Neunundzwanzig

Als sie die Interstate 20 überquerten, holte Ollie R.C. endlich ein. Er heftete sich an seine Stoßstange und fuhr in seinem Windschatten wie die NASCAR-Fahrer am Sonntag.

Mit ruhiger Stimme sagte er ins Mikrofon: »Miz Martha?«

»Ich höre, Chief.« Sie war ganz kribbelig vom vielen Koffein und gleichzeitig vom Nikotin benommen.

»Rufen Sie die Eltern des Beasley-Mädchens an und fragen Sie vorsichtshalber nach, ob sie vielleicht zu Hause ist und schläft. Bitte erschrecken Sie sie nicht unnötig. Ich habe keine Ahnung, wie man so was macht. Aber Ihnen fällt sicher was ein.«

»Ja, Sir«, antwortete Martha.

»R.C., hörst du mit?«, fragte Ollie.

»Ja, Sir.«

»Larson und Shug sind unterwegs. Keine Sirenen, kein Lärm.«

»Geht klar, Chief«, antwortete R.C.

Adrenalin jagte durch Ollis Adern. Endlich war mal etwas los. Ihm gefiel zwar nicht, dass Kinder betroffen waren, aber für solche Momente war er ein Cop geworden. Ihn trieb die idealistische Vorstellung an, dass er in diesem Beruf Menschen helfen konnte, die selbst nicht dazu in der Lage waren.

Zwölf Meilen lang fuhr Ollie still vor sich hin, dann knisterte das Funkgerät.

»Ollie, ich habe die Beasleys erreicht. Sie können sich wahrscheinlich denken, dass die beiden ziemlich fertig sind. Ich habe ihnen gesagt, was wir gerade rausgefunden haben, dass Sie an der Sache dran sind und sie sich keine Sorgen machen sollen. Sie sind auf dem Weg hierher.«

»Okay ... in Ordnung. Rufen Sie eine Streife aus Livingston. Die sollen die Beasleys begleiten.«

»Roger. Schon erledigt.« Wie üblich war Martha allen anderen wieder mal zwei Schritte voraus. Manche Leute störte das, doch Ollie schätzte ihre Tüchtigkeit und Weitsicht, mit der sie ihm schon mehr als einmal den Hals gerettet hatte.

»Danke, Miz Martha. Ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt.«

»Roger, Chief.«

Die Beasleys sind anständige Leute, dachte Ollie. Zach Beasley war eine Stütze der Gesellschaft. Jeden Sonntag ging er zur Kirche, er war Mitglied bei den Rotariern, saß im Schulvorstand, und man konnte immer auf ihn zählen, wenn eine Spende für einen guten Zweck gebraucht wurde. Das County konnte mehr Männer wie ihn gebrauchen. Olivia Beasley kannte er weniger gut.

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Elizabeths Mutter hatte Zach Beasley bei den Campuskreuzzug-für-Christus-Besinnungstagen in Panama City kennengelernt. Innerhalb von vierzehn Monaten waren sie verheiratet und richteten sich häuslich ein. Aber auch nach fünf Ehejahren wollte sich kein Nachwuchs einstellen. Olivia unterzog sich einer Fruchtbarkeitsbehandlung, und als zwei Jahre später ihre Tochter zur Welt kam, überschütteten sie Elizabeth mit Aufmerksamkeit und Zuneigung. Trotz aller Bemühungen blieb Elizabeth ihr einziges Kind. Sie bedeutete ihnen alles. Das ganze Leben der Beasleys drehte sich nun um das hübsche kleine Mädchen. Von Geburt an hatte sie von allem immer nur das Beste bekommen. Die beste Kleidung, den besten Kindergarten, die besten Fahrräder, Ballettstunden, Klavierstunden und vieles mehr. Elizabeth nahm all die positiven Impulse dankbar an und war eine wunderbare Tochter. Ihre Eltern waren sehr stolz auf sie.

Als das Telefon klingelte, wusste Olivia sofort, dass es um Elizabeth gehen musste. Immer wenn ihre Tochter nach einem Date nach Hause kam, weckte sie ihre Eltern und meldete sich zurück. Das hatte sie in dieser Nacht nicht getan. Sie hörte Martha zu, dann erzählte sie Zach, was sie erfahren hatte. Gemeinsam rannten sie nach oben zu Elizabeths Zimmer. Sie war nicht da.

