Neunundsechzig
Stumm saßen Jake und die Mädchen seit zwanzig Minuten in völliger Finsternis. Katy war müde, konnte aber nicht schlafen. Sie hatte den Kopf in den Schoß ihres Vaters gelegt und er rieb ihr sanft den Rücken. Elizabeth schluchzte hin und wieder auf und wischte sich die Nase am Hemdsärmel ab. Jake war erschöpft. Die Adrenalinflut in seinen Adern verebbte langsam und seine Muskeln begannen zu schmerzen. Alle paar Minuten richtete er sich ein wenig auf, ohne dabei Katys Lage zu verändern, und warf einen Blick durch die Schießscharten. Jedes Mal betete er stumm, dass er dort draußen niemanden sehen würde.
»Dad, wenn du dich irgendwo auf der Welt hinwünschen könntest – wohin würdest du gehen?«, flüsterte Katy.
»Du meinst außer nach Hause und das jetzt sofort? Ich hab keine Ahnung. Es gibt einiges, was ich immer schon mal tun wollte. Jagen in Afrika auf jeden Fall. In Kanada vielleicht auch. Und in dem Schloss in Banff übernachten. Es steht in der Nähe eines großen Sees namens Lake Louise. Ich glaube, Mom würde es dort auch gefallen. Und du?«
»Ich würde mich gerne mit Mary-Kate und Ashley treffen und reiten gehen. Die haben einen eigenen Stall.«
»Klingt gut.« Er streichelte ihr Haar.
»Und was ist mit dir, Elizabeth?«, flüsterte Katy.
Schweigen.
Schließlich sagte Elizabeth leise: »Das klingt jetzt vielleicht verrückt. Aber ich glaube ... ich will im Herbst an die Auburn-Uni, damit ich mit Tanner zusammen sein kann. Meinem Freund.«
»Und was soll daran verrückt sein?«, fragte Jake.
»Ja, was?«, sagte Katy.
»Na ja, mein Dad ist leidenschaftlicher Alabama-Fan und würde mich vermutlich enterben, wenn er wüsste, dass ich auch nur an die Auburn-Uni denke. Mom möchte, dass ich an der University of Virginia studiere. Dad hasst diese Uni, war aber schließlich doch einverstanden.«
Jake lachte leise. Er erinnerte sich noch gut an die schwierigen Entscheidungen, die Schulabgänger treffen mussten. Ist es wirklich schon zwanzig Jahre her, seit ich dieselben Sorgen hatte? Die jungen Leute stellen damit die Weichen für ihr ganzes Leben.
»Lassen Sie sich Zeit. Überlegen Sie sich alles genau. Erwachsen können Sie danach noch Ihr ganzes Leben lang sein.«
»Ich meine es ernst. Bis gestern Abend wusste ich ... wusste ich nicht wirklich, was ich wollte. Aber jetzt ist das anders. Tanner hat um mein Leben gekämpft. Ich habe genau gesehen, wie viel Angst er hatte ... Aber er hatte Angst um mich«, sagte Elizabeth. »Mir ist klar geworden, wie sehr ... wie sehr ich ihn liebe.« Sie fing wieder an zu schluchzen.
Der ernste Ton der Unterhaltung hing schwer in der Luft. Jake streichelte Katys Rücken. Er wollte Elizabeth gerade sagen, das Leben sei zu kurz und zu lang, um nicht das zu tun, was sie gerne tun wollte, da schrie Katy: »Iiiiiiieh! Auf mir krabbelt eine Spinne rum!« Sie fing an zu strampeln. »Mach sie weg!«
Jake drückte ihr die Hand auf den Mund, war aber den Bruchteil einer Sekunde zu langsam. Der Schrei durchschnitt die Dunkelheit. Spinnen versetzten Katy in Todesangst. Jake gab sich alle Mühe, sie zu beruhigen und sie dazu zu bringen, still zu sein. Schließlich knipste er die Taschenlampe an.
»Wo ist sie?«, flüsterte er nervös.
»Sie war auf meinem Bein. Ich habs genau gespürt!«
»Katy, sei still ... Wir müssen leise sein«, flüsterte Jake.
Er sah eine kleine braune Schabe, wischte sie schnell von Katys Bein und zertrat sie. Sofort knipste er die Taschenlampe wieder aus und wollte Katy gerade ermahnen, bloß nicht mehr zu schreien, als plötzlich Holzsplitter durch die Luft flogen. Fast gleichzeitig mit dem dröhnenden Knall eines großkalibrigen Gewehrs erschütterte ein lauter Schlag die Holzkabine.
