Zweiundzwanzig
R.C. fuhr vom Camp aus nach Westen und bog auf die erste Schotterpiste ab. Seine letzten nächtlichen Fahrten in dieser Gegend lagen zwar schon ein paar Jahre zurück, aber er kannte sich immer noch ganz gut aus. Hier konnte man prima jagen, auch wenn es für seinen Geschmack zu viele Tannen gab.
Der Radiosender, den er eingestellt hatte, wurde langsam schwächer. Deshalb schaltete er den Kassettenrekorder ein. Barry Manilow sang mit lauter Stimme »I Write the Songs« und erfreute damit R.C.s Herz. Barry Manilow war R.C.s heimliche Liebe. Einmal hatte ein anderer Deputy im Wagen die Kassetten entdeckt und R.C. hatte sich schnell etwas einfallen lassen müssen. Er hatte behauptet, es handle sich um Beweismaterial. Der Deputy hatte den Kopf geschüttelt. »Komische Leute hier in der Gegend.« R.C. hatte widerstrebend zustimmen müssen.
Heute Nacht fuhr R.C. ganz entspannt auf Kosten des Steuerzahlers durch die Gegend. Hin und wieder spuckte er in die grüne Flasche und gab sich dann sehr amtlich, indem er gelegentlich abbremste und den Suchscheinwerfer auf die dunklen Fahrspuren und Pfade richtete, die sich zwischen den Bäumen hindurchwanden. Eigentlich suchte er gar nicht wirklich nach etwas. Und dass er Martha nicht über Funk mitteilte, was er machte, und dass er noch nicht auf dem Heimweg war, verstieß eindeutig gegen die Dienstvorschrift. Allerdings hatte die R.C. noch nie interessiert.
Eine der Abzweigungen, an denen er vorbeikam, war die ehemalige Bahntrasse. Er fuhr zwar langsamer, bog aber nicht ab. Ich sehe sie mir auf dem Rückweg genauer an.
Bis zum Mai dauerte es nicht mehr lange und R.C. träumte mit offenen Augen von seinem geplanten Rotbarsch-Angeltrip an den Golf. Dafür hatte er sich eine Woche Urlaub aufgehoben. Vielleicht frage ich sogar Chastity, ob sie diesmal mitkommen möchte. Ein bisschen Sonne und frische Meeresfrüchte würden ihr guttun. Und sie muss endlich mal weg von ihrem nutzlosen Scheißkerl, diesem Crack-Wrack-Ehemann. R.C. hatte noch einiges vorzubereiten. Jemand hatte die gesamte Ausrüstung aus dem Angelcamp seiner Familie unten am Fluss geklaut. Sogar den Köderfischeimer für drei Dollar siebenunddreißig hatten sie mitgehen lassen. Das ganze County hatte er nach seinen Sachen durchkämmt, aber bislang war nichts davon wieder aufgetaucht. Ein paar Schwarze, die immer in der Nähe des Camps angelten, hatten ihm schließlich sogar einen neuen Eimer besorgt, damit er sich nicht immer ihren auslieh. Dass ihre alte Rostlaube nicht einmal ein Kennzeichen hatte, war ihm nie aufgefallen.
R.C. fuhr nach Westen, bis er die Staatsgrenze von Mississippi erreichte. Die Landstraße endete dort zwar nicht – aber Grenze war Grenze. R.C. wendete und fuhr zurück. Barry schmetterte gerade »Mandy«, und R.C. sang aus voller Kehle mit, als er die Dummy Line wieder erreichte. Auf jeder Anhöhe dieser alten Trasse standen geschlossene Hochstände. Während der Hirschsaison wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, dort bei Tageslicht entlangzufahren. In jedem einzelnen Unterstand wartete dann ein Jäger mit einem großkalibrigen Gewehr. Singend bog R.C. auf die Dummy Line ab. »O Mandy ...« Hin und wieder schaltete er das Blaulicht ein. Er mochte die Lichtreflexe in den Bäumen.
Plötzlich rauschte das Funkgerät. Es erschreckte ihn so sehr, dass er die Spuckflasche umstieß. Er schaltete Barry aus, nahm das Mikrofon und hielt an.
»Basis an Einheit drei. R.C., bitte kommen!«, sagte Martha mit ihrer heiseren, alten Stimme.
