Drei
Etwa hundertfünfzig Meter vom Tor entfernt stand das Clubhaus still zwischen riesigen Tannen. Völlige Dunkelheit hüllte Jake ein. Er schluckte und beeilte sich, damit er ein paar Lichter einschalten konnte. Die Dunkelheit zeigte ihm, dass Tate noch nicht hier war. Das Liebes-U-Boot stand in der Ecke des Grundstücks an der Seite des Clubhauses. Er parkte direkt vor dem Wohnwagen, ließ die Scheinwerfer brennen, stieg aus, schloss die Tür auf und machte Licht. Erleichterung durchflutete ihn wie die Helligkeit den Airstream.
Katy stand bereits hinter ihm und meldete für sich und die Beanie Babies einen Anspruch auf das obere Stockbett an. Jake ließ sie dort und ging wieder hinaus. Er wollte das Clubhaus aufschließen und die Flutlichtanlage anschalten. Um sich gefahrlos einen Weg durch die Unmengen von altem Zeug bahnen zu können, das hier herumlag, brauchte man so viel Licht wie nur möglich. Alte Kochherde, abgefahrene Reifen und Hochsitze überall. Das Gras reichte ihm fast bis zu den Knien. Ich muss Katy sagen, dass sie auf dem Weg bleiben soll, damit sie nicht auf eine Klapperschlange tritt.
Mit jedem Licht, dass er anschaltete, fühlte Jake sich ein bisschen wohler. Eigentlich fürchtete er sich nicht vor der Dunkelheit, aber manchmal war ihm doch etwas unheimlich zumute. Hinter Jakes Wohnwagen stand das Wrack eines Wohnmobils. Die riesigen Löcher in den Wänden gaben den Blick auf die Isolierung frei, sämtliche Fenster waren zerbrochen. Katy war überzeugt, dass es dort spukte. Und Jake dachte trotz seiner achtunddreißig Jahre lieber nicht darüber nach. Das gesamte Clubgrundstück wirkte irgendwie gespenstisch. Wie die Hollywoodversion eines Versammlungsortes des Ku-Klux-Klan – Rebellenflagge und Tierschädel inklusive.
Katy lag auf dem oberen Bett und machte dort, was neunjährige Mädchen und Beanie Babies so tun, während Jake ihre Sachen vom Wagen in den Wohnwagen brachte. Gegen die kühle Nachtluft schaltete er das elektrische Heizgerät an. Dann bereitete er die Ausrüstung für die Jagd am nächsten Morgen vor. Stiefel, lange Unterhosen, Socken und Tarnkleidung – alles für den Einsatz bereit. Nur sein Gewehr und die Jagdweste ließ er noch im Truck.
»Komm, wir machen ein Feuer. Und bis es richtig gut brennt, spielen wir ein paar Runden Billard«, schlug Jake vor.
»Au ja!«, antwortete Katy begeistert. Sie kletterte vom Bett.
Jake mochte die Feuerstelle vor dem Clubhaus. In der kühlen Luft am Feuer zu sitzen tat so gut. Ihm gefiel es, wenn seine Vorderseite warm wurde, sein Rücken aber kühl blieb. Stundenlang konnte er in die Flammen starren und hin und wieder in den Holzscheiten stochern.
Sorgfältig schichtete er das Holz auf: Er legte einen dicken Scheit mit ein paar Anzündern in die kalte Asche und stapelte trockene Holzstücke darum. Damit alles gut brannte, übergoss er das Holz mit Feueranzünder. Dann warf er ein brennendes Streichholz in die Konstruktion. Die Flammen loderten auf. Sofort spürte er die Hitze auf der Haut. Ein paar Sekunden lang sah er zu, wie das Feuer die Flüssigkeit fraß.
»Wow ... was für ein Riesenfeuer!«, rief Katy.
»Komm, wir spielen Billard. Ich behalte es im Auge. Wir lassen es ein bisschen runterbrennen, dann grillen wir Marshmallows. Hast du genug gegessen? Hast du Hunger? Durst?«
»Nein, alles klar, Dad.«
»Okay, gut. Bleib dicht hinter mir. Das Gras ist ziemlich hoch, und ich will nicht, dass du hinfällst. Gleich beginnt die Billardweltmeisterschaft. Der Verlierer muss die Stadt verlassen«, scherzte Jake.
