Sechzig
Die Stationsschwester der Notaufnahme sah Tanners rechtes Auge zucken. Dann versuchte er sich heftig blinzelnd an das helle Licht zu gewöhnen. Sein linkes Auge war komplett zugeschwollen. Beruhigend sprach die Schwester auf ihn ein. Sobald er weniger aufgeregt schien, verließ sie das Zimmer und piepste Dr. Sarhan an. Als sie kurz darauf erneut nach Tanner sah, hatte er das Auge wieder geschlossen.
Die Schwester ging ins Wartezimmer, sagte Mrs Tillman, dass Tanner langsam zu sich komme und dass sie bald zu ihm könne. Neben Tanners Mutter saß Olivia Beasley und rang die Hände. Die beiden Mütter umarmten einander. Als Nächstes rief die Schwester Martha O’Brien in der Sheriff-Dienststelle an und informierte sie über die neuesten Entwicklungen.
Dr. Sarhan kam mit entschlossenen Schritten in Tanners Zimmer und überprüfte die Pupille seines rechten Auges. »Ich bin Dr. Sarhan. Tanner? Sie wissen, wo Sie sind? Was ist passiert?«
Tanners Auge kippte langsam nach hinten, dann schloss er es wieder. Dr. Sarhan wusste, dass Morphium den Geist des Jungen umnebelte. »Sie hatten schlimmen Unfall. Sie haben ernste Verletzungen ... Aber wird alles gut. Sie haben viel Glück.«
Tanner wollte sich aufsetzen und etwas sagen, aber es gelang ihm nicht. Dr. Sarhan legte ihm die Hände auf die Schultern und zwang ihn mit sanftem Druck, still zu liegen. Tanner stöhnte. Der Arzt warf einen Blick auf die Morphium-Infusion und notierte etwas auf Tanners Karteikarte. Sobald er Tanner jedoch losließ, versuchte der Junge wieder sich aufzusetzen. Er tastete nach dem Schlauch, der aus seinem Mund ragte. Der Doktor griff nach seiner Hand. »Aufhören damit, Tanner. Still liegen ... ruhig bleiben.«
Dr. Sarhan sah deutlich das Entsetzen in Tanners Auge. »Alles ist gut. Ich verspreche. Sie sind sicher ... Nichts mehr passiert jetzt«, erklärte der Arzt in seinem melodiösen indischen Akzent.
Tanner wollte sprechen, aber der Schlauch in seiner Kehle ließ das nicht zu. Mit seinem unverletzten Auge versuchte er dem Arzt zu signalisieren, dass er etwas Dringendes zu sagen hatte. Der Doktor deutete den Blick als Schmerz und wies die Schwester an, den Durchlauf der Morphin-Infusion zu erhöhen. »Sofort!«, rief er.
Rasch trat die Schwester ans Bett und sah sich Tanner an. Fünfzehn Jahre Dienst auf der Intensivstation hatten ihre Beobachtungsgabe geschärft. Sie ahnte den Grund für Tanners Bemühungen.
»Er versucht zu sprechen, Dr. Sarhan«, sagte sie aufgeregt.
»Was?« Der Arzt blickte von Tanners Karteikarte auf. »Das geht nicht. Er ist intubiert.«
»Aber er versucht es eindeutig! Vielleicht kann er schreiben!« Die Schwester ging um das Bett, schnappte sich einen Notizblock und zog einen Stift aus der Brusttasche von Dr. Sarhans Kittel. Sie legte ihn in Tanners Hand und schloss seine Finger darum. Dann führte sie seine Hand zum Notizblock.
»Schreiben Sie auf, was Sie sagen wollen, mein Junge.« Sie sprach langsam und deutlich und sah, wie erleichtert Tanner war. Auch Dr. Sarhan bemerkte die Veränderung.
Obwohl ihn das Morphium benommen machte, konnte Tanner nur an Elizabeth denken. Ständig sah er ihr Gesicht vor sich. Er hörte sie schreien. Mit aller Kraft versuchte er einen klaren Kopf zu bekommen. Schließlich gelang es ihm unter größter Anstrengung und Konzentration, Elizabeths Namen zu kritzeln. Besorgt riss er sein Auge auf und wartete auf eine Antwort.
»Elizabeth ... er fragt nach Elizabeth.« Aufgeregt eilte die Schwester zur Tür. Als sie sie aufstieß, sah sie Deputy Lakreshia Gibbons auf das Zimmer zueilen.
»Lakreshia, schnell! Er hat gerade Elizabeths Namen aufgeschrieben ... Er fragt nach Elizabeth!«
Lakreshia wusste, dass nach Elizabeth gesucht wurde, kannte aber keine Einzelheiten. Sie eilte an Tanners Seite. Dr. Sarhan, der sich immer noch ganz auf Tanners Verletzungen und die Intensität seiner Schmerzen konzentrierte, trat widerstrebend beiseite.
Tanner hatte noch etwas auf den Zettel gekritzelt und wollte ihn unbedingt jemandem geben. Lakreshia nahm ihn.
»Ich kann das nicht lesen«, sagte sie frustriert. Sie reichte den Zettel der Krankenschwester.
»Ich auch nicht«, sagte die Schwester.
Lakreshia sah Tanner besorgt an und fragte ihn schließlich ganz direkt: »Wo ist Elizabeth? Wir können sie nicht finden. Tanner ... wo ist Elizabeth? Sie ist nicht in Ihrem Jeep.«
Die Anzeige auf dem Monitor, der Tanners Herzschlag aufzeichnete, beschleunigte sich. Tanner wollte sich aufsetzen. Er war ganz offensichtlich sehr verängstigt, zerrte an dem Schlauch und an den Infusionsnadeln in seinen Armen. Mit jeder Faser versuchte er ins Sitzen zu kommen. Aber Dr. Sarhan drückte ihn aufs Bett zurück und wies die Schwester an, ihm mehr Betäubungsmittel zu geben.
