22.
Frank Connor hörte, wie die Küchentür zugeschlagen wurde. Im nächsten Moment polterte jemand lautstark die Treppe hinauf. Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgerissen, und der Kongressabgeordnete Joseph Tecumseh Grant betrat das Zimmer. Er trug eine kurze Sporthose mit einem Sweatshirt. Unter seinem Arm klemmte ein Basketball. Auf seine alten Tage war er zum glühenden Anhänger von Phi Slama Jama geworden, eine Leidenschaft, die er mit etwa der Hälfte seiner Kollegen im Kongress teilte. Als Grant Connor bemerkte, zuckte er unwillkürlich zusammen.
»Frank! Was zum Teufel …?«
»Warum hast du mich angelogen, Joe?«
Grant legte den Basketball ab und schloss die Schlafzimmertür. Das Reihenhaus im Block 300 an der C Street Northeast befand sich in Sichtweite des Kapitols und war der zweite Wohnsitz von Grant und drei weiteren Kongressabgeordneten.
»Es gefällt mir ganz und gar nicht, dass du mir hier zu Hause auflauerst. Was zum Teufel bildest du dir eigentlich ein?«
»Setz dich hin, und halt die Klappe.«
»Du und dein bunter Haufen von ›Agenten‹ jagen mir keine Angst ein. Ihr seid nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Haufen von Verbrechern. Diebstahl und Mord ist alles, worauf ihr euch versteht.«
»Das reicht, Joe.«
»Hast du etwa vor, mich einzuschüchtern?« Mit ausgestrecktem Zeigefinger kam Grant wutentbrannt auf Connor zu. »Falls ja, lass dir eines gesagt sein: nicht mit mir!«
»Jemandem zu drohen ist nicht mein Stil, Joe. Andernfalls wärst du jetzt nicht hier, sondern würdest dich irgendwo auf halbem Weg zwischen Turnhalle und deinem Apartment mit dem Basketball im Arsch auf der Straße wiederfinden. Mir geht es um handfeste Resultate.«
»Resultate habe ich dir gestern zur Genüge geliefert. Jede deiner Fragen habe ich so gut ich konnte beantwortet. Und jetzt möchte ich, dass du auf der Stelle von hier verschwindest.«
Connor rührte sich nicht vom Fleck. Wie eine Buddha-Statue thronte er in Grants Drehsessel und musterte diesen mit gleichgültigem Blick. »Lass uns mal Klartext reden, Joe. Ich weiß, dass du mich angelogen hast. Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich mich genauso verhalten. Nur leider habe ich nicht die Zeit, tagelang Berichte der Air Force zu durchforsten, in denen ohnehin nur Blödsinn steht. Die Sache mit dem Marschflugkörper passiert genau jetzt und kann nicht warten. Du und ich wissen nur zu gut, dass niemand den Verlust einer Atombombe zugeben würde, bis ich das Ding höchstpersönlich ins Pentagon schleife und vor aller Augen dem Boss der Vereinigten Stabschefs auf den Tisch lege.«
»Keine Ahnung, wovon du da eigentlich sprichst«, protestierte Grant. »In diesem Land hat niemand eine Bombe verloren. Das ist die reine Wahrheit. Großes Pfadfinder-«
»-ehrenwort«, fiel Connor in den Schwur ein. »Du wiederholst dich.« Mit finsterer Miene zog er einen großen Briefumschlag aus der Jacke und schleuderte ihn auf den Couchtisch. »Mach ihn auf.«
Grant trat zum Tisch und hob das Kuvert auf. Als sein Blick auf den Namen des weltbekannten Journalisten fiel, an den der Brief adressiert war, riss er ungläubig die Augen auf. Der Umschlag war nicht zugeklebt. Beim Anblick der Fotos wechselte sein Gesichtsausdruck von Verwirrung zu Wut und schließlich zu Scham. Connor war schon oft Zeuge solch eines Mienenspiels geworden. Als Grant die Aufzeichnungen der Handygespräche las, verlor er endgültig die Beherrschung. Er funkelte Connor wütend an und schien dann plötzlich auf einen Gedanken zu kommen. Achtlos ließ er den Inhalt des Kuverts fallen und begann, fieberhaft Bücher aus den Regalen zu reißen, die polternd zu Boden fielen. Auch diese Reaktion kannte Connor zur Genüge.