»Runter! Ist jemand verletzt?«, schrie Jake. Er warf sich über Katy und tastete sie mit den Händen ab. Er spürte nichts, was auf eine Schusswunde hindeutete. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
»Nein!«, antwortete Elizabeth sofort. Sie war von winzigen Holzsplittern übersät.
»Katy, bist du verletzt?«
»Nein! Was war das? Ich habe Angst, Dad!«
Jake stieß die Tür auf. »Los! Wir müssen hier raus!« Er fasste Katy um die Taille und eilte mit ihr die Leiter hinunter. Als sie sich noch etwas mehr als anderthalb Meter über dem Boden befanden, ließ er sie an sich hinabrutschen und dann fallen. Katy stöhnte beim Aufkommen, rappelte sich aber sofort auf. Jake war bereits wieder auf dem Weg nach oben. Er packte das Gewehr und hängte es sich über die Schulter. Elizabeth wartete auf seine Hilfe.
»Los. Beugen Sie sich über meine Schulter. Ich trage Sie runter. Beeilen Sie sich!«, schrie er.
Eine weitere Kugel schlug direkt über ihren Köpfen ins Holz ein. BAMM! Der Donnerhall des Gewehrs kam fast im selben Moment. Jake zögerte einen Sekundenbruchteil lang.
»Dad, was ist los?«, brüllte Katy.
Der Klang ihrer Stimme riss ihn in die Realität zurück. Die Dunkelheit war Jakes einzige Verbündete. Er schätzte, dass die Schüsse aus etwa zweihundert Metern Entfernung abgegeben wurden. Von dort aus bei diesem Licht ein ganz bestimmtes Ziel zu treffen, würde sehr schwer sein. Wir müssen schnell in den Wald zurück!, dachte er.
Sobald er unten ankam, warf er sich Katy über die linke Schulter. Über der rechten hatte er Elizabeth. Um mit beiden Mädchen zu rennen, waren sie zu schwer. Jake fiel in einen ungelenken, langsamen Trab. Die Last war eigentlich zu groß und er hatte Todesangst. Alles andere als geräuschlos pflügte er durchs dichte Unterholz. Aber er hatte keine andere Wahl. »Shit!«, schrie er, während er sich schnaufend einen Weg bahnte. Ein paarmal versuchte er einen Blick über die Schulter zu werfen, doch es gelang ihm nicht. Er konnte weder etwas sehen noch etwas hören.
Langsam, aber sicher wurde ihm klar, dass er einen guten Plan brauchte. Sonst würden sie nicht überleben. Diese Typen waren nur ein paar Meter hinter ihnen und hatten ein großkalibriges Gewehr. Sie hatten seine Spur Schritt für Schritt verfolgt. Jake fiel nur ein einziger Ausweg ein, und der gefiel ihm nicht so richtig. Er betete, dass seine Taktik funktionieren würde.
Ein paar hundert Meter hinter Jake und den Mädchen mühte Reese sich, etwas zu sehen und zu hören. Das Mündungsfeuer und der Knall hatten ihn vorübergehend blind und taub gemacht. Als Reese die ersten Schreie gehört und dann das Licht im Hochstand gesehen hatte, hatte er die Nerven verloren und viel zu schnell geschossen. Er verfluchte sich selbst, weil er nicht geduldiger gewesen war. Eigentlich hätte er das Gewehr irgendwo abstützen müssen. Aus zweihundert Metern Entfernung konnte man freihändig keinen sicheren Schuss anbringen. Ich hätte mich an den Hochstand anschleichen und alle hinrichten können.
Er rieb sich die Augen, dann war er bereit. Diesmal würde er nichts übereilen. Er wusste, dass er im Vorteil war. Das Mädchen, das er schreien gehört hatte, würde von nun an nicht einfach still sein. Die Verfolgten rannten wie die Hasen. Sie würden Fehler machen. Der Gedanke daran, Johnny Lees Mörder und das Mädchen fangen zu können, lösten in Reese eine Art Lustgefühl aus. Ich tue das nicht mehr nur für dich, Johnny Lee, dachte Reese. Dabei schlich sich ein teuflisches Grinsen auf seine Züge.