»Sofort!«, befahl er.
Anstatt den Durchlauf der Infusion zu erhöhen, verpasste sie Tanner zusätzlich eine direkte Dosis Morphium.
Tanner gab sich alle Mühe, sich mitzuteilen. Er konnte nicht sprechen und der Schmerz raste stoßweise wie ein sengender Blitz durch ihn hindurch und raubte ihm den Atem. Es gelang ihm nicht, die Hände so zu bewegen, wie er es wollte. Er konnte zwar denken, aber die Gedanken niemandem mitteilen.
»Alles gut. Schmerzen werden gleich besser.« Dr. Sarhan wollte den jungen Mann nicht unnötig leiden lassen.
In seinem Kopf schrie Tanner: NEIN! Aber er konnte sein Auge nicht offen halten. Er wollte dringend mehr über Elizabeth herausfinden! Wo ist sie? Sie müssen sie suchen! Die Medikamente entfalteten nun ihre volle Wirkung. Alles wurde schwer und verschwommen. Nur Elizabeths Bild vor Tanners Auge blieb weiterhin kristallklar.
In der Tür erschien Mrs Tillman. Dr. Sarhan winkte sie herein. Er hoffte, ihre Anwesenheit würde Tanner beruhigen.
Die Hand auf den Mund gepresst, ging sie zu ihrem Sohn. Direkt hinter ihr kam Olivia Beasley durch die Tür. Sie wollte Tanner unbedingt ein paar Fragen stellen.
Er hörte alles, was um ihn herum gesprochen wurde.
»Er war nicht lange wach.« Dr. Sarhan trat zurück und machte den Frauen Platz.
»Tanner, wo ist Elizabeth?«, fragte Mrs Tillman.
Tanners Auge weitete sich, dann kippte es wieder leicht nach hinten. Sie sah genau, dass er etwas sagen wollte, aber das Morphium hinderte ihn daran.
»Tanner?« Sie versuchte ihre Gefühle im Griff zu behalten.
»Tanner?«
»Er kann nicht reden. Hat Schlauch. Und große Schmerzen.«
»Ja ... ja.« Mrs Tillman bemühte sich trotz allem um einen zuversichtlichen Tonfall.
Die Schwester gab Tanner den Stift zurück und schob ihm den Block unter die rechte Hand. »Tanner? Können Sie aufschreiben, wo Elizabeth ist? Sie haben einen Stift in der Hand, mein Junge. Schreiben Sie einfach auf, wo sie ist. Tanner? Hören Sie uns?«
Sein Auge kippte wieder weg. Mrs Tillman hatte das Gefühl, dass er verstand, was gesagt wurde. Aber seine Hand bewegte sich nicht. Wie ein schwerer Vorhang legte sich die Benommenheit über ihn. Er kam einfach nicht dagegen an. Elizabeths Bild, jedes Date, jeder Kuss liefen wie im Zeitraffer vor seinem geistigen Auge ab. Er stieß einen stummen Schrei aus. Die Fragen über Elizabeth waren Folter für seine Seele. Keiner weiß, wo sie ist!
»Tanner? Bitte!«, flehte Olivia Beasley.
Seine Hand bewegte sich langsam über das Blatt, während alle im Raum ihm angespannt zusahen. Allerdings konnte er trotz aller Anstrengung nicht schreiben.
»Gut so, Tanner ... Schreib es einfach auf!«, spornte seine Mutter ihn an.
Tanners Hand zuckte, dann fiel sein Auge zu und blieb geschlossen.
»Tut mir leid, Ladys. Er ist jetzt weg«, erklärte Dr. Sarhan. Für ihn stand der Patient an erster Stelle. »Wer ist Elizabeth?«, fragte er plötzlich.
»Sie hatte ein Date mit Tanner, und jetzt weiß niemand, wo sie ist«, erklärte Tanners Mutter. »Wir haben keine Ahnung, wie wir sie finden können. Nicht mal der Sheriff weiß genau, wo er suchen soll.« Sie begann zu schluchzen.
»Ah. Ich sage Bescheid, wenn er aufwacht.« Dr. Sarhan hatte nur mit einem Ohr zugehört. Er studierte Tanners Karteikarte.
Niemand hatte den Arzt darüber informiert, unter welchen Umständen Tanner aufgefunden worden war. Sonst hätte er ihm die letzte Extradosis Morphium nicht verabreichen lassen. Still verließ er den Raum, um nachzusehen, ob Narcan vorhanden war, mit dem sich die Wirkung von Morphium umkehren ließ. Er wusste nicht, ob das Krankenhaus welches hatte.
Tanner hatte jedes Wort verstanden.
Als Mrs Tillman ihren Sohn nun ansah, schlug sie erneut die Hand vor den Mund. Mit der anderen Hand strich sie ihm das Haar in die Stirn. Dabei liefen ihr Tränen über die Wangen.
Olivia Beasley nahm das Blatt Papier, konnte aber nichts entziffern. Ist das ein ‹T›? Könnte der zweite Buchstabe ein ‹O› oder ein ‹U› sein? Zwei Buchstaben? Was hat das zu bedeuten? Mit dem Notizblock in der Hand verließ sie das Zimmer, ging zum Stationsschreibtisch und studierte das Gekritzel. Es ergab keinerlei Sinn.