Vierundachtzig

Ollie und Joe Wilson waren gerade auf dem Weg nach draußen, als Martha aufschrie und herumsprang, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen.

»Was ist denn jetzt wieder?« Ollies Hand lag schon am Türgriff.

»R.C. hat alle gefunden. Elizabeth und den Mann aus West Point und seine Tochter! Er hat sie alle!«, sagte Martha aufgeregt.

»Und wo sind sie jetzt?«, fragte Ollie nach einem tiefen, erleichterten Seufzer.

»Auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie sind in ein paar Minuten dort.«

»Fahren wir!«, sagte Ollie in die Runde. Die gesamte Belegschaft der Dienststelle rannte zur Tür. Niemand dachte daran, Marlow zu informieren. Er stand in der Toilette und stopfte sein Hemd in die Hose. Es war ihm beim Aufstellen des offiziellen Podiums herausgerutscht.

»Verdammt, R.C. So antworte doch!«, schimpfte Ollie nach drei vergeblichen Versuchen, den Deputy über Funk zu erreichen. Er hatte ein paar Fragen, die keinen Aufschub duldeten.

Als Ollie um die Ecke bog und zum Eingang der Notaufnahme fuhr, hielt er Ausschau nach R.C.s Streifenwagen. Aber er sah nur die Fernsehteams am Boden sitzen und sich ausruhen. Anscheinend ahnten sie nicht, dass hier gleich etwas passieren würde. Normalerweise reagierten sie jedoch schnell. Ollie parkte an der Seite des Gebäudes und spähte die Straße entlang.

Einige Fahrzeuge näherten sich mit hohem Tempo. R.C.s Streifenwagen war nicht dabei. Ollie verschränkte die Arme und wartete.

Neben ihm hielt Miz Martha mit quietschenden Reifen und sprintete an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Sie eilte ins Krankenhaus, um Mrs Tillman und Mrs Beasley die gute Nachricht zu überbringen. Ollie lächelte. Er merkte, dass die Filmcrews ihn anstarrten. Eine Reporterin kam näher. Anscheinend hatte sie eine Frage. Während sie noch auf ihn zuging, sah Ollie Zach Beasley ankommen und ins Hospital laufen.

»Was ist denn los, Deputy? Wo ist Sheriff Marlow?«, fragte die Reporterin dreist.

Die Frage wurmte Ollie. Er zählte bis fünf, dann sagte er eisig: »Ich bin Ollie Landrum, der Sheriff von Sumter County. Sheriff Marlow ist entweder in meinem Büro oder auf dem Weg hierher.«

»Sorry, Sheriff. Was ist denn los?«, fragte die blonde Reporterin, die trotz ihres perfekten Stylings absolut nichtssagend wirkte.

»In ein paar Minuten werden Sie es wissen«, antwortete Ollie. Er hielt nach einem Blaulicht Ausschau und wollte unbedingt den Anschein aufrechterhalten, dass er genau wusste, was nun geschehen würde. Typisch R.C., dachte er. Lässt wieder mal alle im Ungewissen. Mit hektischen Gesten forderte die Reporterin ihren Kameramann auf, sich bereitzuhalten.

Plötzlich öffnete sich die automatische Tür der Notaufnahme. Schwestern, Pfleger und diverses anderes Klinikpersonal kamen mit Rollstühlen und Tragen herausgerannt. Ollie staunte über die Begeisterung, mit der die Kleinstadt auf eine solche Krise reagierte. In der Menge entdeckte er Miz Martha, Olivia Beasley und eine Frau, bei der es sich nur um Mrs Tillman handeln konnte.

Mit kreischenden Reifen hielt ein Wagen auf dem Parkplatz der Notaufnahme. Die Insassen, eine junge Frau und ein junger Mann, rannten direkt auf Mrs Tillman zu. Das müssen Tanners Schwester und sein Schwager sein. Ollie konnte nicht hören, was sie sagten. Doch die Umarmungen und Tränen sprachen Bände.

Noch immer sah Ollie kein Blaulicht. Nur ein Sattelschlepper bog gerade auf die Straße zum Krankenhaus ein. Ollie behielt die Menge im Blick. Die Anspannung war greifbar und die Szene erinnerte ihn an die Rückkehr einer Footballmannschaft nach einem großen Sieg. Nur die Rollstühle und Tragen passten nicht recht dazu.

Als der große Laster auf den Parkplatz der Notaufnahme einbog, wollte Ollie fast auf ihn zurennen und ihn aufhalten. Aber irgendetwas sagte ihm, er solle warten. Dann entdeckte er Steve Tillmans strahlendes Gesicht hinter dem Fenster auf der Beifahrerseite, eilte hin und riss die Tür bereits auf, bevor der Truck richtig zum Stehen gekommen war.

