3.

In Les Grandes Alpes schneite es. Dicke Flocken rieselten aus einem erstaunlich wolkenlosen Himmel lautlos auf den Berghang. Dem Namen nach hätte man annehmen können, dass Les Grandes Alpes in der Schweiz lagen, aber die Anlage befand sich weder dort noch irgendwo sonst in Europa. Auch das Skigebiet war alles andere als imposant. Es gab nur eine einzige, gut präparierte Skipiste, die in drei Abschnitte unterteilt war: zuerst steil, dann flach und schließlich sanft abfallend bis ins Tal.

Die junge Frau mit Namen Lara Antonowa jagte wie ein Profi über die Piste, Skier dicht beieinander und die Hände an den Hüften. Es war kurz nach drei, und auf der Piste tummelten sich jede Menge Skifahrer. Die meisten von ihnen waren Anfänger und bereits mit dem einfachen Schneepflug hoffnungslos überfordert. Lara sauste mit elegantem Schwung zwischen den anderen Skifahrern hindurch und blickte sich dabei suchend nach einem bekannten Gesicht um. Sie trug eine weiße Stretchhose und einen türkisfarbenen Daunenanorak. Ihre rotbraunen Haare hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden.

Lara Antonowa war jedoch nicht zum Skifahren gekommen. Geboren in Sibirien und aufgewachsen in einem staatlichen Erziehungsheim, hatte sie sich beim Direktorat S des russischen Geheimdiensts FSB zu einer hochkarätigen Agentin emporgearbeitet. Das Direktorat S führte Geheimoperationen im Ausland durch. Es sammelte Informationen über Geheimdienste und schreckte auch nicht vor Mitteln wie Erpressung, Einschüchterung und gelegentlich einem Mord zurück. Lara hatte einen Einsatz in Les Grandes Alpes. Sie sollte den einflussreichsten Waffenhändler Südwestasiens treffen.

Als sie die Plattform auf halber Höhe erreicht hatte, brachte sie mit gekonntem Abschwung die Skier zum Stehen. Sie schob ihre Skibrille hoch und ließ die Augen prüfend über den unteren Hang gleiten. Trotz ihrer mangelnden Skikenntnisse hatten sich die meisten Skiläufer ausstaffiert, als wären sie Stammgäste der teuersten Wintersportgebiete. Überall sah Lara die neuesten Kästle-Skier, Rossignol-Stiefel und Bogner-Skianzüge. Doch sogar im farbenfrohen Gewimmel der zahllosen Skifahrer auf dem Hang entdeckte Lara ihre Zielperson fast auf Anhieb. Der kleine gepflegte Mann mit dem konservativen dunkelblauen Skianzug fuhr mitten auf der Piste langsam und vorsichtig zu Tal. Sechs hünenhafte Männer in schwarzgrauen Parkas hatten sich um ihn herum positioniert wie die Schölachtflotte um den Flugzeugträger. Eine Entourage, die einem Staatsoberhaupt alle Ehre gemacht hätte. Der Mann hieß Lord Balfour und war zumindest dem Namen nach blaublütig.

»Ich sehe ihn«, sagte Lara, während sie in die Hocke ging, um die Bindungen an ihren Skiern zu überprüfen. »Er hat sechs seiner Gorillas um sich.«

»Sechs?«, fragte die heisere Stimme ihres Führungsoffiziers aus dem kleinen Empfänger in ihrem Ohr. »Das sind zwei mehr als beim letzten Mal. Wahrscheinlich steckt er in Schwierigkeiten.«

Die Zielperson hieß Ashok Balfour Armitraj alias Lord Balfour. Haare: schwarz (gefärbt). Größe: eins fünfundsechzig. Gewicht: circa achtzig Kilo. Alter: zweiundfünfzig. Uneheliches Kind einer Muslimin und eines Briten, aufgewachsen in Dharavi, dem verrufensten Slum Mumbais. Eine Kindheit auf der Straße. Er war schon früh auf die schiefe Bahn geraten oder ›auf Großunternehmer getrimmt worden‹, wie er es nannte. Mit acht war er bereits Mitglied einer Straßengang. Mit fünfzehn war er der Boss dieser Gang. Mit zwanzig wagte er den großen Schritt, eine eigene Gang aufzubauen.

Balfour hatte so ziemlich überall seine Hand im Spiel. Nach außen hin kaufte und verkaufe er Immobilien, trat sogar online als Makler auf und trieb Handel mit Baustoffen. Im Verborgenen handelte er mit Drogen, weißen Zwangsprostituierten und Produktfälschungen. Doch vor allem im Waffengeschäft war er der King. Egal ob Handfeuerwaffen, Artilleriegeschütze, Kampfhubschrauber oder Flugzeuge, alles, was im Jane’s Defence Weekly aufgelistet war, konnte Lord Balfour gegen entsprechende Bezahlung beschaffen.

