Siebenundzwanzig
Der Hochstand war schmutzig, voller Blätter und Spinnweben. In einer Ecke befand sich irgendein Nest. In der Hoffnung, etwas Nützliches zu finden, tastete Elizabeth umher. Doch sie fand nur eine alte Jagdzeitschrift, zwei leere Dosen Mountain Dew, eine Patronenhülse und eine ungeöffnete Dose, die nach Bohneneintopf mit Schweinefleisch aussah. In einer Ecke stand ein Bürosessel. Sie probierte ihn aus. Doch es war bequemer, auf dem Fußboden zu sitzen und den Fuß hochzulegen.
Vorsichtig und leise spähte sie wieder durch die schmale Schießscharte. Nichts. Allerdings hörte sie in nicht allzu weiter Ferne ein Quad. Elizabeth setzte sich wieder hin und dachte an Tanner. Er hat für mich gekämpft und ich bin weggelaufen. Aber ich hatte keine andere Wahl, sagte sie sie sich. Der Gedanke brachte sie fast um. Sie betete, dass es ihm gut ging. Sie wollte nach Hause.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie richtete sich auf die Knie auf und spähte noch einmal die Straße entlang. Die Luft war rein. Elizabeth zog die Fleecejacke aus und dann ihr Shirt. Einen der langen Ärmel verknotete sie ganz unten am Handgelenk. Dann ließ sie die Bohnendose hineingleiten, drehte das Shirt um ihr Handgelenk, bis es fest saß, und schlüpfte wieder in die Fleecejacke. Den Reißverschluss zog sie bis oben hin zu. Ich werde mich wehren bis aufs Blut. Genau wie Tanner, dachte sie, strich sich das Haar hinter die Ohren und atmete tief durch. Dann setzte sie sich hin und wartete.
Nach ein paar Minuten hörte sie unten auf der Straße Schritte. Auf Knien spähte sie aus der Schießscharte, konnte aber noch niemanden sehen. Mit rasendem Herzen umklammerte sie ihre Waffe. Dann sah sie die Umrisse einer näher kommenden Person. Sie war noch etwa hundert Meter entfernt. Alle paar Schritte leuchtete der Mann den Boden mit einer kleinen Taschenlampe ab. Elizabeth schaute ihm zu, bis er fast bei ihr war. Erst dann wurde ihr bewusst, dass er ihren Spuren folgte. Am liebsten hätte sie geschrien. Wie konnte ich so blöd sein? Sie saß in der Falle.
Sie sah ihn am Hochstand vorbeigehen, ohne auch nur einen Blick zu ihr hinaufzuwerfen. Dann blieb er plötzlich stehen, ließ den Strahl der Taschenlampe über den Boden wandern, drehte sich um und ging ein paar Schritte zurück. Nur ein einziges Mal richtete er den Lichtstrahl kurz auf den Hochstand. Elizabeth duckte sich erschrocken weg und streifte dabei eine der leeren Dosen.
In dem Augenblick der Stille nach dem Scheppern der Dose hörte sie das Quad näher kommen. Wer ist das? Hilft mir vielleicht jemand?
»Hey Kleine ... Jetzt kommt dich mal ein richtiger Mann besuchen und kein Schuljunge!« Sweat leckte sich die Lippen.
Elizabeth drückte sich in eine Ecke des Hochstands und betete.
»Danach wirst du nicht mehr dieselbe sein. Wenn du erst mal auf den Geschmack gekommen bist, wirfst du mit Steinen nach den College-Jungs!« Er lachte meckernd und kam auf den Hochstand zu. Elizabeths Atem ging hektisch und schnell. Das sadistische Lachen und die widerlichen Bemerkungen versetzen sie in Panik.
Plötzlich spürte sie, wie die ganze Holzkonstruktion bebte. Wer den Hochstand schüttelte, konnte sie nicht erkennen. Aber sie sah den Fetten mit der Pistole auf dem Quad heranbrausen. Elizabeth stieß einen markerschütternden Schrei aus. Der Hochstand schwankte immer stärker, während der Fiesling die Leiter erklomm. Dann bebte die Tür, sprang jedoch nicht sofort auf.
»Sweat ... ist das Mädchen da oben?«, schrie der dicke Typ und bremste ab.
»Ja, Mann. Ich muss sie für dich runterholen. Die Leiter hält deinen Riesenarsch nicht aus!« Sweat lachte.