»Wir haben sie gefunden, Ollie!«, rief Tillman. Dann hangelte er sich aus dem Fahrerhaus. »Elizabeth ist am Knöchel verletzt. Aber abgesehen davon geht es ihr ganz gut, glaube ich!« Er sprach so laut, dass Ollie ihn trotz des Dieselmotorengeräuschs hörte. »Wir müssen ihr runterhelfen.«

Ollie war unsagbar erleichtert, Elizabeth Beasleys lächelndes Gesicht zu sehen. Gemeinsam mit Tillman half er ihr aus dem Truck. Ein Rollstuhl stand schon für sie bereit. Die Scheinwerfer der Übertragungsteams leuchteten auf. Alle redeten wild durcheinander und stellten Fragen. Elizabeth war schlammverkrustet. Ihr Knöchel war geschwollen, aber sie lächelte und fragte nach Tanner. Um sich selbst machte sie sich keine Gedanken. R.C. stieg grinsend hinter ihr aus dem Truck. Ollie umarmte ihn, noch bevor er auf dem Boden stand.

»Schau mal, wen ich noch gefunden habe, Chief!« R.C. zeigte nach oben.

Ein Mann in verdreckten, nassen Jeans und einer Jagdweste mit Tarnmuster kletterte herunter. Ollie sah nur seinen Rücken. Auf dem Sitz hockte ein süßes kleines blondes Mädchen, das von Kopf bis Fuß in Tarnklamotten steckte. Sie wartete darauf, dass der Mann endlich unten ankam und sie ihm folgen konnte. Ollie ließ dem Mann Zeit, der Kleinen herunterzuhelfen, dann legte er ihm die Hand auf die Schulter.

»Jake Crosby?«, fragte er.

»Ja, Sir«, sagte Jake. Nebenher versuchte er einem Pfleger klarzumachen, dass er keinen Rollstuhl brauchte.

»Über Sie machen wir uns schon die ganze Nacht Gedanken.«

»Und ich bin ziemlich froh, aus dem Wald raus zu sein. Ich muss Ihnen einiges erzählen.«

»Ich möchte gerne hören ...«, sagte Ollie, wurde jedoch unterbrochen.

»Jake! Jake!« Mick Johnson drängte sich durch die Menge.

»Mick! Hast du meine Nachricht bekommen?«

»Teilweise. Wir wussten nicht wirklich, was das alles zu bedeuten hat ... Woher kam das ganze Blut vor deinem Wohnwagen?«, fragte er, bevor Ollie ihn daran hindern konnte.

R.C. nahm Katy auf den Arm. »Ich bringe sie ins Warme.«

Jake nickte zustimmend. R.C. mied die Kameras, als befände er sich in einem Zeugenschutzprogramm.

»Sheriff. Ich habe zwei Männer getötet ... Aber sie hatten die volle Absicht, uns zu töten. Das schwöre ich«, sagte Jake nüchtern. Dabei sah er Ollie fest in die Augen.

Zwei Männer! Verdammt!, dachte Ollie. So etwas konnte man nicht auf einem Parkplatz besprechen. Aber bevor er Jake bitten konnte zu warten, zeigte der schlammverkrustete Mann auf Elizabeth. »Und ich habe gesehen, wie ein Gangmitglied einen anderen Gangster umgebracht hat, der sie vergewaltigen wollte.«

Die Fernsehreporter und alle Umstehenden gerieten völlig außer sich. Bislang hatte Jake die vielen Menschen nicht einmal bemerkt.

Ollie packte ihn am Arm. »Wir müssen hier weg. Brauchen Sie einen Arzt?«

»Nein. Mir fehlt nichts!«, schrie Jake über die Fragen der Reporter hinweg. »Aber mein kleines Mädchen wurde gerade ins Krankenhaus getragen. Ohne sie will ich hier nicht weg!«

»Und Sie müssen Ihre Frau anrufen. Sie macht sich Sorgen«, fügte Ollie hinzu.

»Sie weiß Bescheid?«, fragte Jake verwirrt.

»Ja. Wir haben viel zu besprechen, Mr Crosby«, antwortete Ollie. Er legte Jake den Arm um die Schultern und schob ihn zum Eingang der Notaufnahme. Mick folgte ihnen. Aus dem Augenwinkel sah Ollie Marlows Wagen ankommen. Aus Marlows Miene sprach purer Neid. Die Deputys schoben die wogende Menge so weit auseinander, dass Ollie und Jake wie durch eine Gasse zur automatischen Tür gelangen konnten. Ollie wollte mit Jake an einem ruhigen Ort sein und erst einmal nachfragen, ob es dort draußen vielleicht noch jemanden gab, der gerettet werden musste.

»Gute Arbeit, diese Bergung, Marlow«, sagte Joe Wilson sarkastisch.

Sheriff Marlow warf ihm einen vernichtenden Blick zu, dann folgte er der Gruppe ins Krankenhaus. Vielleicht ergibt sich ja drinnen noch eine gute Gelegenheit für ein Foto, dachte er.

Jake sah, wie Elizabeth ihre Mutter und ihren Vater umarmte. Als sie ihn entdeckte, zeigte sie sofort auf ihn. Ihre Mutter drehte sich zu ihm um. Mit den Lippen formte sie das Wort »Danke«. Dabei liefen ihr Tränen übers Gesicht.

Jake nickte lächelnd.