Vierunddreißig

Der Knall, der die Nacht zerriss, ließ Reese zusammenzucken. Offenbar war ganz in der Nähe ein Schuss gefallen. Die Schreie wurden danach noch lauter und hysterischer. So schnell es die Dunkelheit und das dichte Unterholz zuließen, rannte er in die Richtung, aus der sie kamen. Er wusste, wie man sich in schwierigem Gelände bewegte. Er wollte unbedingt bei dem dabei sein, was gerade vor sich ging. Während er sich unter Ästen duckte und über umgestürzte Baumstämme sprang, überlegte er, wer an Minis Telefon gegangen war. Er war beunruhigt. Die ganze Sache war rätselhaft und Rätsel waren ihm verhasst.

Bevor Reese die Stelle erreichte, von der all die Geräusche kamen, blieb er stehen und horchte. Er glaubte, weiterhin die erstickten Schreie eines Mädchens zu hören. Die männliche Stimme, die er schluchzen und murmeln hörte, kannte er gut. Zunehmend verwirrt, aber überaus vorsichtig, schob Reese sich weiter voran. Etwa hundert Meter vor ihm sah er den schwachen Schein einer Taschenlampe. Lautlos schlich er sich näher heran. Reese nahm die Browning von der Schulter, entsicherte das Gewehr und behielt es in der Hand.

»Ich habe es dir doch gesagt ... Ich habe dich gewarnt ... Warum hast du nicht auf mich gehört?«

Minis Gestammel verwirrte Reese noch mehr. Geräuschlos arbeitete er sich voran. Vom Rand der Lichtung aus sah er einen Körper auf dem Boden liegen. Daneben stand Mini mit der Pistole in der Hand. Neben dem Körper warf eine kleine Taschenlampe einen unheimlichen Schein durch die Grashalme. Außer Mini schien niemand hier zu sein.

»Mini. Ich bin’s, Reese. Was ist passiert? Was ist hier los?«

Mini fuhr zusammen, sprang ein Stück zurück und richtete den großen Revolver aus rostfreiem Stahl auf Reese.

»Shit, Mini! Ich bin’s, Reese!«, schrie er. »Nimm die verdammte Kanone weg!«

Mini ließ die Pistole sinken und fiel auf die Knie. Die Waffe glitt ihm aus der Hand und plumpste ins Gras.

Reese kam vorsichtig näher. Entsetzt stellte er fest, dass Sweat der Tote war. Offenbar hatte Johnny Lees Killer nun auch ihn erschossen. Reese hatte Sweat zwar nie besonders gemocht, aber das hieß nicht, dass er ihm den Tod wünschte.

»Was zum Teufel ist passiert, Mini?«, fragte Reese. Er beugte sich vor und sah sich Sweat genauer an. Der Tote hatte ein riesiges Loch im Hinterkopf. »Was ist passiert, verdammt!«

Mini schluchzte lauter. Er ließ den Kopf hängen und murmelte: »Ich hab ihm gesagt, er soll es nicht tun ... Ich hab ihm gesagt, ich lasse nicht zu, dass er ihr was tut ...«

»Wem etwas tun? Dem Kind? Wo ist der Typ, der Johnny Lee kaltgemacht hat? Was zum Teufel geht hier vor?« Reese konnte nur raten. Er starrte Sweats Leiche an. Das sah nach einer kaltblütigen Hinrichtung aus.

»Mini, was war hier los? Hat er Sweat erschossen? Ich weiß nicht ... Wo ist er? Mini! Mini! Hör zu. Reiß dich zusammen, Mann. Sag mir, was passiert ist!«

Jemand rannte durch den Wald. Das Geräusch ließ Reese hochfahren. Er hob die Hand, damit Mini still war. Dann sah er ihn an. »Mini, wo ist dein Telefon?« Mini befand sich in einer anderen Welt. Unverwandt betrachtete er Sweats Leiche.

Reese war mehr als wütend. Er wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Sein bester Freund war tot und jetzt auch noch ein zweites Mitglied der Gang. Er nahm an, dass für beides derselbe Typ verantwortlich war, und konnte nur noch an Rache denken.

