sprach mit seinem Gast in Dari, während die schöne Yulia die Hand auf Jonathans Arm legte und ihn fragte, ob er schon einmal in der Ukraine gewesen sei. Jonathan verneinte die Frage und gab sich alle Mühe, angeregt mit Yulia zu plaudern und dabei gleichzeitig ein paar Gesprächsfetzen von Balfour und seinem Klienten aufzuschnappen, die sich inzwischen sehr eindringlich und leise unterhielten.
Die Kellner servierten den ersten Gang, eine Kartoffel-Lauch-Suppe. Ein Sommelier mit einem Probierbecher um den Hals brachte den Wein. Balfour nahm einen Schluck und befand ihn für gut. Sofort machte sich der Weinkellner daran, Balfours Gästen einzuschenken. Der Mann namens Shah hielt eine Hand über sein Glas. Jonathans Blick fiel auf den langen Fingernagel am kleinen Finger des Mannes, und er musste sich zusammenreißen, damit der andere ihm das Entsetzen nicht ansah. Jonathan hatte von Anfang an gewusst, dass er den Mann kannte.
Mr. Shah war niemand anderes als Sultan Haq.
»Michel, haben Sie schon den Wein probiert?«, fragte Balfour. »Ich habe Ihnen zu Ehren einen Schweizer Dézaley ausgewählt.«
»Wie bitte?« Jonathan riss seinen Blick von dem gekrümmten, gelblichen Nagel seines Gegenübers los.
»Der Wein … Ein Dézaley. Sie werden ihn bestimmt mögen.«
»Merveilleux«, rief Jonathan aus, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. Sein Akzent klang übertrieben, und seine Begeisterung wirkte aufgesetzt. In wenigen Sekunden würde Haq erkennen, wer er wirklich war. Dann würde er von seinem Stuhl aufspringen, Jonathan als Spion der Amerikaner enttarnen und ihn auf der Stelle töten.
Nachdem er das Glas zurück auf den Tisch gestellt hatte, bemühte sich Jonathan krampfhaft, die Unterhaltung mit der bildschönen Ukrainerin fortzusetzen. Über was sie im Einzelnen sprachen, bekam er jedoch kaum mit, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, Haq beunruhigt aus dem Augenwinkel heraus zu beobachten. Ohne seinen Turban, den Bart und den dicken Kajalstrich auf den Unterlidern war Haq kaum wiederzuerkennen. Die Zeit schlich dahin. Haq blieb ruhig, doch Jonathans Beunruhigung legte sich deshalb keineswegs. Er war sich sicher, dass auch sein Gesicht Haq irgendwie bekannt vorkam und dieser sich im Stillen den Kopf zerbrach, wo er Jonathan schon einmal begegnet war.
»Michel, Shah hat vor Kurzem seinen Vater verloren«, wandte sich Balfour wieder an ihn. »Ich habe ihm erzählt, dass Sie Arzt sind und dass es für sein Land nur von Vorteil wäre, wenn es dort mehr ausgebildete Ärzte gäbe.«
Jonathan blieb nichts anderes übrig, als Shah direkt ins Gesicht zu blicken. »Tut mir leid, das zu hören«, sagte er und versuchte, sich so gut es ging hinter seinem Schweizer Akzent zu verstecken. »Aus welchem Land kommen Sie?«
»Afghanistan«, erwiderte Haq in seinem akzentfreien Englisch, mit dem er Jonathan schon vor zwei Wochen zutiefst beeindruckt hatte. »Von der anderen Seite der Berge, um genau zu sein. Ehrlich gesagt teile ich das Vertrauen, das Mr. Armitraj Ärzten wie Ihnen entgegenbringt, ganz und gar nicht.«
»Ach ja?«, fragte Jonathan und sah scheinbar überrascht Haq in die dunklen Augen. »Und weshalb nicht?«
»Es war ein Arzt, der meinen Vater getötet hat.«
»Aber das war doch sicher keine Absicht.«
»Wie würden Sie es denn nennen, wenn man Ihnen ein Messer an die Kehle setzt?«
»Wollen Sie damit sagen, dass der Arzt bei einem chirurgischen Eingriff einen Fehler gemacht hat?«
»Ich will damit sagen, dass der Arzt, den ich gebeten habe, meinen kranken Vater zu behandeln, ihm die Kehle durchgeschnitten hat.«
Jonathan warf Balfour einen hilfesuchenden Blick zu. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
»Mein Vater war ein Krieger«, fuhr Haq mit einer Betonung fort, die keinen Zweifel daran aufkommen ließ, gegen wen er gekämpft hatte. »Die Amerikaner hatten es auf ihn abgesehen. Für die Schmutzarbeit haben sie einen Arzt angeheuert. Sie werden sicher verstehen, weshalb ich Mr. Armitrajs Hochachtung vor Ihrem Beruf nicht ganz teile.«
»Ich kann nur wiederholen, was ich bereits gesagt habe. Dass Sie Ihren Vater auf diese Weise verloren haben, tut mir wirklich aufrichtig leid.«
»Ach ja?«, fragte Haq und beugte sich über den Tisch. Seine schwarzen Augen bohrten sich in die von Jonathan. »Sie kommen aus der Schweiz und sind Europäer. Also teilen Sie doch bestimmt den einseitigen Blick der westlichen Länder auf mich und meine Landsleute.«
»Ich versuche, mich so weit wie möglich aus der Politik herauszuhalten«, entgegnete Jonathan.
