Fünfunddreißig

Jake sprintete durch den Wald. Das panisch flüchtende Mädchen einzuholen war nicht leicht. Er versuchte so leise wie möglich zu sein. Rufen wollte er nicht, allerdings wusste er, dass sie völlig hysterisch reagieren würde, sobald er sie berührte. Sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und bevor Jake sie erreichte, fiel sie zweimal hin. Als sie gerade dabei war, sich wieder aufzurappeln, packte Jake sie am Arm. Elizabeth schrie, schlug nach ihm und wollte sich losreißen.

»Beruhigen Sie sich. Beruhigen Sie sich, bitte! Ich tu Ihnen nichts. Ich will Ihnen helfen«, flüsterte er eindringlich. »Ich habe Sie schreien gehört und bin hergekommen, um Ihnen zu helfen.« Jake schaute ihr direkt in die Augen und drückte ihr die Hand auf den Mund. Er sah nichts als nackte Angst.

»Nicht schreien. Nicht schreien. Ich helfe Ihnen. Ich lasse Sie jetzt los. Okay? Nicht schreien.«

Elizabeth nickte. Sofort versuchte sie ihre Brüste mit den Armen zu bedecken. Sie fing an zu schluchzen.

Jake legte das Gewehr beiseite und zog erst die Jagdweste aus, dann das Hemd. Er gab es ihr. Schnell drehte sie sich weg und zog es über. Jake schlüpfte wieder in die Weste. Ihre Hände zitterten so sehr, dass es ihr nicht gelang, das Hemd zuzuknöpfen.

»Moment, ich helfe Ihnen.« Vorsichtig schob er ihre Hände weg, damit er die Knöpfe schließen konnte. Danach schlang sie sofort die Arme um sich. Sie zitterte am ganzen Leib.

»Ich bin Jake Crosby und wollte hier Truthähne jagen. Diese Kerle haben mein Camp überfallen. Meine Tochter ist hier in der Nähe versteckt. Wir müssen sie holen und dann schnell weg von hier. Okay? Sie sind jetzt in Sicherheit. Ihnen wird nichts passieren, das verspreche ich Ihnen. Folgen Sie mir, so leise es geht.« Jake versuchte ihren Gesichtsausdruck zu lesen. »Haben Sie mich verstanden? Gut. Kommen Sie.«

Er nahm sein Gewehr und machte sich auf den Weg zurück zu Katy. Das Mädchen humpelte fast geräuschlos hinter ihm her. Als sie sich dem Hochstand näherten, sah Jake den schwachen Lichtschein, der sich darin bewegte. Er atmete auf.

»Katy ... Katy, ich bin’s«, sagte Jake leise. Katys kleines Gesicht erschien an der Fensterluke. Um ihre Augen spielte ein erleichtertes Lächeln. »Mach die Tür auf, Katy!«

»Dad, ich habe einen Schuss gehört!«

»Ich weiß. Aber es ist alles in Ordnung«, beruhigte Jake sie.

Katy öffnete die Tür und warf sich in seine Arme. Elizabeth bemerkte sie zunächst gar nicht.

»Das ist meine Tochter Katy. Sie ist neun und tut wie fünfzehn«, sagte Jake. Er wollte die Atmosphäre ein wenig auflockern. Elizabeth zitterte und weinte immer noch. »Sag ‹Hallo›, Katy!«

»Hey. Alles klar bei dir?« Katys Flüstern war kaum hörbar. Sie sah Elizabeth besorgt an und schien sofort Mitleid mit ihr zu haben. Katy begluckte instinktiv jede Person und jede Kreatur, die sich in Not befand, und »große Mädchen« fand sie cool. Jake vermutete, dass Elizabeth nicht vergewaltigt worden war, wusste aber, dass sie üble Schläge abbekommen hatte. Sie war voller Blut, und Jake hatte gesehen, woher ein Großteil davon stammte.

»Ich bin Elizabeth Beasley ... Danke, dass Sie ...« Mehr konnte sie nicht sagen.