»Wo ist sie, du Schwein? Wo habt ihr sie versteckt?«
»Mach dir keine Mühe«, entgegnete Connor. »Die Kamera findest du doch nicht. Solche Dinge lassen wir für gewöhnlich nicht vor Ort.«
Geschlagen gab Grant die Suche auf. »Steckt sie dahinter?«, bohrte er weiter. »Gehört sie auch zu deinen Leuten?«
»Wie ich gestern schon sagte, Joe. So gerissen bin ich nicht. Sie ist nur eine ganz gewöhnliche Vierzehnjährige, die die Sidwell Friends School besucht.«
Grant bückte sich, sammelte die belastenden Fotos und Papiere ein und steckte alles zurück in den Umschlag. »Sind das die einzigen Abzüge?«
Connor schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Warum tust du das?«
»Betrachte es als eine Art Druckmittel. Um ehrlich zu sein, es verschafft mir eine gewisse Genugtuung, wenn ich so überhebliche Moralapostel wie dich und deine Freunde in die Schranken weisen kann. Aber im Grunde geht es mir vor allem um Effizienz. Ich muss dafür sorgen, dass ich meine Arbeit tun kann, ohne dass ihr mir ständig dazwischenfunkt.«
Ein ungeheuerlicher Verdacht ließ Grants Miene noch eine Spur finsterer werden. »Springst du etwa mit allen so um?«
»Du lieber Himmel, nein«, sagte Connor beschwichtigend. »Dazu wären wir personell und finanziell gar nicht in der Lage. Außerdem ist nicht jeder der Vorsitzende des Unterausschusses, dem ich Rechenschaft schuldig bin. Der Haushaltsausschuss hat nichts von mir zu befürchten, ebenso wenig wie der Bankenausschuss.«
Nervös lief Grant im Zimmer auf und ab. Alle paar Schritte blieb er stehen, warf Connor einen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Alles was recht ist, Frank, dieses Mal hast du den Finger mitten in die Wunde gelegt.«
»Ich trage nur Informationen zusammen, Joe. Für diese hier bist meines Erachtens du der richtige Mann.«
»Das war ich vielleicht mal vor fünfundzwanzig Jahren.«
»Soweit ich weiß, ist die Halbwertszeit von Uran doch ein bisschen länger.«
»Frank, was du verlangst, ist schlicht unmöglich …«
»Ich warte.«
Grant ließ sich auf einen Stuhl fallen, als bräche er unter einer übergroßen Last auf den Schultern zusammen. »Weißt du, was eine Spiegel-Mission ist?«
»Das ist nicht mein Metier.«
»In den Jahren, als Russland noch der Staatsfeind Nummer eins war, haben wir unsere Kampfjets Langstreckenflüge absolvieren lassen, um Flugprofile für den Fall eines Atomkriegs zu bekommen.