Am Fuß des Hangs brachte Balfour seine Skier zum Stehen. Seine Männer bildeten einen gestaffelten Schutzring um ihn. Der Gorilla, der Lara am nächsten stand, schien unter der Jacke eine Uzi zu tragen. Lara wusste, dass Lord Balfour kein Freund von halben Sachen war. Wenn einer seiner Männer eine Maschinenpistole unter der Jacke verbarg, gab es sicherlich noch mehr davon.

»Wo ist die Lieferung?«, fragte Lara ihren Führungsoffizier.

»Am Imam-Khomeini-Flughafen in Teheran. Wenn nichts dazwischenkommt, ist sie in drei Stunden bei euch.«

»Alles vollständig?«

»Bis auf die letzte Patrone.«

Lara hatte sich selbst um die Transaktion gekümmert und kannte die Liste in- und auswendig. 1500 Kalaschnikows, 1000 Handgranaten, 200 Antipersonenminen, 2 Millionen Schuss Munition, 100 Nachtsichtbrillen, 500 Kilo Semtex-Plastiksprengstoff. Und das war erst der Anfang. Außerdem standen noch 20 Boden-Luft-Raketenwerfer, 10 Maschinengewehre Kaliber.50, 100 Panzerabwehrraketen und eine große Menge Munition auf der Liste. Das georderte Arsenal kostete stolze zehn Millionen Dollar und reichte aus, um ein ganzes Bataillon Taliban mit Waffen auszustatten.

»Hört sich gut an«, sagte Lara. »Schätze, die Sache läuft.«

»Lass dich nicht über den Tisch ziehen.«

Lara zog ihr Handy aus der Tasche und drückte auf die Kurzwahl. Eine kultivierte Stimme sagte in britischem Englisch: »Hallo, Schätzchen.«

»Ich bin ein Stück weiter oben am Berg.« Sie hob einen der Skistöcke, damit Balfour sie sehen konnte.

»Schickes Outfit«, bemerkte Lord Balfour.

»Sagen Sie Ihren Gorillas, dass sie mich durchlassen sollen.« Lara drückte sich mit den Stöcken ab und wedelte elegant den Hang hinunter. Sie passierte die Bodyguards, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und bremste rasant neben Balfour.

»Beeindruckende Vorführung. Kaum zu glauben, dass Sie Russin sind«, bemerkte Balfour bewundernd.

Lara dachte einen Moment darüber nach. »Dafür halten Sie sich auf Skiern wie ein Maratha.«

Balfour warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend.

Alles, was er tut, ist extrem, fiel Lara wieder ein. Er lacht zu viel, redet zu laut und tötet zu leichtfertig. Während sie den kleinen Inder mit dem aus der Stirn gekämmten und pomadig glänzenden Haar, dem angedeuteten, verwegenen Schnauzer und den warmen, freundlichen Augen ansah, zwang sie sich, daran zu denken, dass dieser Mann brandgefährlich und unberechenbar war.

»Aber Spaß beiseite, wo haben Sie gelernt, so fantastisch Ski zu laufen?« Balfour strahlte über das ganze Gesicht.

»Hauptsächlich in der Schweiz.«

»Gstaad?« Er sprach den Ort fehlerfrei aus.

»Ja, stimmt.« In Wahrheit hatte Lara noch nie einen Fuß in den Schweizer Urlaubsort gesetzt, aber sie hütete sich, Balfour noch ein zweites Mal vorzuführen. »Wie haben Sie das erraten?«

»Ein Freund von mir lebt dort. Er ist Arzt. Er sagte, dass der Ort von Russen regelrecht überrannt wird. Waren Sie während Ihrer Auszeit dort?«

Die Frage ließ Lara aufhorchen. »Wie bitte?«

»Ich meine, nachdem Sie dem FSB den Rücken gekehrt haben. Soweit ich informiert bin, waren Sie einige Jahre nicht für Moskau tätig. Ist da was dran?«

»Verraten Sie es mir.«

»Gerüchten zufolge wurden Sie vom FSB vor die Tür gesetzt, als dem Ende der Neunziger das Geld ausging. Daraufhin tauchten Sie auf der anderen Seite des Atlantiks wieder auf und arbeiteten freiberuflich für den amerikanischen Geheimdienst. Vor ein paar Monaten haben die Amis Sie jedoch wieder rausgeschmissen, woraufhin Sie prompt in Papas Arme zurückgekehrt sind.«

