Vier
Die berüchtigtsten Berufsverbrecher des Countys hatten sich allesamt vor Johnny Lee Grovers Wohntrailer versammelt. Johnny Lee war ihr selbst ernannter Anführer. Sein Lebenslauf umfasste mehrere Aufenthalte in Jugendstrafanstalten und eine achtzehnmonatige Haftstrafe im Draper-Gefängnis im Elmore County nördlich von Montgomery, Alabama. Die Zeit im Gefängnis hatte ihm ziemlich zugesetzt. Sein Zellengefährte mit dem Spitznamen Meat hatte bei ihm nicht nur emotionale Narben hinterlassen. Bis heute beugte Johnny Lee sich in der Dusche nicht mehr vornüber, sondern ging in die Knie. Keiner seiner Kumpel wusste von Meat, und noch nie war Johnny Lee länger als ein Jahr am Stück irgendeiner ehrlichen Arbeit nachgegangen. Er kleidete sich wie Kid Rock und versuchte sich auch so zu geben. Johnny Lee war klapperdürr und trug fast immer ein ärmelloses Feinrippunterhemd. Seine eigene Mutter fand, er sähe »wie ein Wurm« aus.
Johnny Lees Verbrechergang betrieb alle möglichen illegalen Aktivitäten. Sie konsumierten und verkauften Drogen und hatten versucht, ein Methamphetaminlabor einzurichten, kamen aber mit der Rezeptur nicht ganz zurecht. Und sie betrieben eine alte Destille, in der sie wirklich schlechten Maiswhiskey brannten. Sie selbst betrachteten sich als große Gangsterbarone. Alle anderen sahen in ihnen eher gescheiterte Existenzen und Gewohnheitsverbrecher. Sie klauten vorwiegend Autos, Quads, Waffen und alles, was sich schnell zu Geld machen ließ. Im Sommer wilderten sie im Black Warrior River und im Alabama River Alligatoren. Sie kannten jede Nebenstraße und jeden Schleichweg in den umliegenden Countys.
Der Sheriff wusste, dass Johnny Lees Truppe immer für Ärger gut war, und behielt sie sorgfältig im Auge. Trotzdem wurden sie nie mit heißer Ware erwischt, und niemand wagte es, gegen sie auszusagen. Die Gang beherrschte die hohe Kunst der Einschüchterung. Brennende Scheunen und tote Rinder sorgten dafür, dass alle schwiegen. Die örtlichen Polizeikräfte scherzten intern, die Gangmitglieder könnten niemals überführt werden, weil alle dieselbe DNA hätten.
Anfang April war es noch zu kalt, unten an der Sandbank am Noxubee River herumzuhängen und nackt zu baden. Wie jeder echte Redneck ließen Johnny Lees Leute gerne die Beine von den Ladepritschen ihrer Trucks baumeln, tranken Old Milwaukee und hörten Hank Williams Jr. und David Allen Coe.
Zu Johnny Lees Gesetzlosen gehörte der knapp hundertfünfzig Kilo schwere Tommy Tidwell. Er aß ohne Unterbrechung. Am liebsten frittierte Chickenwings und Kartoffelschnitze – die richtig fettigen, die man an Tankstellen kriegte. Jeder nannte ihn »Mini« und er war der geborene Befehlsempfänger. Johnny Lee hatte ihn vor Jahren im Dallas-County-Gefängnis kennengelernt und für sein Team rekrutiert.
Reese Turner war der stellvertretende Bandenchef. Er und Johnny Lee waren Cousins ersten Grades. Reese zog schon seit der Grundschule mit Johnny durch die Gegend und wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Ihre Mütter hatten beide wegen Diebstahl von Gehaltsschecks im Julia-Tutwiler-Gefängnis in Wetumpka, Alabama gesessen. Für die sonntäglichen Besuche dort hatten die Jungs eine Fahrgemeinschaft gebildet. Reese war schlauer als Johnny Lee, was aber nicht viel zu bedeuten hatte. Er beging seine Straftaten mit Vorsatz, während Johnny Lee eher zu Spontanaktionen neigte. Reeses eigentliches Talent lag darin, dass er zwei oder drei Züge vorausdenken konnte. Die Tage verbrachte er damit, sich im Satellitenfernsehen James-Bond-Filme anzusehen. Er sagte, sie brächten ihn auf Ideen.
»Sweat« Lawrence war der Mann fürs Grobe. Nach zehn Wochen bei den Marines hatte man ihn dabei erwischt, wie er die Tochter eines Colonels festgehalten und zum Sex gezwungen hatte. Das war sein Stil. Zu ihrem Glück waren zwei Militärpolizisten vorbeigekommen und hatten der Party ein Ende bereitet. Die Militärpolizei sprach von versuchter Vergewaltigung. Der Vorwurf ließ sich jedoch nicht aufrechterhalten, weil das Mädchen schon vorher mit etlichen Soldaten zusammen gewesen war. Der Colonel hatte als Zuhörer bei Sweats unnötig detailgenauer Vernehmung eine Herzattacke erlitten und die Truppe machte kurzen Prozess. Private Lawrence wurde unehrenhaft entlassen, bevor sich der allseits beliebte Colonel erholte und ihn umbringen konnte.