»Die Kerle, die hinter Ihnen her waren, haben versucht uns umzubringen. Das ist alles total verrückt. Ich bringe uns hier weg, das verspreche ich Ihnen. Wir sollten für etwas mehr Abstand zwischen uns und denen sorgen. Sie humpeln. Sind Sie in Ordnung? Tut Ihnen sonst noch etwas weh? Wischen Sie sich mit dem Ärmel das Gesicht ab ... Der ist sauber.«

»Ich habe mir den Knöchel verstaucht«, flüsterte Elizabeth. »Aber ich komme schon klar.«

»Okay ... wir gehen ganz langsam. Los, Katy. Auf meinen Rücken!«, befahl er.

Jake wollte zu gerne wissen, was Elizabeth hier herausgeführt hatte. Aber Fragen konnte er ihr später stellen. Er schleppte Katy, und Elizabeth hielt sich dicht hinter ihnen. Sie schlugen wieder den Weg zu dem Wildacker ein, der Jakes Ziel gewesen war, bevor er Elizabeth zu Hilfe geeilt war. Hin und wieder hörte er sie vor Schmerzen stöhnen, und er spürte, wie Katy sie beobachtete. Nach etwa vierhundert Metern brauchte er eine Pause. Katy durch den Wald zu tragen brachte ihn an den Rand seiner Kräfte. Er setzte sie auf einen Baumstumpf und ließ sich neben sie fallen. Elizabeth setzte sich vorsichtig auf einen umgestürzten Stamm ihnen gegenüber. Katy lächelte sie an.

Nach einer Minute war Jake wieder etwas bei Atem. »Was in aller Welt tun Sie dann hier draußen, Elizabeth?«

»Ich hatte ein Date mit Tanner, meinem Freund. Und die haben die Straße blockiert und sind auf ihn losgegangen. Ich bin weggerannt.« Sie rang die Hände.

»Und wo ist das alles passiert?«

»Tanner hatte gerade ein großes gelbes Tor aufgeschlossen. Da wollten sie mich packen. Ich bin einfach losgerannt und habe ihn allein zurückgelassen. Ich habe solche Angst um ihn.«

»Wow! Sie haben vier oder fünf Meilen zurückgelegt. Aber das haben Sie genau richtig gemacht«, sagte Jake.

»Die haben mich die ganze Zeit verfolgt«, sagte Elizabeth.

»Das sind ganz üble Typen. Was Ihnen passiert ist, tut mir leid. Vermutlich habe ich die ganze Sache ins Rollen gebracht, als die in unserem Camp aufgetaucht sind. Ich musste einen von ihnen erschießen. Hässliche Sache.«

»Den Kerl, der sich auf mich gestürzt hat, haben Sie auch erledigt!«, platzte Elizabeth heraus. Katys Augen weiteten sich vor Schreck.

»Nein. Ich hätte es getan ... Aber plötzlich war da dieser unglaublich dicke Kerl und hat ihn eine Sekunde, bevor ich abdrücken wollte, erschossen. Das war mehr als seltsam.«

Elizabeth glaubte sich zusammenreimen zu können, was passiert sein musste. Aber warum? Es ging einfach nicht in ihren Kopf. Ihr kamen wieder die Tränen.

Jake fischte eine Tarnmaske aus Baumwolle aus seiner Jagdweste. »Hier. Wischen Sie sich damit das Gesicht ab.«

Katy gab sich die größte Mühe, die Geschehnisse zu begreifen. Jake stand auf und streckte sich. Sein Rücken schmerzte. Er stellte sich auf einen Baumstumpf und lauschte, ob es irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche gab. Dann drückte er den Knopf an seiner Uhr. In ihrem schwachen Schein erschienen die Ziffern 3:02. Ein Blick auf sein Telefon zeigte ihm, dass er noch immer in einem Funkloch sein musste.

»Okay, Mädels. Weiter«, flüsterte er.

»Gern ... Wenn ich nur hier wegkomme, tue ich alles«, sagte Elizabeth und stand auf. Als der Schmerz durch ihr Bein schoss, verzog sie das Gesicht.

»Was ist mit meinem Freund, Mr Crosby?«, flüsterte sie nach einer Weile.

Jake blieb stehen und drehte sich um. »Ich weiß es nicht, Elizabeth. Erst bringe ich euch Mädchen an einen sicheren Ort, dann lasse ich mir etwas einfallen.«