39.
Das Grand Hotel Park stand auf einer bewaldeten Anhöhe. Es war ein riesiges Chalet mit Balustraden aus dunklem Kiefernholz und zauberhaft glitzernden Lichtern unter den schneebedeckten Dächern und gehörte zu den Fünf-Sterne-Luxushotels von Gstaad. Die Neureichen stiegen vor allem im Palace ab. Die Superreichen bevorzugten das Park Hotel.
»Bist du dir sicher, dass er keine Begleitung dabeihat?« Danni hockte auf dem Beifahrersitz des Vans und musterte die festlich erleuchtete Frontseite des Hotels. »Auf unangenehme Überraschungen kann ich liebend gerne verzichten.«
Markus von Daeniken reichte ihr eine Kopie des Anmeldeformulars. »Dr. Michel Revy. Eine Person. Keine Frau. Keine andere Begleitung. Kein Hund.«
Danni zog einen schwarzen Pulli über ihr Kleid und tauschte die High Heels gegen bequeme Schuhe mit Kreppsohle. »Bist du wirklich sicher, dass das Ding auch hält?«, erkundigte sie sich, während sie sich Kletterhandschuhe über die Hände streifte.
Von Daeniken warf ihr von der Seite einen Blick zu.
Zum Schluss stopfte Danni ihre Haare unter eine Rollmütze. »Warte, bis ich zurückkomme.«
»Ich bin Polizist, kein Taxifahrer.«
»Sei ein guter Junge und tu einfach, was ich dir gesagt habe, Markus.«
Mit diesen Worten stieg sie aus dem Wagen und rannte durch das Wäldchen bis zum Hotel. Die Sicherheitsstandards in Luxushotels waren hoch. Bei nur neunundneunzig Zimmern war die Gästeliste im Park überschaubar, und das Hotelpersonal war darauf trainiert, die Gäste zu kennen. Unangenehme Fragen konnte Danni nicht riskieren.
Als sie die Südseite des Hotels erreicht hatte, packte sie eine der Regenrinnen und rüttelte mit beiden Händen daran. Das Ding saß bombenfest, so wie man es von der Schweiz erwarten konnte. Bestimmt gab es in diesem Land auch einen staatlich geprüften Regenrinnen-Inspektor. Geschickt kletterte sie an der Rinne hoch bis zum ersten Stock. An der Stelle, wo Danni sich befand, gab es keinen Balkon, nur ein großes Doppelfenster mit Blick auf den Wald. Von Daeniken hatte ihr versichert, dass das Fenster nicht verriegelt wäre. Nachdem sie zur Absicherung einen Fuß zwischen Regenrinne und Wand gequetscht hatte, lehnte sich Danni ein Stück zur Seite und schob die Klinge ihres Messers in den Spalt zwischen Rahmen und Fenster. Das Fenster schwang geräuschlos auf. Gelenkig wie eine Turnerin zog sie sich mit einem Fuß und einer Hand auf den Fenstersims hoch und landete kurz darauf mit einem lautlosen Sprung sicher im Hotel.
»Im Gästebereich gibt es keine Überwachungskameras«, hatte von Daeniken ihr gesagt. »Die Besucher des Hotels legen großen Wert auf ihre Privatsphäre. Aber nimm dich in Acht vor dem Reinigungspersonal. Sie lauern an jeder Ecke, wie die Raubvögel.«
Danni brauchte nicht lange, um die Nottreppe zu finden, und sprintete in den dritten Stock. Vorsichtig spähte sie durch einen Spalt in der Tür und sah, dass der Flur menschenleer war. Zimmer 333 war eine Ecksuite am Ende des Ganges. Mit zügigen Schritten durchquerte Danni den Flur. Von irgendwo hinter ihr drangen Stimmen an ihr Ohr. Gäste oder Zimmermädchen? Sie wandte den Kopf ab und zog die Schlüsselkarte durch das Lesegerät. Eine Frau kicherte beschwipst. Gäste also, Zimmermädchen tranken keinen Alkohol. Das Lämpchen am Lesegerät schaltete auf Grün, und Danni betrat das Zimmer.
Mit einer Stablampe, die sie aus ihrer Gürteltasche geholt hatte, durchsuchte sie Revys Zimmer. Der Zimmerservice war schon da gewesen. Auf dem sorgfältig gemachten Bett lag ein Frotteebademantel, und davor standen ein Paar Hausschuhe. Statt der Schokolade auf dem Kopfkissen lagen drei Pralinépastetchen auf dem Nachttisch. Gedämpft ertönte klassische Musik. Danni ging von der Frisierkommode zum Kleiderschrank und schließlich zum Schreibtisch und suchte überall nach Dokumenten, Notizen und persönlichen Papieren. Auf dem Schreibtisch stand ein aufgeklappter Laptop. Sie drückte auf Enter, und der Bildschirm leuchtete auf. Offensichtlich hatte Revy vom Zimmer aus Zugang zum Internet.
Sie überprüfte die zuletzt aufgerufenen Adressen im Browser und stellte fest, dass Revy sich mithilfe von Society-Seiten im Internet über seine Gäste bei der Dinnerparty informiert hatte. In jedem von uns steckt ein kleiner Spion, dachte Danni und suchte weiter. Sie fand Adressen von Pokerseiten, der Sportwetten des Bellagio Hotels in Las Vegas, von englischen Off-Track-Wetten, und als sie auf Suchanfragen nach »Ashok Armitraj«, »Lord Balfour« und »Risiken für Touristen in Pakistan« stieß, hielt sie inne.