Kaum war er in der Gegend angekommen, schloss Sweat sich Johnny Lee an, und dabei war es geblieben. Er schwitzte heftig und ununterbrochen und trug deshalb stets ein Handtuch mit sich herum. Die Ärzte nannten das Hyperhidrose. Sweat redete selten, aber wenn einmal richtig hingelangt werden musste, war er der richtige Mann. Bislang hatte er die Gang noch nie enttäuscht.
Was der Bande an Grips fehlte, machten ihre Mitglieder durch schiere Gemeinheit wieder wett. Es gab nichts, woran sie sich nicht versuchten. Wie ein Rudel allesfressender Wölfe lagen sie stets auf der Lauer; sie quetschten aus einer Gelegenheit heraus, was sie nur herausbekommen konnten. Einen wildernden Konkurrenten hatten sie umgebracht, weil er sich an ihren Alligatorköderschnüren zu schaffen gemacht hatte, und die Leiche in einen alten Brunnenschacht geworfen. Dass der Mord unentdeckt geblieben war, verlieh Johnny Lee und seiner Gang ein Gefühl von Unbesiegbarkeit.
Eine feste Freundin hatte keiner von ihnen. Ein paar Frauen drückten sich um Johnny Lee herum, wenn sie Crack oder Kokain brauchten. Aber sobald sie hatten, was sie wollten, waren sie wieder weg. Mini war einmal etwa sechs Monate lang verheiratet gewesen. Seine Frau hatte ihn verlassen, während er als Lastwagenfahrer auf dem Weg nach New Orleans gewesen war. Sie hatte alles mitgenommen, sogar seinen preisgekrönten Coonhound. Mini war sicher, dass sie ihn bei eBay verscherbelt hatte. Sie verkaufte alles bei eBay.
Das große Ziel der Gang war es, so viel zusammenzuklauen, dass sie sich Custom-Bikes anschaffen konnten. Chopper, um genau zu sein. Montagabends ließen sie alles stehen und liegen und sahen sich auf dem Discovery Channel Orange County Choppers an. Sie mochten den mürrischen alten Spinner. Die Bande träumte von Motorrädern in Weiß und Purpur zu Ehren der University of Alabama. Doch Johnny Lee war zunehmend frustriert, weil die Leute von Orange County Choppers ihn einfach nie zurückriefen.
Am Freitagabend gegen zehn war die Truppe langsam unruhig geworden. Während der Woche war nicht viel gelaufen. Johnny Lees wichtigster Hehler in Meridian, Mississippi beklagte sich schon über seine mangelnde Produktivität. Deshalb dachte Johnny Lee daran, in ein paar Wochenendhäuser am Tombigbee River einzubrechen. Viel zu holen gab es dabei selten – dafür war die Gefahr, erwischt zu werden, gering. Bis der Alarm den Sheriff erreichte, und bis der dort draußen ankam, waren sie längst über alle Berge. Aber Johnny Lee brauchte einen wirklich lohnenden Coup, damit endlich alle zufrieden waren. Sein großes Ziel war die Hunderennbahn von Green County. Seit Jahren versuchte er herauszubekommen, wie er diese Anlage ausrauben konnte. Zwar wusste er, dass die Sicherheitsvorkehrungen dort sehr aufwändig und von seiner Gang kaum auszuhebeln waren. Aber die Gier hielt seinen Traum am Leben. Am besten gefiel Johnny Lee daran, dass er dabei Bares in die Finger bekäme und sein Hehler damit leer ausginge. Dann hätte er genug für einen Orange-County-Chopper und noch ein paar andere Sachen. Er musste bloß eingehend genug darüber nachdenken. Also trank er weiter Jack Daniel’s und Brunnenwasser. Seit sieben Uhr abends hatte er fast nichts anderes getan; nichts schien mehr unmöglich und er wurde von Stunde zu Stunde mutiger.
Reese schlug vor, sie könnten in das Cypress Inn am Black Warrior River in Tuscaloosa einbrechen. Im Augenblick war Ballsaison – Schulbälle und die Veranstaltungen der Studentinnenverbindungen fanden dort statt –, daher war am Wochenende immer ziemlich viel los. Reese wollte für die Flucht Boote benutzen und sich flussabwärts abholen lassen. Die Idee hatte ihren Reiz. Johnny Lee fand, sie klang nach einem James-Bond-Streifen. Aber was sollten sie mit dem Boot machen? Und außerdem waren zu viele Leute dort ... zu viele potenzielle Zeugen. Trotzdem gefiel ihm der Gedanke.
Johnny Lee schaltete den Fernseher aus und musterte seine Bande. Seine Gang.