Lara verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, aber in ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken. Das hier war alles andere als ein Gerücht. Das war ein richtiges Leck. »Ich würde nicht alles glauben, was sich die Leute so erzählen.«

Doch Balfour ließ sich nicht so leicht vom Thema abbringen. »Mich persönlich interessiert das alles herzlich wenig«, betonte er übertrieben ernsthaft. »Mein erstes Haus habe ich mir vom Geld der CIA gebaut. Der leitende Direktor hat meine Nummer heute noch auf der Kurzwahl gespeichert. ›Balfour‹, sagt er immer, ›der Kongress hat sich gegen die Bewaffnung der Waziris ausgesprochen. Also müssen Sie die Sache übernehmen. Ich schicke Ihnen einen Scheck über zwanzig Millionen aus der schwarzen Kasse. Wenn Sie amerikanische Waffen nehmen, können wir Ihre Provision verdoppeln.‹ Offen gesagt halte ich mich für einen ehrlichen Makler. Nein, mir raubt die Frage, ob Sie tatsächlich für die Amerikaner gearbeitet haben, nicht den Schlaf.«

»Wem dann?«

»Meinem Klienten. Ich verrate Ihnen wohl kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass der Prinz keine besonders herzlichen Gefühle für den guten Uncle Sam hegt. Er ist sogar davon überzeugt, dass die Amis ihn aus dem Weg räumen wollen.«

Mit dem Prinzen war Kronprinz Raschid al-Zayid gemeint, der jüngste Sprössling des über die Vereinigten Arabischen Emirate herrschenden Zayid-Clans und geheime Finanzier der Islamisten.

»In den Zeitungen stand, dass sein Privatjet einen Motorschaden hatte«, sagte Lara. »So etwas soll vorkommen.«

»Wohl wahr. Aber letzte Woche drang nur fünf Minuten nach seinem Besuch bei einigen befreundeten Clans in der Nähe von Peshāwar eine Predator-Drohne in das Gebiet ein und tötete zehn seiner engsten Freunde. Das war wohl kaum ein Zufall.«

»Dann ist seine Angst sicher berechtigt«, bestätigte Lara. »Schließlich versorgt er die Feinde der Amerikaner mit Waffen: Taliban, Hisbollah und FARC.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Gerüchte«, sagte Lara. »Mein Boss, General Iwanow, ist auch nicht gerade schlecht informiert. Als ich ihn das letzte Mal gesprochen habe, war er ebenfalls nicht besonders gut auf die Amis zu sprechen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie es waren, der sich auf Bitte des Prinzen an uns gewandt hat?«

Balfour blickte Lara einige Sekunden lang fest in die Augen. Sein Lächeln und die Freundlichkeit waren wie weggewischt. In diesem Moment kam der hartgesottene Kriminelle zum Vorschein, der sein Gegenüber genauestens abcheckt und entscheidet, ob der andere vertrauenswürdig ist oder nicht. »Und wenn schon«, sagte er schließlich mit Nachdruck in der Stimme. »Ist die Lieferung komplett? Dem Prinzen ist sehr daran gelegen, dass nichts fehlt.«

»Die Lieferung ist vollständig. Sie steht auf der Rollbahn in Teheran und wartet nur auf das Okay des Prinzen.«

Balfour zog beeindruckt eine Augenbraue hoch. Dann drehte er sich ein wenig zur Seite, drückte auf eine Kurzwahltaste seines Handys und sagte schnell ein paar Sätze in Arabisch. »Der Prinz lässt fragen, ob die Übergabe um Mitternacht recht wäre«, sagte er zu Lara, nachdem er das Telefonat beendet hatte.

Lara wusste jedoch so gut wie Balfour, dass es zu dieser Option keine Alternative gab.

»Mitternacht passt mir gut.« Lara ließ den Blick beiläufig über zwei der in unauffälligen schwarzgrauen Skianzügen gekleideten Gorillas am Fuß des Hangs gleiten. »Sagen Sie, Ash, ist zwischen Ihnen und Ihrem Klienten eigentlich alles in Ordnung?«

»Absolut«, erwiderte Ashok Balfour Armitraj. »Wir stehen uns so nahe wie zwei Brüder.«

»Warum hat Ihr Bruder dann zwei seiner Wachhunde auf Sie angesetzt?«

Balfour folgte Laras Blick zu den beiden Bodyguards.