Die letzte Adresse führte sie zur Fluggesellschaft Emirates.
Doppelklick.
Auf dem Bildschirm erschien eine Reservierungsbestätigung für einen Flug erster Klasse, Sitz 2A, von Zürich nach Dubai, ausgestellt auf Dr. M. Revy. Weiterflug mit Pakistan International Airlines nach Islamabad. Danni prägte sich alle Details des Fluges genauestens ein. Sie spürte, wie ihr Herz raste und eine innere Stimme in ihrem Kopf lautstark protestierte. Wir sind noch nicht so weit.
Nachdem sie den Browser geschlossen hatte, starrte sie nachdenklich auf den Desktop. Dann gab sie »Balfour Armitraj« als Suchbegriff ein und drückte auf Enter. Sofort wurde eine Reihe Ordner angezeigt, darunter auch einer mit dem Titel »Armitraj Anamnese«. Danni steckte einen USB-Stick in den Laptop und kopierte alle Ordner über den indischen Waffenhändler. Doch das war noch längst nicht alles, was sie mit Revys Rechner vorhatte.
Als die Ordner auf dem USB-Stick gespeichert waren, öffnete Danni eine Spionagesoftware mit Namen »Remora«. Remora war der eigentliche Grund für ihren nächtlichen Besuch bei Revy. Wie der gleichnamige Fisch heftete sich Remora an sein Opfer und folgte diesem auf Schritt und Tritt. In Revys Fall würde Remora jedes Mal, wenn dieser den Computer anschaltete, aktiv werden und alles, angefangen von Textdateien über die Internetnutzung bis hin zu E-Mails, über WLAN direkt an Division weiterleiten. Wann immer Revy einen Brief schreiben, ein Dokument aufrufen oder Korrekturen und Änderungen speichern würde, würden diese Informationen umgehend nach Washington geschickt werden. Jedes Mal, wenn Revy sich ins Internet einloggte, würde Connor erfahren, welche Seiten er wie lange besucht hatte. Und alle E-Mails, die der gute Doktor schrieb oder erhielt, würden ebenfalls auf Connors Computer landen.
Nach zehn Sekunden war der Download des Programms abgeschlossen, und nach weiteren zehn Sekunden zog Danni den USB-Stick aus dem Laptop und steckte ihn in ihre Tasche.
Einen Moment lang rührte sie sich nicht vom Fleck und lauschte. Im Hotel herrschte Totenstille. Dann warf sie einen prüfenden Blick auf die Uhr. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
Ein Dokument hatte sie noch nicht gefunden.
Danni kehrte zum Schrank zurück und durchsuchte Revys Jacketts und Hosentaschen. Nichts. Sie warf einen Blick ins Badezimmer. Wieder nichts. Schließlich entdeckte sie Revys Aktentasche unter dem Bett. Sie zog sie hervor und knackte im Handumdrehen das Schnappschloss. In der Tasche befanden sich jede Menge Papiere: Akten, Broschüren, Papiere – alle sauber sortiert und ordentlich abgeheftet. Revys Pass steckte in einer der Seitentaschen. Danni zog ihn heraus, schlug ihn auf und legte ihn vor sich auf den Boden. Mit einem biometrischen Scanner, den sie an ihr Handy anschloss, rief sie Revys persönliche Daten auf dem Sicherheitsstreifen ab und kopierte sie. Ein raffinierter kleiner Trick, den man »Klonen« nannte. Danach fotografierte sie alle Einreisestempel. Als sie damit fertig war, machte sie sich daran, die restlichen Papiere systematisch zu durchsuchen. In ihrem Kopf tickte die Uhr im Sekundentakt.
Das Dokument, das sie suchte, war in einer Mappe mit der Bezeichnung: »Reisedokumente – Pakistan« abgelegt. Ein Touristenvisum mit beigefügtem Passfoto. Danni steckte es in ihre Tasche.
Zum Schluss verstaute sie die Aktentasche wieder unter dem Bett und vergewisserte sich, dass sie nirgends Spuren hinterlassen hatte. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass das Zimmer noch genauso aussah wie bei ihrem Eintreten, ging sie zur Tür und spähte durch den Spion. Auf dem Gang war niemand zu sehen.
Drei Minuten später saß Danni wieder neben Markus von Daeniken, der den Van die Anhöhe hinunterlenkte.
»Wir haben ein Problem«, sagte sie.
»Was für eins?«
»Er fliegt früher als erwartet.«
»Wann genau?«
Danni informierte ihn über alle Einzelheiten, und von Daeniken runzelte die Stirn. Sie musste ihm nicht erst erläutern, wo das Problem lag. »Ist Ransom schon so weit?«, erkundigte er sich mit Skepsis in der Stimme.
Danni zuckte mit den Schultern und warf ihm einen Blick zu, den jeder Profi verstand. Für ein ausreichendes Training ist nie genug Zeit. »Jetzt braucht Ransom aber erst mal einen Schweizer Pass«, sagte Danni und überreichte von Daeniken Revys Pakistan-Visum. »Und zwar schnell.«
»Wird erledigt«, erwiderte von Daeniken.