»Also, was wollt ihr Jungs heute Nacht noch machen? Ist schon zehn durch«, sagte Reese.
»Weiß nicht ... hey, hat ’Bama heute Abend gewonnen?«, fragte Johnny Lee.
»Nein, wir haben neun zu sieben verloren«, antwortete Mini. »Aber morgen kriegen wir sie. Dann wirft nämlich unser Ass.«
»Verdammt. Ich hasse es, wenn wir gegen Auburn verlieren. Egal bei was.« Johnny Lee war nie auf der University of Alabama oder überhaupt auf irgendeinem College gewesen. Doch er betrachtete sich als Hardcore-Fan. Das Wohnzimmer seines Containers hing voller Drucke herausragender Alabama-Footballszenen, die er aus einem Anwaltsbüro in Demopolis geklaut hatte. Sie zu verkaufen brachte er nicht fertig.
»Sollen wir drüben am College in Livingston einem reichen Söhnchen die Karre stehlen?«, fragte Reese.
»Nö.« Johnny Lee legte seine Hank-Jr.-CD ein, dann fragte er Mini: »Hat der Typ dich für unsere Hausmarke bezahlt?«
»Ja. Aber er hatte einen Tausender zu wenig. Meinte, er gibt dir das Geld nächste Woche«, erklärte Mini. »Hat wohl irgendwas mit der Steuer zu tun.«
»Steuer?«, fragte Johnny Lee, als hätte er das Wort noch nie gehört.
»Das hat er gesagt.«
»Verdammt, ich wollte mir einen Flachbildfernseher kaufen. Erinnere mich daran, dass ich Zinsen von ihm verlange und ihm erzähle, wer mein Steuerberater ist. Der kommt nächsten Monat aus dem Knast.«
Alle lachten. Johnny Lee liebte es, im Mittelpunkt zu stehen.
»Lacht nicht. Der Mann ist gut«, sagte Johnny Lee zu allen und keinem.
»Um Steuern zu zahlen, bräuchtest du erst mal ein Einkommen, Johnny Lee«, stichelte Reese.
»Sag ich doch. Onkel Sam glaubt, ich hätte seit Jahren keinen Penny verdient. Aber ich weiß, wie man seine Asche versteckt«, sagte Johnny Lee stolz. Er machte gern einen auf dicke Hose.
»Hey ... ich habs! Wir brechen in das Camp an der County Road 16 ein. Das mit dem Billardtisch und der guten Bar. Wir können trinken, Billard spielen und nachschauen, was es sonst noch zu holen gibt«, sagte Reese aufgeregt.
»Ja. Die gehen nicht auf Truthahnjagd, also wird keiner der Typen im Camp sein. Unser letzter Einbruch dort ist mindestens zwei Jahre her«, fügte Mini hinzu.
»Keine schlechte Idee ... Ich wette, die haben scheißteuren Maker’s-Mark-Whiskey. Also los. Aber wir fahren in zwei Trucks.« Johnny Lee stand auf und streckte sich.
Seinen PS-starken Ford-Pick-up »Harley Davidson Edition« liebte Johnny Lee fast so sehr wie seinen Wohntrailer. Der tiefschwarze Wagen hatte getönte Scheiben und ein Flammenmuster an den Seiten. Er war eine Rakete. Johnny Lee hatte ihn günstig bekommen, als ein Dealerkumpel aufgeflogen war. Sweat nahm er wegen dessen unsäglichem Körpergeruch nicht darin mit.
Er musste mit Mini in dessen allradgetriebenem 1987er-Chevrolet fahren. Das Auto miefte nach Hähnchenknochen und alten Socken. Für einen repräsentativeren fahrbaren Untersatz fehlte Mini das Geld. Aber ein ordentlicher Wagen gehörte zu seinem Plan für einen Neuanfang, der aus jeder Menge Wunschdenken, aber keinerlei Initiative bestand.
Seit dem Nachmittag hatten Sweat und Mini eine Kiste Old-Milwaukee-Bier geleert. Die Flaschen nannten sie Walkie-Talkies. Während der Plan besprochen wurde, war Sweat draußen und pinkelte von der Veranda. Als er sah, dass die anderen Pistolen und Messer in ihre Taschen steckten, tat er einfach dasselbe, ohne zu wissen, was vor sich ging. Er fragte nicht einmal nach.
»Klauen wir doch ihren Billardtisch!« Reese war begeistert, dass die anderen seine Idee ernst genommen hatten.
»Wenn du das Ding dort rausbekommst, kann ich es auch verhökern.« Johnny Lee zog sich die Straußenlederstiefel an und steckte eine 44er-Magnum Ruger Blackhawk in den rechten.
»Aufsitzen, Jungs ... die Redneck-Truppe reitet wieder«, sagte Johnny Lee Grover stolz. Dabei wischte er sich die Chipskrümel aus seinem armseligen Oberlippenbart.