»Mach dich auf was gefasst, großer Junge. Ich werde dich versohlen wie ein rothaariges Stiefkind!«, verkündete Katy und plusterte sich dabei auf wie eine Gettogöre.
»Katy! Wo hast du denn das her?«
»Von dir. Wenn du am Fluss mit Scout arbeitest, sagst du das andauernd.«
»Sag das lieber nicht mehr. Das ist nicht schön. Es ist bloß so ein alter Spruch. Mensch, Mädchen, du bringst mich noch in Teufels Küche!« Jake verdrehte die Augen. Ich muss aufpassen, was ich sage, wenn sie dabei ist. Sie ist wie ein Schwamm. Auf dem Weg zum Clubhaus fiel ihm noch etwas anderes ein, womit er sich Schwierigkeiten einhandeln konnte.
»Hey, Katy, achte am besten gar nicht auf die Bilder an den Wänden und sag auch Mom nichts davon. Okay?« Jake wusste, dass ihn diese Mahnung in ihrem Alter nicht sonderlich abgeschreckt hätte. Aber Katy gehörte zu den Kindern, die normalerweise taten, was man ihnen sagte. Beim letzten Ausflug zum Camp hatte er die wirklich schlimmen Bilder abgedeckt (oder die wirklich guten, das kam ganz auf die Perspektive an). Nur ein paar Texas-Girls in Bikinis waren noch auf den ersten Blick zu sehen.
Angesichts der beachtlichen Anzahl von Pin-ups an den Wänden nahm Jake an, dass die Jungs vom Club ihre Frauen oder Freundinnen nie mit hier heraus brachten. Oder es machte denen schlicht nichts aus. Morgan hätte das Haus betreten, sich dort kurz umgeschaut und wäre direkt wieder hinausgerannt. Ihre Vorstellung von einem rustikalen Wochenendausflug war das Hilton. Und die Bilder mit den Nackten hätten das Fass zum Überlaufen gebracht.
»Bitte geh aufs Klo, Katy! Ich bereite so lange die Kugeln vor.«
»Ach, Dad.«
»Bitte.«
»Aber man kann die Tür nicht abschließen.«
»Im Moment bin nur ich da, und ich platze ganz sicher nicht rein, während du dein Geschäft erledigst.«
»Uhhh ... Okay.« Sie zuckte die Schultern und schleppte sich zur Toilette, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen.
Als die Kugeln bereitlagen, nahm Jake sich einen Queue, steckte den Kopf aus der Tür und sah nach dem Feuer. Die Flammen loderten noch immer heftig.
»Die Spülung funktioniert nicht!« Katy klang verwundert.
»Dann hast du sie wohl kaputt gemacht, Süße.«
»Dad, im Ernst.«
»Entschuldige. Ich habe vergessen das Wasser anzustellen. Moment.« Jake griff sich den Wasserschlüssel und eine Taschenlampe, die, wenn er sie kräftig schüttelte, ein paar Sekunden lang funktionierte. Er stapfte zum Ende des Grundstücks, schüttelte die Lampe, fand den Wasseranschluss und stellte ihn rasch an. Im Dunkeln verschwendete er nie viel Zeit.
»Versuchs noch mal!«, rief er. Dann ging er wieder ins Haus.
»Danke!«, rief Katy über das Spülgeräusch hinweg.
Jake lächelte. Die Sache mit der Toilette erinnerte ihn an die Sitcom Sanford and Son. Sein Vater hatte die Sendung sehr gemocht. Wenn Fred die Spülung drückte, gluckste er vor Lachen. Vieles erinnerte Jake an seinen Vater.
Katy hüpfte wieder in den Raum. Die Billardweltmeisterschaft konnte beginnen. Sie liebte das Spiel und beherrschte so langsam die Grundlagen. Jake war ein geduldiger Lehrer und verkniff sich jeden Kommentar, wenn eine ihrer gestreiften Kugeln verschwunden war, nachdem er draußen nach dem Feuer gesehen hatte. Und nachdem Katy zwei Spiele gewonnen hatte, beschlossen sie Marshmallows zu grillen. Sie redeten und freuten sich an den züngelnden Flammen. Katy stellte eine Million Fragen zu den Sternen, auf die Jake nur ein paar wenige Antworten wusste. Aber wenn er einfach etwas erfand, merkte sie es sofort. Deshalb war er vorsichtig. Er liebte die gemeinsame Zeit mit ihr und fand sie sehr erholsam.