»Einheit drei hört«, antwortete R.C.
»Wo bist du, R.C.?« Sie sparte sich weitere Förmlichkeiten.
»Auf dem Weg zurück nach Hause. Hab mich bloß noch ein bisschen umgesehen.« Er hoffte, dass sie damit zufrieden war.
»Bestimmt?«
»Wo sollte ich denn sonst sein?«
»Bei dir weiß man nie. Fahr jetzt heim. Das County kann es sich nicht leisten, dir Überstunden zu bezahlen.«
»Ja, Ma’am.«
»Und hör auf, im Streifenwagen Kautabak zu kauen. Die anderen Jungs beklagen sich schon wegen der Sauerei.«
Dazu wollte R.C. nichts sagen. Er hängte das Mikrofon wieder ein und suchte nach einer Stelle, wo er wenden konnte. Die alte Fregatte spielt sich auf, als wäre sie der Boss. Raucht selbst wie ein Schlot und will mir den Kautabak verbieten!
R.C. hatte zwei unumstößliche Gewohnheiten: Wenn er nicht gerade schlief, kaute er Tabak; und in der Hoffnung, nicht noch mehr Haare zu verlieren, schmierte er sich ständig mit Rogaine ein. Er war überzeugt, dass ihm alle restlichen Haare ausfallen würden, sobald er damit aufhörte. Deshalb sahen die Sitze und Getränkehalter im Streifenwagen übel aus und die Kopfstütze war fettig und fleckig.
Weil er keine gute Stelle zum Wenden fand, fuhr er weiter und suchte. Nach einer Meile schaltete er Barry wieder ein, aber Martha hatte den Zauber gebrochen. Unwirsch drückte R.C. auf die Austaste. Frauen – ja selbst alte Frauen –, sie machen mich wahnsinnig.
Gerade als er einen Platz zum Wenden fand, blitzten knapp innerhalb der Reichweite seiner Scheinwerfer Reflektoren auf. Orangefarbene Schlussleuchten. Seine Neugier war geweckt. Langsam fuhr er weiter. Als er näher kam, glaubte er erst, er habe ein gigantisches Fahrzeug vor sich. Dann sah er, dass es sich um zwei dicht beieinander geparkte Wagen handelte. Entweder Waschbärenjäger oder ein Liebespaar. Aber so, wie die Autos dastanden, konnten es auch Jugendliche sein, die Schnaps oder Drogen hin und her gehen ließen. In etwa hundert Metern Entfernung hielt er an und überlegte, was er tun sollte. Er beschloss, keinen Funkspruch abzusetzen, damit er sich nicht Mrs Martha O’Briens Zorn zuzog, weil er immer noch patrouillierte.
Langsam ließ er den Wagen weiterrollen und hielt nach Bewegungen Ausschau. Dass er keinerlei Aktivitäten beobachten konnte, machte ihn nervös. Die Sache kam ihm seltsam vor. Wo können die sein? Ich muss raus und mich umsehen. Beim Aussteigen öffnete er das Halfter und legte die rechte Hand an den Pistolenknauf. Als Erstes richtete er den Strahl der Taschenlampe durch das offene Seitenfenster des Trucks. Der Geruch in dem Wagen ließ ihn grunzen. Aber er entdeckte nichts Ungewöhnliches. Hinten im Truck lag ein ganzer Berg Müll. An der offenen Ladeklappe lehnte eine Aluminiumrampe für Quads. R.C. versuchte sich zwischen dem Truck und dem Jeep hindurchzuquetschen. Den Jeep kannte er. Er gehörte Tanner Tillman. Vielleicht waren die Jungs auf der Jagd. R.C. blieb still stehen und lauschte, ob er Hunde hören konnte. Aber er hörte rein gar nichts.
Mann, Tanners Jeep ist klasse. So einen habe ich mir immer gewünscht. Die Felgen sehen gut aus und das ganze Ding ist prima wiederhergerichtet. R.C.s Anspannung ließ nach. Der Gedanke daran, einen Jeep zu kaufen, beschäftigte ihn mehr als das, was hier vorgegangen sein könnte. Er öffnete die Beifahrertür und leuchtete in den Wagen. Diese klapprigen Türen gefallen mir gar nicht. Aber die Lackierung ist erste Sahne.