Die Testflüge sollten nach Möglichkeit genauso ablaufen wie im Ernstfall. Deshalb der Name Spiegel-Mission. Auf einem dieser Testflüge ist es passiert. Bei einer B-52 fingen die Motoren Feuer, und das Flugzeug mit zwei Atombomben an Bord stürzte ab. Da der Flug topsecret war, konnten wir keine großangelegte Bergungsaktion starten. Obendrein wären die USA vor der ganzen Welt blamiert gewesen. Wir konnten den Verlust der Bomben nicht zugeben, solange wir sie nicht wiederhatten. Das Ganze war von Anfang bis Ende eine einzige Katastrophe.«
»Ihr habt die Bomben also einfach abgeschrieben?«
»Bei unseren Nachforschungen stellte sich heraus, dass eine der Bomben beim Aufprall explodiert war und somit nicht mehr geborgen werden konnte. Das Problem hatte sich folglich auf nur noch eine Bombe reduziert. Wir hatten zwar eine ungefähre Vorstellung davon, wo das Flugzeug abgestürzt war, aber du darfst nicht vergessen, dass wir von einem Vorfall aus dem Jahr 1984 sprechen und die Ortungssysteme in jener Zeit nicht mit denen von heute zu vergleichen sind. Die Absturzstelle konnte auf eine Fläche von zweihundertsechzig Quadratkilometern eingegrenzt werden, aber das größte Problem war das bergige Terrain. Zweihundertsechzig Quadratkilometer im Hindukusch waren für ein Bergungsteam so unübersichtlich wie ein zehntausend Mal so großes Gebiet im Flachland. Drei Jahre lang haben unsere Teams heimlich nach der Bombe gesucht. Es war eine monumentale Aktion, weil es nahezu unmöglich ist, dort oben herumzukraxeln, ohne Aufsehen zu erregen. Das ganze Gebiet ist eine menschenleere Einöde, selbst ein einzelner Wanderer ist dort schon ein Ereignis. Da kannst du dich nicht einfach in einer Nacht-und-Nebel-Aktion anschleichen, dir die Bombe schnappen und gleich wieder verschwinden. Schließlich handelt es sich um das gottverdammt höchste Gebirge der Welt.«
»Habt ihr es mit Satelliten versucht?«
»Um einen unserer Satelliten im Weltall so auszurichten, dass er eine spezielle Stelle absucht, muss man eine Genehmigung vom Kongress einholen. Heimlich einen Schalter umlegen und dann alle Spuren hinter sich verwischen, das wäre zu einfach. Zumindest damals war an so etwas nicht zu denken. Keiner von uns wollte, dass die Geschichte publik wurde. Uns waren im wahrsten Sinn des Wortes die Hände gebunden.«
»Und keiner hat die Bombe je gefunden?«
Grant schüttelte den Kopf. »Es grenzte schon an ein Wunder, dass wir das abgestürzte Flugzeug geortet haben. Wir haben alle Wrackteile, die wir finden konnten, vernichtet, weil es an Bord der Maschine geheimes Equipment gab und wir alle Hinweise auf unser Land vertuschen wollten. Aber von der Bombe haben wir nicht die geringste Spur gefunden. Am Ende haben wir sie einfach abgeschrieben. Sie hätte genauso gut im Ozean am Grund des Marianengrabens liegen können. Ich meine, wenn wir nicht an sie herankamen, wer sonst hätte sie in die Finger kriegen sollen?«
Grants Worte konnten Connor nicht aus der Fassung bringen. In seinen fünfundzwanzig Dienstjahren hatte er schon genug Stümperei, Ausflüchte und Selbstbetrug erlebt. Viele Bürokraten hatten ein Faible für Notlügen, um ihre beruflichen Fehler zu kaschieren. »Wie schwer ist die Bombe, Joe?«
»Glaub mir, wir haben wirklich alles versucht«, beschwor ihn Grant. »Alles, was menschenmöglich war. Gerade du solltest wissen, dass man manche Dinge besser unter den Teppich kehrt.«
»Über was für eine Bombe sprechen wir hier?«
»Wir hatten es mit den Russen zu tun. Was glaubst du wohl?«
»Ihre Antwort bitte, Herr Kongressabgeordneter.«
»Eins fünfzig.«
»Eins fünfzig was?«
»Einhundertfünfzig Kilotonnen. Der größte Sprengkopf, den wir in einem Marschflugkörper unterbringen konnten.«
»Wie schwer war noch mal die Bombe von Hiroshima?«
»Zehn Kilotonnen.«
Connor starrte Grant an.
»Sie kann unmöglich wieder aufgetaucht sein«, verteidigte sich Grant. »Sie befindet sich in siebentausend Meter Höhe, gut dreihundert Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Das verfluchte Ding wiegt 1360 Kilogramm. Die Bombe ist futsch, Frank. Hörst du? Sie liegt irgendwo auf dem Grund einer prähistorischen Gletscherspalte. Keiner kommt an sie heran. Das ist vollkommen ausgeschlossen.«