»Umso schlimmer«, sagte Haq mit abgrundtiefer Verachtung in der Stimme. »Sie sind also ein Mann ohne Prinzipien.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich jede Menge Prinzipien habe«, konterte Jonathan. »Aber ich versuche nicht, sie anderen Menschen aufzuzwingen. Vor allem nicht denen, die ich gerade erst kennengelernt habe.«
»Bitte, bitte, meine Herren«, mischte Balfour sich ein und legte den beiden Männern beschwichtigend die Hände auf den Arm.
»Schon in Ordnung, Ash«, sagte Jonathan. »Mr. Shah hat allen Grund dazu, wütend zu sein. Ohne Zweifel trauert er noch immer um seinen Vater.«
»Meine Trauer hat nichts mit dem Hass auf jene verlogenen Ignoranten zu tun, die unter dem Vorwand, Frieden zu stiften, in mein Land eingefallen sind, um meine Brüder und Schwestern zu Sklaven zu machen.«
»Was Ihre Landsleute zu Sklaven macht, ist die Ignoranz, sprich die mangelnde Bildung, und die Armut, die, wenn ich Sie recht verstanden habe, so vehement von Menschen wie Ihnen vertreten werden.«
»Michel, bitte, muss das …«, warf Balfour gequält ein.
Wütend schleuderte Haq seine Serviette auf den Tisch. »Sie, Sir, haben keine Ahnung von meinem Land und sollten sich deshalb auch nicht anmaßen, unsere politischen und religiösen Grundsätze zu beurteilen.«
»Auch ohne detaillierte Kenntnisse kann ich Ihnen verraten, dass sich die erbärmlichen Zustände in Ihrem Land nicht ändern werden, solange Sie keine Schulen für die Kinder bauen, an denen neben den Jungen auch Mädchen unterrichtet werden.«
Haq sprang auf und funkelte Jonathan wütend an. »Das Wohlergehen unserer Kinder geht Sie absolut nichts an!«
»Sie irren sich«, widersprach Jonathan. »Wenn durch die politischen Verhältnisse in Ihrem Land auch die angrenzenden Staaten ins Chaos oder gar in den Ruin gestürzt werden, gerät über kurz oder lang die ganze Welt ins Wanken, und das betrifft uns alle …«
Eine laute Explosion, die von irgendwo auf dem Gelände zu kommen schien, ließ das Haus in den Grundfesten erzittern. Der Kronleuchter schaukelte hin und her, und die Lichter flackerten. Mit weit aufgerissenen Augen saß Balfour wie versteinert auf seinem Stuhl. Kurz darauf drang das Rattern von Gewehrsalven an ihre Ohren, gefolgt von einer zweiten Explosion, die entweder noch gewaltiger gewesen oder ganz in der Nähe des Hauses hochgegangen war. Im angrenzenden Raum zersprang eine Fensterscheibe und fiel eines der teuren Gemälde von der Wand. Sekunden später wurde in unmittelbarer Nähe ein Maschinengewehr abgefeuert. Das Echo der Schüsse hallte den Anwesenden schmerzhaft in den Ohren, und Yulia stieß einen hysterischen Schrei aus. Wie auf Kommando sprangen die Gäste vom Tisch auf. Einige von ihnen stürzten zur Tür, andere rannten panisch hin und her, wieder andere blieben wie versteinert am Tisch stehen und starrten ins Leere. Jonathan hatte das Gefühl, wieder in den Höhlen von Tora Bora zu sein.
»Diese verfluchten Inder«, sagte Balfour und legte seelenruhig die Serviette zurück auf den Tisch. »Sie wagen sich doch tatsächlich hierher, diese dreisten Mistkerle.«
»Ist sie in Sicherheit?«, wollte Haq wissen, der sich fast bedrohlich vor Balfour aufgebaut hatte. Jegliches Interesse an Jonathan war von einem noch dringenderen Anliegen in den Hintergrund gedrängt worden.
»Sie haben es auf mich abgesehen«, versuchte Balfour ihn zu beschwichtigen. »Aber wenn Sie Wert darauf legen, wird Mr. Singh mit Ihnen in die Werkstatt gehen. Dann können Sie sich selbst davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«
Wieder wurde das Gespräch vom Rattern der Maschinengewehre unterbrochen. Singh verließ mit Haq den Saal. Einer der Wachmänner erstattete Balfour über Funk Bericht. »Von Runnymede? Sind Sie sicher? Wie viele sind es? Fünf? Zehn? Was soll das heißen, Sie können niemanden sehen? Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie Genaueres wissen.« Als er das Gespräch beendet hatte, wandte er sich zu Jonathan um. »Dr. Revy, ich muss Sie bitten, auf Ihr Zimmer zu gehen und die Tür hinter sich abzuschließen. Und gehen Sie unter keinen Umständen ans Fenster. Ich werde im Überwachungsraum nach dem Rechten sehen. Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich bin sicher, dass wir diese Unannehmlichkeit noch vor dem Dessert aus der Welt geschafft haben.«
Eine weitere Explosion ließ das Haus von Neuem erbeben, und dann gingen die Lichter aus.