Elizabeth rollte sich zu einem Ball zusammen und betete, dass der Riegel halten würde.
»Lass sie in Ruhe, Mann. Ich will nicht, dass du ihr was tust!«, schrie Mini zu Sweat hinauf.
»Halt verdammt noch mal die Klappe!« Sweat schob die Hand zwischen die Tür und den Rahmen.
»Ich meine es ernst, Mann. Ich lasse nicht zu, dass du ihr was tust.« Mini stieg von seinem Quad.
»Und mit welcher Armee willst du mich aufhalten?« Sweat zerbrach die Sperrholztür mit den Händen, ließ die Stücke zu Boden fallen, steckte wie Jack Nicholson in The Shining grinsend den Kopf durch die Tür und sagte: »Hieeeeer ist Johnny!«
PENG! Der Aufprall der Dose auf Sweats Nase war noch in hundert Metern Entfernung zu hören.
Benommen taumelte Sweat zurück und fiel von der Leiter. Beim Aufprall auf den Boden biss er sich die Zungenspitze ab.
So schnell wie nur möglich hastete Elizabeth den verbliebenen Teil der Leiter hinab, so weit es ging. Dann sprang sie. Sie landete auf ihrem unverletzten Fuß und rollte sich dann ab, wie sie es im Cheerleaderinnen-Camp gelernt hatte.
Sweat packte sie, als sie aufstand. Mit einer brutalen Ohrfeige schmetterte er sie zu Boden. Dann trat er ihr in die Rippen. Der salzige Geschmack seines Blutes machte ihn rasend.
Mini sprang auf Sweats Rücken. Sweat strauchelte zwar, hielt Elizabeth aber weiterhin fest an der Jacke gepackt. Er war benommen, verwirrt und voller Blut.
»Lass sie los!«, schrie Mini. Er versuchte Sweat festzuhalten.
»Runter von mir, du Fettsack! Dich erledige ich auch noch, du Arsch!«, schrie Sweat. Er versuchte sich aufzurichten.
Elizabeth wollte sich schreiend losmachen. Mini nahm Sweat mit seinem Gewicht und dem Arm, den er ihm um den Hals geworfen hatte, die Luft. Dennoch hielt Sweat beide fest. Schließlich stürzten sie gemeinsam zu Boden.
Mini landete mit seinem vollen Gewicht auf Sweat. Elizabeth schrie vor Entsetzen. Ein paar Sekunden lang lagen sie auf der alten Bahntrasse. Obwohl etwas sie niederdrückte, versuchte Elizabeth sich aufzurappeln. Als Sweat sich auf die Knie aufrichtete, schnellte sie hoch. Er hielt sie noch immer am Saum ihrer Fleecejacke fest, aber nicht mehr am rechten Arm.
RUMMS! Noch einmal schlug sie ihm gegen die Seite des Kopfes, dabei brach sie ihm einen Wangenknochen und betäubte ihn für einen kurzen Moment. Als sie sich aus seinem Griff wand, zerriss ihre Jacke und glitt von ihr ab. Sie rannte davon, so gut es mit dem pochenden Knöchel ging. Bald wurden ihre Schritte zu einem einbeinigen Hüpfen, aber immerhin bewegte sie sich von den Männern weg. Und ihre Waffe hatte sie auch noch. Ohne einen Blick zurück flüchtete Elizabeth die Dummy Line entlang.
Sweat sah ihr nach, während er mit Mini rang. Weil er nun beide Hände frei hatte, konnte er Mini leicht auf den Rücken werfen, und er versetzte ihm mit voller Kraft ein paar Fausthiebe. Mini krümmte sich lediglich zusammen wie ein gigantischer Embryo und ließ die Schläge über sich ergehen.
Schließlich rappelte Sweat sich auf. Er war völlig durchnässt. Im Scheinwerferlicht des Quads konnte er erkennen, dass alles Nasse Blut war. Seine Hände schmerzten, ein Teil seiner Zunge fehlte und seine Wange brannte wie Feuer. Jeder Pulsschlag ließ Schmerzblitze durch sein Gesicht schießen. Er sah seine Hände an, dann schaute er dem Mädchen hinterher und schließlich fiel sein Blick auf Mini. Sweat versetzte ihm einen weiteren brutalen Fußtritt.
»Du blödes Arschloch!«, fauchte er, spuckte einen Klumpen Blut auf Mini, wischte sich mit dem Hemdsärmel übers Gesicht und stolperte dem Mädchen nach.