»Die beiden da?« Er lachte gutgelaunt. Jegliches Misstrauen schien von ihm abgefallen zu sein. »Die gehören nicht zur Garde des Prinzen. Das sind Männer der ISI, des militärischen Geheimdiensts Pakistans. Ich betrachte sie als eine Art persönliche Lebensversicherung.«

»Ach ja?«

»Sie sorgen dafür, dass mich der indische Geheimdienst nicht in die Finger bekommt. Delhi ist felsenfest davon überzeugt, dass ich an den Attentaten in Mumbai beteiligt war. Sie behaupten, dass ich die bösen Jungs bewaffnet habe, und lechzen nach meinem Blut.«

Das erklärte natürlich die Uzis. »Und, haben Sie?«, fragte Lara.

»Natürlich«, sagte Balfour. »Aber das spielt keine Rolle. Ich war nur der Zwischenhändler, der ihnen das Spielzeug verkauft hat. Wenn sie es nicht von mir bekommen hätten, hätten sie es sich woanders besorgt. Tatsächlich stammten die Waffen sogar von euch.«

»Von mir? Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.«

»Ich meine, von den Russen. Die gesamte Lieferung. AKs, Granaten, Zünder, ja selbst die Handys. Es war eine durch und durch russische Lieferung.«

Lara warf einen Blick auf die Uhr. Sie unterhielten sich bereits seit zehn Minuten in aller Öffentlichkeit, das waren genau neun Minuten zu viel. Als Kontaktmann war Balfour ein echter Albtraum. Scheinbar bildete er sich ein, dass er nicht ein von mindestens zwölf westlichen Staaten polizeilich gesuchter Krimineller, sondern ein ganz normaler Geschäftsmann sei. In Deutschland oder Großbritannien hätte ihn sein unverfrorenes Auftreten schon längst den Kopf gekostet oder lebenslang hinter Gitter gebracht. In Pakistan machte es ihn zum King.

»Also um Mitternacht«, sagte Lara. »An Ihrem Hangar in der Freihandelszone Sharjah.«

»Eines meiner Flugzeuge wird dort bereitstehen, um die Ware zu übernehmen.«

»Wo bringen Sie sie hin?«

»Ts, ts«, machte Balfour. »Das ist allein Sache des Prinzen.«

»Wir würden schon ganz gerne wissen, wofür unsere Waffen gebraucht werden.«

»Soweit ich weiß, gibt es in der Region zurzeit nur einen richtigen Krieg. Den Rest müsst ihr euch schon selbst zusammenreimen.«

Damit war alles gesagt. Lara wartete, bis Balfour und seine Männer sich entfernt hatten. Die Agenten des pakistanischen Geheimdiensts bildeten die Nachhut.

Sie blieb noch eine Stunde in Les Grandes Alpes, wo sie mehrere Male mit dem Sessellift nach oben fuhr und dann auf Skiern wieder abfuhr. Als sie ganz sicher war, dass niemand ihr folgte, fuhr sie ein letztes Mal zu Tal, schnallte die Skier ab und gab sie zusammen mit den Skistöcken und Stiefeln am Verleih ab. Anschließend ging sie in die Umkleide, zog ihre Skikleidung aus und verstaute alles ordentlich in einer Umhängetasche.

Fünf Minuten später trat sie mit Jeansshorts, einem engen schwarzen Top und flachen Schuhen bekleidet ins Freie. Ihre große Uvex-Skibrille hatte sie gegen eine Ray-Ban-Sonnenbrille vertauscht und das Zopfgummi aus den Haaren gezogen, sodass die ungestümen Locken ihr über die Schultern und ins Gesicht fielen.

Als sie den unteren Teil der Skipiste passierte, warf sie einen letzten Blick hinauf zu den Dachsparren, wo gut versteckt Schneemaschinen unaufhörlich dicke zarte Flocken aus Kunstschnee auf den Hang rieseln ließen. Nicht übel für einen Wüstenstaat, der etliche tausend Kilometer weit weg von Europa ist, dachte sie. Was stand noch gleich im Koran? Wenn Mohammed nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zu Mohammed kommen.

Kurz darauf trat sie durch eine große Doppeltür ins grelle Sonnenlicht des zweiunddreißig Grad Celsius heißen Tages im Spätherbst und fand sich inmitten der Großstadt Dubai am Persischen Golf wieder.

Am Auto angekommen, holte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich jedoch nicht Moskau, sondern Washington, D. C.

»Ich bin’s, Emma«, sagte sie. »Die Sache läuft. Mitternacht in der Freihandelszone von Sharjah. Der Prinz wird sich persönlich die Ehre geben.«