»Mini, wo ist Johnny Lees Killer? Er ist dir doch nicht durch die Lappen gegangen, oder?«

»Die Dummy Line ist blockiert. Er kann nicht raus«, murmelte Mini endlich.

»Dann ist er also immer noch hier in der Gegend ... Das passt. Vor zwanzig oder dreißig Minuten habe ich gehört, wie er nach Osten fuhr.« Reese dachte laut nach: »Wie bist du hier hergekommen?«

»Quad.«

Reese musste seiner Beute lautlos folgen. Aber das Quad war hilfreich, um später wegzukommen, falls sie den Truck des Killers nicht fanden. Was mache ich mit Mini? Im Moment ist er völlig nutzlos. Und was mache ich mit Sweats Leiche? Shit. Es kommt einfach zu viel zusammen.

»Okay. Sieh zu, dass du dich wieder einkriegst. Ich verfolge den Killer. Wo ist dein Telefon? Das Funktelefon, das Johnny dir gekauft hat. Wo ist es?«, fragte Reese entnervt.

»Ich glaube, es ist ... daheim.« Mini war langsam wieder ansprechbar. Ihm dämmerte, dass Reese nicht ahnte, dass er Sweat erschossen hatte. Und er wusste, dass er richtig gehandelt hatte. Seine Schwester war vergewaltigt worden, und er hatte erlebt, wie sehr sie unter dem Trauma gelitten hatte. Vor Frauen hatte er Achtung. Wenn Sweat Witze darüber gerissen hatte, wie toll es war, Frauen zu quälen und zu missbrauchen, war ihm immer zum Kotzen zumute gewesen. Trotzdem durfte Reese die Wahrheit über Sweats Tod nicht erfahren.

Dass Mini sein Telefon zu Hause liegen gelassen hatte, konnte Reese sich gut vorstellen. Wahrscheinlich war vorhin irgendein besoffener Idiot an den Apparat gegangen. Aber warum nahm Mini das Ding nicht mit? Reese beschloss, ihm diese Frage nicht gerade jetzt zu stellen.

»Wer hat denn die ganze Zeit geschrien?«

»Das war ein Mädchen, siebzehn oder achtzehn vielleicht«, antwortete Mini lahm.

»Im Ernst?« Kann das die Freundin des Killers gewesen sein? Seine Frau? Seine Tochter? Aber was ist mit den Spielsachen, dem kleinen Schlafsack? Das passt alles nicht zusammen. Reese bekam langsam Kopfschmerzen. Er wollte Johnny Lees Tod rächen und in gewisser Weise auch den von Sweat.

»Was war hier los?«, fragte er ruhig. Er hoffte, Mini würde endlich den Mund aufmachen.

»Sweat wollte sie ... du weißt schon, er wollte ...«

»Der gute alte Sweat! Er wollte das tun, was er am liebsten macht, hä? Was ist mit dem kleinen Kind?«, fragte Reese kalt. Er dachte an die Bücher und Spielsachen.

»Hab keins gesehen.« Je weniger Reese wusste, desto besser.

»Okay, Mini. Alles klar. Wohin sind sie gegangen?«

Mini hob nicht einmal den Kopf. Er zeigte nur mit dem Finger in eine Richtung.

Reese traute sich zu, die Sache im Alleingang zu erledigen. Vermutlich sogar besser. Mini konnte sich nicht lautlos genug durch den Wald bewegen und in seiner derzeitigen Verfassung war er sowieso keine echte Hilfe.

»Ich verfolge sie. Sweats Leiche kannst du nicht alleine auf den Truck laden. Hol dein Quad und warte hier auf mich. Halt die Augen offen, okay?«, sagte Reese. Er beugte sich hinunter und versuchte in Minis Augen zu schauen.

»Hey, Mini. Sieh mich an«, sagte Reese.

Mini erwiderte unsicher seinen Blick.

»Wenn ich bei Tagesanbruch nicht zurück bin, haust du ab ... und wir treffen uns beim Wohncontainer. Kapiert?«, blaffte Reese.

Mini nickte. Reese warf sich das Gewehr über die Schulter und marschierte in die Richtung, in die Mini gezeigt hatte.