Während er zusah, wie Katy Marshmallows verdrückte, dachte er darüber nach, wie wenig selbstverständlich es war, dass sie den Freitagabend und den größten Teil des Samstags mit ihm in einem Jagdcamp verbrachte. Dafür hatte sie sogar auf eine Geburtstagsfeier auf der Eisbahn verzichtet. Katy war so energiegeladen, so voller Leben. Er wollte sie an sich drücken, sie vor allen Schmerzen und Verletzungen auf dem Weg zum Erwachsenwerden schützen.
Mädchen. Die sind so cool. Kleine Mädchen zumindest, dachte er. Dabei warnten ihn alle seine Freunde vor den höllischen Teenagerjahren, die vor ihm lagen. Aber vielleicht würde die Bindung zwischen ihnen ihm ... ihnen beiden durch die schwierige Zeit helfen, die ganz sicher auf sie zukam.
»Katy, hör mal! Das ist eine Nachtschwalbe. Man kann nie zählen, wie oft sie pfeift, weil man immer vorher einschläft. Sie kann die ganze Nacht lang weitermachen.«
»Cool. Wie sieht sie denn aus?« Sie stopfte sich ein angekokeltes Marshmallow in den Mund.
»Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich noch nie eine gesehen habe. Der Legende nach ist sie ein tapferer Indianer, der seine Liebste auf dem Pfad der Tränen verloren hat, du weißt schon, als die Indianer von ihrem Land vertrieben wurden. Jetzt pfeift er andauernd, weil er sie wiederfinden möchte«, sagte Jake mit schauriger Stimme.
Katy starrte ihn an und lauschte dem schwermütigen Lied der Nachtschwalbe in der Ferne. Sie legte den Kopf schräg, als würde sie ihm die Geschichte nicht ganz abkaufen.
»Wenn sie nachts singt, weiß man, dass es Frühling geworden ist. Früher sagte man, wenn man sie im Frühjahr zum ersten Mal hört, müsse man sich zu Boden werfen und dreimal herumrollen. Sonst hätte man das ganze Jahr über Pech.«
»Ist das wahr?«
»Nein. Das ist bloß Aberglaube.«
Jake schürte das Feuer. Funken stoben. Dann redeten sie weiter. Sie sprachen über die Schule und American Idol. Schließlich stellte Katy eine Frage, die ihn überraschte. »Was kostet es eigentlich, Mitglied hier im Jagdclub zu sein?«
»Warum willst du das wissen?«, fragte er ziemlich misstrauisch. »Möchte Mom, dass du das herausfindest?«
»Nein ... eigentlich nicht. Ich bin bloß neugierig.«
Jake wollte nicht lügen. Also sagte er ihr die Wahrheit und sie redeten nicht weiter darüber.
Er trank sein Coke aus und stellte fest, dass es schon fast elf war. Selbst wenn ich Empfang hätte, wäre es jetzt zu spät, bei Tate zu Hause anzurufen.
»Lass uns ins Bett gehen. Wir müssen um Viertel vor fünf aufstehen und haben dann einen langen Marsch vor uns«, sagte Jake gähnend.
»Aber wir haben noch gar keine Gespenstergeschichten erzählt«, stellte Katy fest.
»Es ist schon spät und ich würde es heute lieber lassen.«
»Du hast Angst ... oder?«
»Nein, Ma’am. Habe ich nicht. Und jetzt ab ins Bett!«
»Bloß eine Geschichte, bitte ... Es muss auch keine Gespenstergeschichte sein. Biiiiitte?«
»Okay. Lass mich überlegen.« Jake schürte das Feuer. »Also. Es passierte auf einer Geschäftsreise nach Dallas und wir waren auf dem Weg zum Flughafen. Alle fünf Fahrspuren waren voll.«
»Fünf – wow!«, antwortete Katy, als könne sie sich das vorstellen.
