Achtundvierzig

Ein paar Minuten lang diskutierten Ollie und R.C. noch über den Anruf bei Johnny Lee – oder wer immer am Telefon gewesen sein mochte. Sie waren sich nicht einig, ob die Aktion ein Erfolg gewesen war, ob sich das Risiko gelohnt hatte. Nur eines war sonnenklar: Johnny Lee oder dessen Komplize wusste nun, dass sie hinter ihm her waren.

Ollie überwachte den Funkverkehr, weil er sichergehen wollte, dass der Deputy, der Larson ablöste, wusste, wohin er fahren musste, und seinen Auftrag kannte. Der Mann würde in ein paar Minuten beim Wohntrailer sein. Von Larson hatte Ollie erfahren, dass Ethan Daniels in Richtung Livingston unterwegs war.

Ein paar Minuten später meldete Martha, die 44er-Magnum Ruger sei vor zwei Jahren aus dem Truck eines Mannes aus Selma gestohlen worden.

Ollie versuchte sämtliche Fakten gedanklich zu ordnen, damit er Sheriff Marlow die Situation möglichst genau erklären konnte. Er würde in ein paar Minuten hier sein. Ollies Kopfschmerzen wurden schlimmer.

»Hol mir bitte ein Coke, R.C.!« Mit einer Hand zeigte er auf das Clubhaus, mit der anderen rieb er sich die gerunzelte Stirn. Sein Cowboyhut lag auf der Motorhaube des Expedition.

»Ja, Sir, Chief.« R.C. ging zum Clubhaus.

Ollie griff zum Mikrofon, um noch einmal mit den Eltern der jungen Leute zu reden. Doch dann lehnte er sich zurück. Er brauchte einen klaren Kopf. Ich warte noch ein paar Minuten. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass R.C. sich wieder von den Kalendern hatte ablenken lassen. Er wollte hupen, hob dann aber das Mikrofon zum Mund.

»Miz Martha?«

»Ja, Sheriff?« Sie stieß eine Lunge voll Rauch aus.

»Wie ist der neueste Stand? Wie geht es allen?«, fragte Ollie.

»Tanner ist immer noch im Dämmerschlaf. Soweit ich weiß, steht Mrs Beasley neben ihm und wartet darauf, dass er die Augen aufmacht. Mrs Tillman scheint ganz gut klarzukommen, aber die im Krankenhaus sagen, Mr Tillman rennt im Flur auf und ab.«

»Was ist mit Zach Beasley?«

»Von dem habe ich noch nichts gehört. Eigentlich sollte er zu Hause sitzen, falls Elizabeth anruft oder dort auftaucht.«

»Rufen Sie alle an und sagen Sie ihnen, dass wir Unterstützung angefordert haben. Sobald es hell wird, haben wir jede Art Hilfe, die der Staat zur Verfügung stellen kann.«

»Augenblick, Chief. Gerade kommt noch ein anderer Funkspruch rein!«, sagte Martha aufgeregt.

Ollie sah R.C. mit einer Cola Light kommen. R.C. zuckte die Schultern und formte mit den Lippen die Worte: »Gab nichts anderes.« Jeder wusste, dass Ollie Light-Drinks hasste.

»Wechseln Sie auf Kanal drei, Sheriff. Schnell!«, rief Martha.

Ollie stellte die Dose ab und schaltete auf den anderen Kanal. Ein Hale-County-Deputy erklärte gerade aufgeregt: »Ich habe das Mädchen jetzt in meinem Wagen. Sie ist nicht bei Bewusstsein.« Seine Stimme klang schrill. »Aber ich glaube, sonst fehlt ihr nichts.«

Ollie fiel fast die Kinnlade herunter. »Gut gemacht, Lewis«, sagte Sheriff Marlows Stimme. »Bringen Sie sie in die Notaufnahme nach Livingston. Wir treffen uns dort.«

Ollie hielt es nicht mehr aus. »Hier Sheriff Ollie Landrum. Bitte erklären Sie mir die Sachlage.«

»Wie bitte?«, fragte Marlow.