Olivia versuchte angestrengt, sich an die Einzelheiten des letzten Gesprächs mit Elizabeth über Tanner zu erinnern. Die beiden hatten nach Tuscaloosa gewollt und hätten längst zu Hause sein müssen. Ein paarmal wählte Olivia Elizabeths Handynummer, hörte aber jedes Mal nur die Ansage: »Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar. Bitte rufen Sie später wieder an.« Hastig zogen sie sich an und fuhren zur Dienststelle des Sheriffs.

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Mit neunzig Meilen die Stunde flogen die beiden Fahrzeuge der Gesetzeshüter Richtung Abzweigung. Ollie schnappte sich das Mikro. »R.C., bring mich direkt zu der Stelle, wo du den Jungen gefunden hast ...«

»Roger.«

»Miz Martha, wo ist Larson?«, fragte Ollie, ohne sich um das Funkprotokoll zu scheren.

»Er und Shug sind etwa zehn Minuten hinter Ihnen.« Sie klang wie ein Fluglotse.

»Roger.«

Kurze Zeit später bogen Ollie und R.C. auf die Dummy Line ab und rasten dem Tatort entgegen. Ollie wusste nur, dass die Dummy Line zwanzig Meilen lang war und dass hier niemand wohnte. Normalerweise konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf die Gegenden, in denen seine Wähler lebten, und darauf, wo es das beste Essen gab.

Die Fahrzeuge kamen schlitternd zum Stehen; die Lichter blitzten. Ollie stieg aus und starrte den Jeep und den Truck an, die so seltsam dicht beieinander geparkt waren.

»Was wissen wir, R.C.?«

»Der Besitzer des Jeeps ist der junge Tillman. Keine Ahnung, wem der Truck gehört.«

»Lass das Kennzeichen überprüfen«, sage Ollie.

»Ja, Sir, Boss.« R.C. schob sich gekonnt eine Portion Kautabak hinter die Lippe.

Ollie sah das Blut vor dem Jeep. Mit der Taschenlampe leuchtete er alles genau ab. Er suchte nach einem Hinweis darauf, was passiert sein könnte.

»Kein Kennzeichen da.«

»Was?« Ollie richtete sich auf und sah R.C. an. »Schau im Wagen nach. Vielleicht findest du irgendwas.«

Ollie ging um beide Fahrzeuge herum. »Wo war der Junge?«

»Genau hier. Da unten, zwischen dem Gestrüpp.« R.C. zeigte auf die Stelle. Er kam zum Jeep zurück. Der Truck stank so furchtbar, dass ihm jede Entschuldigung recht war, um die Durchsuchung noch aufzuschieben.

»Hier ist deine Taschenlampe ... Du musst es ziemlich eilig gehabt haben, hier wegzukommen.« Grunzend beugte sich Ollie vornüber und zog die Lampe unter dem Jeep hervor. Er nahm jeden Millimeter Boden genau unter die Lupe.

»Sieh mal hier, R.C. Eine 9-Millimeter-Hülse.« Auf Knien starrte Ollie das leere Messingröhrchen an, das auf der Schotterpiste lag. Endlich hatte er so etwas wie eine Spur.

»Ähm ... na ja ... Ich fürchte, die ist von mir, Chief.« R.C. griff nach seiner Taschenlampe.

»Wie bitte? Du hast geschossen? Hast du mir das gesagt?«

R.C. erzählte ihm die Geschichte. Der Sheriff starrte ihn nur ein paar Sekunden lang an, dann atmete er tief durch. Nichts ergab in dieser Nacht wirklich Sinn. Kopfschüttelnd suchte er weiter nach Spuren. Dabei murmelte er leise vor sich hin. R.C. war daran gewöhnt.

»Hör auf, überall hinzuspucken. Das hier ist ein Tatort«, knurrte Ollie. »Wann verabschiedest du dich endlich von dieser widerlichen Gewohnheit?«

»Kann ich nicht. Dafür bin ich zu gut darin«, sagte R.C. ehrlich. Er richtete den Lichtstrahl in den Jeep.

»Sieh dir das an, Chief«, sagte er aufgeregt.

R.C. hielt eine kleine, teuer aussehende Handtasche in die Höhe. Ollie sah erst die Tasche, dann seinen Deputy an.

Sie öffneten den Reißverschluss. In der Tasche lag eine dazu passende Geldbörse. Ollie holte tief Luft und machte sie auf. Elizabeth Beasleys Führerschein steckte darin. Er schaltete seine Taschenlampe aus, seufzte frustriert und warf einen langen Blick hinauf zu den Sternen.

»Das sieht nicht gut aus, Boss«, sagte R.C.

»Was du nicht sagst, Sherlock.«