»Ja. Es ist anders als in West Point. Jedenfalls überholt uns mit etwa hundert Sachen ein Truck, und als er vor uns wieder einschert, fällt eine Kiste von der Ladefläche. Sie schlittert auf uns zu, wir können nicht ausweichen und zum Drüberfahren ist sie zu groß. Der Truck war längst weg, also mussten wir anhalten und ...«
»Wer ist ‹wir›?«, unterbrach sie.
»Ähm ... ich und ähm ... egal. Nicht so wichtig.«, antwortete er. »Also hielten wir an und ich zerrte die Kiste von der Straße. Ich wollte nicht, dass ein Unfall passiert. Aber ich war natürlich neugierig, also öffnete ich die Kiste. Und rate mal, was drin war?«, fragte er aufgeregt.
»Keine Ahnung.« Katys Interesse war geweckt. Erwartungsvoll riss sie die Augen auf.
»Eine Plastiktüte mit einem verdammt blutigen gestreiften T-Shirt.«
»Oh, du meine Güte! Ich wette, das war ein Polizeiwagen mit einem Beweisstück ... Konntet ihr den Laster einholen?«
»Nein. Unmöglich. Der war längst verschwunden und wir hatten es selbst eilig.«
»Was hast du also getan?«
Einen Augenblick lang machte er ein ernstes Gesicht, schüttelte den Kopf und erwiderte: »Was blieb mir anderes übrig, als einen Streifenwagen zu rufen?« Dann grinste er breit.
Katy starrte ihn fragend an. Dann lachte sie. »Das war gut. Eine Sekunde lang hätte ich dir fast alles geglaubt. Ich dachte, in der Tüte ist ein Beweisstück und sie rasen zum Polizeibüro.« Katy lächelte.
»Komm. Wir gehen ins Bett.«
»Okay.«
Im Wohnwagen war es nun schon deutlich wärmer. Katy zog ihren Schlafanzug an und kroch in den Schlafsack im oberen Bett. Jake schloss die Tür ab, stellte den Wecker und schaute gleich noch einmal nach, ob er die richtige Zeit eingestellt hatte. Dann warf er einen letzten Blick auf die Kleidung, die sie für den nächsten Morgen brauchten, und löschte das Licht.
»Morgen früh werden die Truthähne kollern wie verrückt«, sagte er und zog ihr den Schlafsack bis über die Schultern. »Ich habe ein gutes Gefühl für unsere Jagd.«
»Ich auch, Dad«, sagte sie schläfrig.
»Gute Nacht, Katy. Ich liebe dich. Danke, dass du mitgekommen bist.« Jake tätschelte die kleine Gestalt im Schlafsack.
»Ich hab dich noch viel lieber. Gute Nacht.«
Jake zog sich das Shirt und die Jeans aus. Er würde in seinen Boxershorts in dem Bett unter Katy schlafen.
Draußen pfiff noch immer die Nachtschwalbe, aber im Wohnwagen war es bis auf das Summen des Heizgeräts ganz still. Jake entspannte sich. Er dachte über Ereignisse des Tages nach, den Ärger bei der Arbeit, die unausgesprochenen Probleme in seiner Ehe und den Spaß, den es ihm bereitete, mit einer so umgänglichen und unbeschwerten Neunjährigen unterwegs zu sein. Lächelnd schloss er die Augen.
»Dad, kriege ich ein Pferd?«, fragte Katy.
»Katy, Pferde sind furchtbar teuer. Außerdem hast du schon vier Katzen, einen Hund, zwei Hamster und einen Goldfisch!«
»Wenn ich kein Pferd kriege, sage ich Mom, wie viel der Truthahnclub kostet.« Katy kicherte zufrieden.
»Ach, und von jetzt an willst du mich damit erpressen und bekommst immer alles, was du haben möchtest?«, stellte Jake frustriert fest.
»Vielleicht.« Sie kicherte erneut.
»Schlaf jetzt, Katy!« Voller Bewunderung für die raffinierte Falle, die sie ihm gestellt hatte, schüttelte er den Kopf. Er wusste, dass das erst der Anfang war.