»Sagen Sie mir, was los ist, Marlow!«

»Na ja. Lewis, mein junger Deputy, sollte anscheinend einen Wohntrailer nördlich der Stadt beobachten. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus wollte er sich die Sache genauer ansehen, ging hin und fand ein Mädchen. Sie irrte mit auf den Rücken gefesselten Händen und verbundenen Augen umher. Lewis ist mit ihr auf dem Weg ins Krankenhaus. Gut, dass Sie uns verständigt haben ... Wir haben kaum drei Minuten gebraucht, um den Fall für Sie zu lösen!«, tönte Marlow.

»Und ihr fehlt sonst nichts?«, fragte Ollie fast atemlos. Marlows letzten Satz ignorierte er.

»Wie es aussieht, ist sie okay.« Marlow gluckste, als wäre die Situation für ihn ganz alltäglich.

»Hey, Marlow, danke, Mann! Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen. Ich bin schon unterwegs. Wir treffen uns im Krankenhaus.«

»Ja, bis gleich. Ich will unbedingt meinen alten Freund Zach Beasley sehen.«

»Kann ich verstehen ... Miz Martha, hören Sie zu?«

»Ja, Sir.«

»Sagen Sie allen Bescheid!«

»Ja, Sir. Gut gemacht, Ollie!«, sagte Martha. Sie war eindeutig stolz, aber auch den Tränen nahe.

Ollie meldete sich ab, dann umarmte er R.C. herzhaft. Sie gaben einander Highfives. R.C. jaulte wie ein Hund und brüllte: »Ja, ja, ja!«

Der Alptraum ist vorbei, dachte Ollie. Alle meine schlimmen Befürchtungen waren umsonst.

»Los, wir fahren!« Ollie schnappte seinen Hut.

Beide sprangen in ihre Wagen. Als Ollie aufs Gaspedal trat, überkam ihn Erleichterung.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass Martha ihn »Ollie« genannt hatte. Das tat sie nicht oft. Um den seltsamen Anruf bei Mick Johnson musste sie sich immer noch kümmern, aber das konnte noch eine Weile warten. Eine Person musste er allerdings sofort anrufen. Er stellte wieder den Hauptkanal im Funkgerät ein.

»Larson? Larson? Bitte kommen.«

»Ja, Sir, Sheriff.« Larson klang niedergeschlagen.

»Verhaften Sie den Kerl, dem Sie folgen. Wo sind Sie gerade? Larson? Larson!«

»In der Stadt. Ich habe ihn verloren.«

»Wie bitte? Was ist?« Ollie war wütend. Marlow hatte Deputys mit einem geradezu unheimlich untrüglichen Bauchgefühl und sein eigener Mann konnte nicht mal einen Verdächtigen verfolgen!

»Es ist zum Verrücktwerden! Der Kerl hat sich einfach in Luft aufgelöst. Es tut mir wirklich leid, Sheriff.«

»Das glaube ich einfach nicht!«, sagte Ollie laut vor sich hin. Das war eine klassische Larson-Panne – wieder mal. Der Mann konnte einen wahnsinnig machen.

»Larson, geben Sie Miz Martha seinen Namen und die Details zum Fahrzeug durch!«, sagte Ollie streng. »Sie soll einen Fahndungsaufruf herausgeben.«

»Ja, Sir. Wird erledigt.« Larson hatte wieder mal versagt. Ihm war speiübel.

Ollie wollte unbedingt dabei sein, wenn die Familie wieder vereint wurde. Er trat das Gaspedal durch. Sie hatten Elizabeth gefunden. Was für ein Glück, dachte er. Dass er und seine Männer Stunden damit verbracht hatten, die Krise in den Griff zu bekommen, und Marlows Deputy ihm die Lösung dann binnen Minuten auf einem Silbertablett servierte, frustrierte ihn. Das werde ich mir ewig anhören müssen. Aber wenigstens ist das Mädchen am Leben und in guter Verfassung. Er nahm den Hut ab, legte ihn neben sich, fuhr sich mit der Hand über den Kopf, atmete durch und sagte mit tiefer Erleichterung: »Herr, ich danke dir!«