Als eine blutige Hand seinen Knöchel packte und sich daran festkrallte, kreischte R.C. wie ein kleines Mädchen. Er ließ die Taschenlampe fallen und wollte die Pistole ziehen. Dabei löste sich ein Schuss. Das Projektil ging haarscharf an seinem Fuß vorbei. R.C. geriet nun völlig außer sich.
»Verdammte Scheiße!«, schrie er, so laut er konnte. Er versuchte wegzulaufen, aber es gelang ihm nicht. Eine zweite Hand packte sein anderes Bein, was dazu führte, dass er der Länge nach auf das Etwas fiel, das ihn umklammerte. Verzweifelt wollte er sich aufsetzen. Er trat um sich und riss die Beine weg. Das Wesen war kein Monster. Es war eine schwer verletzte Person. R.C. wackelte mit den Zehen, um sich zu versichern, dass er sich nicht angeschossen hatte. Er roch das Pulver und seine Ohren klingelten.
»Tanner? Tanner, bist du das?«, fragte R.C. Er atmete schwer und wollte seinen Augen nicht trauen. »Tanner, was zum Teufel ist denn passiert?« Er beugte sich näher zu dem blutigen Gesicht.
Tanner lag einfach nur da und rang nach Luft. R.C. konnte nicht feststellen, was genau ihm fehlte.
»Halte durch, Tanner. Ich bringe dich hier weg!« Er sah sich den Jungen eingehend an und versuchte zu erkennen, welche Verletzungen er hatte. R.C.s Instinkt war schließlich stärker als das, was er in der Ausbildung gelernt hatte. Er packte Tanner unter den Achseln, wuchtete ihn in den Streifenwagen und fuhr los. Ich muss so schnell wie möglich hier weg. Tanner muss ins Kranken baus.
»Einheit drei an Basis!«, schrie er ins Mikrofon.
»Kommen, drei.«
»Miz Martha, ich habe eine achtzehnjährige, männliche weiße Person gefunden. Sie ist blutüberströmt und nur teilweise bei Bewusstsein. Ich habe sie im Wagen und bin am Westende der alten Dummy Line in der Nordecke des Countys. In etwa acht oder zehn Minuten erreiche ich die County Road 17 und fahre dann nach Süden. Rufen Sie einen Rettungswagen und schicken Sie ihn mir in nördlicher Richtung entgegen. Sofort!«
»R.C., was ist passiert? Bist du in Ordnung?«
»Mir fehlt nichts. Und was passiert ist, weiß ich nicht. Ich bin bloß zufällig hier vorbeigekommen und habe ihn gefunden. Er kann nicht sprechen!«, schrie R.C.
Martha alarmierte sofort den Rettungsdienst und setzte sich dann wieder mit R.C. in Verbindung. Sie hörte die Anspannung in seiner Stimme. R.C. war ziemlich durcheinander.
»R.C., ich verständige den Sheriff und schicke dir Hilfe. Wo in aller Welt bist du?«
»Moment.«
»R.C. ... R.C., bitte kommen.«
»Er versucht etwas zu sagen, Miz Martha. Moment.«
R.C. fuhr langsamer und drehte sich zum Rücksitz um, konnte aber nicht verstehen, was Tanner ihm sagen wollte. Je länger er sich den Jungen ansah, desto klarer wurde ihm, wie schwer er verletzt war.
»Wer ist es denn, R.C.?«
Er schluckte, hielt kurz inne und sagte dann: »Miz Martha, es ist Tanner Tillman.«
Er wusste, dass sie das schwer treffen würde. Martha O’Brien war ganz versessen auf Highschool-Football. Ihr Mann war zwanzig Jahre lang Trainer gewesen und sie ging noch immer zu jedem Heimspiel. Über Tanner sprach sie, als wäre er ihr Enkel. Sie liebte seine Angriffstaktik.
»Sie verständigen am besten seine Familie«, sagte R.C. mitfühlend.
Martha starrte das Mikrofon auf ihren Schreibtisch an. »R.C.«. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Der Rettungswagen ist unterwegs. Pass ... pass gut auf ihn auf. Hörst du?«
»Ja, Ma’am. Sagen Sie denen, sie sollen sich beeilen.«